Sie brechen in Ihren Texten zu einer Art von Gedächtnisreisen auf; Reisen, die auf den Menschen/die Zeit, auf die Bedeutung des existentiellen Abenteuers des Menschen ausgerichtet sind. Die in Ihren Erzählungen dominierenden Bilder haben hier meist mit der Kindheit zu tun. Kann man sagen, dass der »Tunnel der Kindheit«, den Sie durch das Schreiben graben und an dessen Ende Sie zu gelangen versuchen, der Grund dafür ist, dass Sie schreiben?
Der erste Satz meines ersten Romans befasst sich mit dem Gedächtnis, mit der Erinnerung, speziell mit der schmerzlichen Erinnerung an das Glück. Um in meine Kindheit, in den Wald meiner Kindheit eindringen zu können, mussten noch weitere zehn Jahre vergehen, zehn Jahre und fünf Bücher! In »Die Stadt mit der roten Pelerine« habe ich geschrieben: »Ein Duft, eine Stimme, mit vollen Segeln in die Kindheit und eine immer verschlossene Pforte.« In diesem Buch ist die Kindheit ein finsterer Wald, in dem schlicht und ergreifend die wahre Bedeutung aller Dinge liegt, dort wo alles beginnt und alles endet. Ein Wald, der bis in alle Ewigkeit verloren ist, in dem es mein Schicksal ist, in den Grenzen der Stille Kreise zu ziehen; in dem ich starr verweile wie eine düstere, bleierne und schwere, wie eine ungeweinte Träne. Meine Erinnerung sagt mir ständig, dass ich eine sehr unglückliche Kindheit hatte. Wenn ich noch weiter zurückgehe, zu den frühesten Erinnerungen, zurück zum Anfang, dann begegne ich meinem ersten Glück.
An der Pforte, die Sie, immer wenn Sie schreiben, einen Spalt weit öffnen, erleben wir einen herzzerreißenden Kampf zwischen Leben und Tod, Kummer und Leid, Rückzug und Öffnung. Die häufige Verwendung von Bildern wird im Allgemeinen als Verschlossenheit des Erzählers interpretiert. Die Wahl einer neutralen Erzählposition zeigt, dass Sie in einen Strom des inneren Dialogs geraten sind. Schreiben also offenbart Unerklärliches und Verblasstes.
Für mich bedeutet Schreiben, im kalten Labyrinth der Einsamkeit still dem Leben zu lauschen und ihm mit Worten etwas entgegenzusetzen. Schreiben ist der Beweis, dass alles vergänglich ist. Es ist sowohl das Gefühl zu gehen und zurückzukehren, als auch die Endgültigkeit zu spüren; sich des Todes bewusst zu werden und ihn zu vergessen. Schreiben ist für mich der Versuch, meine Geschichte zusammenzufassen, die in Erinnerungen, Gegenständen und Schatten zerfallen ist. Es ist das Schnitzwerk, aus dem ich Wort für Wort, wie von scharfen Klingen, geformt werde mit zwei Wünschen, die unvereinbar sind: mich vor mir selbst zu schützen und ganz ich selbst sein zu können. Schreiben macht mich zur leeren Hülse, zu einem Fleck auf weißem Papier, zu einer blassen Skizze. In meinem letzten Text habe ich geschrieben: »Vielleicht ist es das Leben selbst, das den Kern jeder Vision aus dem Nichts schnitzt und herausarbeitet.«
In den Texten spüren wir manchmal, wie Sie einer ungerufenen Stimme folgen.
»Ein Mensch kann, wenn er nur aufmerksam genug hinhört, alle Stimmen des Lebens hören. Sämtliche Stimmen, die ihn die Stille lehrt«, habe ich einmal geschrieben. Bei mir kam die Stimme des Lebens immer ungerufen. Aber ist nicht jedes Wort ein Ruf? Beharrt es nicht sogar darauf, ständig gerufen zu werden?
