Ein Tagebuch zu führen und seine Tagebücher zu veröffentlichen, ist in unserer Literatur nicht sehr weit verbreitet, aber dem Leser das Tagebuch eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin vorzulegen, ist für die Gesellschaft, der er, der sie angehört, zweifellos sehr wichtig.
Das Tagebuch eines Schriftstellers hat für Literaturwissenschaftler verschiedene Bedeutungen. Die Genese des Werks, die Inspirationen, die dem Autor Schreibimpulse gegeben haben, die Art und Weise, wie er Ereignisse seiner Zeit wahrnimmt, und die Regungen seiner Innenwelt zeigen sich dem Literaturwissenschaftler gerade in einem Tagebuch mit allen Details.
Für den Literaturwissenschaftler, der den Literaten verstehen und sich kritisch auf ihn einlassen will, ist das Tagebuch zum Teil auch ein hilfreicher Schlüssel, um die Chiffren im Werk zu deuten.
»Tag für Tag – Tropfen um Tropfen«, von Adalet Agaoglu im Oktober 2004 publiziert, ist das Tagebuch der Verfasserin und umfasst ihre acht Jahre vom Januar 1969 bis zum 27. April 1977. Die Tage, die auf den ersten Seiten des Tagebuchs beschrieben werden, betreffen die Phase, in der unsere Autorin beginnt, sich auch auf einem anderen Gebiet literarisch zu betätigen und nicht mehr allein für das Theater zu schreiben.
Der erste Band der »Trilogie der knappen Zeit«, also »Sich hinlegen und sterben«, ist seit 1973 auf dem Markt, und während der Lektüre des Tagebuchs werden wir gewissermaßen Zeuge des Werdegang dieses Romans. Wir wandern über Grenzen von Realität und Fiktion und erkennen einige der Erinnerungen, die in den Roman eingeflossen sind. Auf liebenswürdige Weise nimmt die Autorin uns in den Häusern, auf den Plätzen und in den Städten auf, in denen sie in jenen Jahren lebte.
Und wir begreifen beim Lesen des Tagebuchs, dass sich die Autorin immer wieder ihr Prinzip »Mein Leben ist kein Roman, sondern mein Roman ist das Leben« ins Gedächtnis ruft, und sie vermeidet es, soweit wie möglich, den Roman zu einer bloßen Aneinanderreihung von Erinnerungen zu degradieren. Das Leben, von dem in dem Roman erzählt wird, entwickelt seine eigene Dynamik.
Es sind Ereignisse des Jahres 1969, von denen berichtet wird, und gleichzeitig entwickelt Agaoglu die interessante fiktionale Struktur des Romans. Sie schreibt in ihr Tagebuch, dass sie eine Erzählweise ins Zentrum von »Sich hinlegen und sterben« gesetzt habe, die sie den »Roman im Roman« genannt habe. Dieser Roman im Roman ist die seelische Bilanz der Hauptperson Aysel an einem Aprilmorgen zwischen 07.22 und 08.49 Uhr, es ist ihr Selbstgespräch. Der Roman im Roman ist ein Moment der Klärung, in dem die Heldin vor allem die neuralgischen Punkte ihres Lebens betrachtet.
Die Trilogie der knappen Zeit
Die Personen in der »Trilogie der knappen Zeit« wandeln mit ihren Gesichtern, die mitten aus dem Leben stammen, immer noch unter uns, und mit ihren Entscheidungen und ihrem Handeln zeigen sie dem türkischen Leser die Chancen des neuen Menschen, der bereit ist zu diskutieren und für Kritik offen ist.
Nach und nach werden wir mit den Romanfiguren von Adalet Agaoglu in den 1930er Jahren in Nallihan vertraut gemacht, einer anatolischen Kleinstadt, die zwischen Istanbul und Ankara liegt, der alten und der neuen Hauptstadt.
»Sich hinlegen und sterben«, »Eine Hochzeitsnacht« und »Nein!« stellen die epische Gestaltung der letzten fünfzig Jahre dieses Landes dar, die Gesichter der Menschen, die sich sehr voneinander unterscheiden, und den Wandel, den man darin erkennt.
Vor allem in »Sich hinlegen und sterben«, dem ersten Band der Trilogie, steigert die Autorin die stilistischen Möglichkeiten, indem sie fast alle Arten von Stilmittel verwendet. In der fiktiven Struktur setzt sie verschiedene Gattungsformen wie Briefe, Erinnerungen, Zeitungsartikel und Dokumente ein und verwendet Erzählweisen in der ersten, zweiten und dritten Person. Das Resultat dieser Vielfalt ist die Möglichkeit, die Zeit mit all ihren Dimensionen zu zeigen.
Der wichtigste Erzählstrang des Romans betrifft das Leben der ersten Generation seit der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923, welche die Grundschule 1938 abschloss, und ihr Leben zu der Zeit, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Ihre Lebensläufe unterscheiden sich zum einen sehr stark voneinander und sind sich dann doch wieder sehr ähnlich; es geht um eine Zeit des Übergangs, die diese Generation mit all ihren Höhen und Tiefen erlebte und die vom Militärputsch vom 12. März 1960 bestimmt ist sowie vom jenen am 12. September 1980.
Auf der anderen Seite jedoch wird das Drama einer anderen Generation – Engin, Cemal und Ayşen – dargestellt, die aufgerieben und deren Leben vergeudet wird.
Betrachtet man die »Trilogie der knappen Zeit« als Einheit, erkennt man, dass die Autorin im Grunde genommen von der »Verantwortung der Intellektuellen« erzählt. Der Typ des/der Intellektuellen spiegelt sich im Roman am deutlichsten in Aysel. Aysels Aktivität, ihre Passivität, ihr Ja oder Nein wird als Kriterium für das Verhalten von Intellektuellen dargestellt.
Die Abrechnung der Dozentin Aysel mit der Zeit und mit sich, ihr Blick auf die Zeit und die Hauptstadt aus ihrer Gefühlslage heraus, das ist der »Roman im Roman«, um mit der Autorin zu sprechen.
Auch der zweite Band der Trilogie beginnt mit einer Assoziation an den Selbstmord. »Eine Hochzeitsnacht«, 1979 publiziert, spiegelt eine äußerst schmerzhafte Epoche des Landes wider. Tezel lässt den Roman mit dem berühmten Satz beginnen: »Wenn wir uns schon nicht umbringen, dann lasst uns wenigstens trinken!«
Hier wird Selbstmord zum zweiten Mal als Chance für den Menschen begriffen. Doch im Roman wird auch auf weitere, wertvollere Möglichkeiten hingewiesen. Die Verhaltensweise, welche die Hauptperson der »Trilogie der knappen Zeit«, Aysel, wählt, besteht wiederum darin, sich zu verweigern, sich nicht zu beteiligen und deutlich zu machen, was sie nicht billigt. Auch dieser Roman schließt mit der Assoziation auf Leben und Hoffnung. Obwohl das Land eine sehr problematische Phase durchmacht, findet der Roman seinen Abschluss am Ende der Nacht, in der Morgendämmerung. Niemand hat Selbstmord begangen, und außerdem zeigt sich, dass eine neue Verständigung zwischen Aysel und ihrer Schwester Tezel möglich ist.
Der dritte Band, »Nein!«, 1987 veröffentlicht, ist nicht in dem ironischen Stil wie die ersten beiden Bände gehalten. Der Leser betrachtet Aysel, die Hauptperson des Romans, aus verschiedenen Perspektiven.
Während Aysel in allen drei Bänden mit allem, was sie tut, sagt und schreibt, einen Platz als unvergessliche Romanfigur in der türkischen Literatur einnimmt, lädt sie den Leser ein, über die »Freiheit der Persönlichkeit« nachzudenken.
Die Basis der Freiheit besteht darin, sich selbst zu erkennen und dadurch die Welt zu entdecken. Sich selbst zu erkennen, heißt auch, die Welt zu erkennen, und der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein; er trägt die ganze Last der Welt auf seinen Schultern. Er ist für sich selbst und die Welt verantwortlich.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Der Text ist erschienen in der Zeitschrift Varlik, Januar 2006.
Aus dem Türkischen von Monika Carbe.