Die kritische Selbstbetrachtung ist das, was sich von Zeit zu Zeit durch einen Dialog offenbart; die Konfrontation des »Anderen« mit dem »Ich«. Wohin wandte sich Ihr Gesicht auf dieser literarischen Reise?
Es folgt den Stimmen. Den Stimmen, die »Ich« oder »Du« sagen, »ja« oder »nein«, »mehr« oder »Es ist genug!« Worte, die sich mal der einen Stimme des Lebens zuwenden, mal der anderen, je nachdem, welche es gerade zulässt. Es ist ein gespaltenes Gesicht, mitten über dem Abgrund, der sich zwischen mir und dem anderen auftut; ein Gesicht, das sich in schraffierte Skizzen, in Spiegeln und in der Dunkelheit auflöst; ein Gesicht, das sowohl sein eigener Gefangener sein als auch jedem anderen gehören möchte. Nur ein Blick sein möchte, ein langer, fast wehmütiger Blick.
»In der Stille des Lebens« ist die »schreibende Rückkehr« zum Leben und markiert den Übergang zu anderen Erzählungen. Reflektieren Ihre Texte Ihr Verhältnis zu anderen schriftstellerischen Werken und anderen Leben?
Seit meinem Roman »Die Stadt mit der roten Pelerine« geht es mir beim Schreiben nicht mehr nur darum, das Leben zu interpretieren, sondern ihm ein Denkmal zu setzen. Ich glaube, ich weiß nun, dass eine konkrete Liebe zum Leben nicht möglich ist, ohne das Leben des anderen, andere Leben zu lieben.
Die Stimme, die Sie dort aufgegriffen haben, ist die Stimme Ihrer Empfindsamkeit als Autorin. Dort sprechen sogar mehrere Stimmen mit mehreren Zungen. Woher nehmen Sie Ihre Geduld und die Ausdauer, immer weiter zu schreiben?
Es ist, als würde ich auf Worten über einen dunklen, kalten Fluss an das andere Ufer zu gelangen versuchen. Immer der endgültigen Vision, dem letzten irgendwie unauffindbaren Satz auf der Spur; dem einen Satz hinterher, der den neu anbrechenden Tag ausfüllen, der sich unbeschwert seinen eigenen Weg bahnen würde.
In Ihren Texten dominiert das Gefühl von Unendlichkeit. Jeder ist eine Stimme zwischen Leben und Tod. Lassen Sie uns ein wenig die Tür zu dem Gefühl öffnen, das Sie umtreibt.
Unsere persönliche Geschichte wird gleichsam geformt vom Kampf zwischen Leben und Tod, oder lassen Sie es mich so sagen, sie ist wie ein Pinselstrich, der mit dem Leben ansetzt und früheres verwischt, aber auch ergänzt. Wenn ich in die Vergangenheit zurückblicke, was ich nur schreibend tun kann, dann ist das der Moment, in dem ich dem Tod ins Auge sehen kann, in dem ich das Leben mit all seinen Gesetzmäßigkeiten erfassen kann, der Moment, der die Ewigkeit widerspiegelt.
Beeinflusst Ihre gesamte Gefühls- und Gedankenwelt Ihr Schreiben?
Dazu ein Satz aus meinem letzten Buch: »Also, dies ist nun meine Geschichte. Meine Geburt, mein Tod, und alles was dazwischen liegt.«
Hat ein Schriftsteller das Bedürfnis zu schreiben, um sich zu definieren?
Ein Schriftsteller erschafft sich fortwährend selbst, indem er sich in mehrere Ich, Du und Er aufspaltet, indem er Bilder und Erzählungen erschafft, Stimmen, Schatten und dem Licht nachspürt. Ob das ein Bedürfnis ist, weiß ich nicht, aber wenn es so wäre, könnte es sehr befriedigend sein. Das, was die Befindlichkeit des Menschen ausmacht, sind seine Grenzen und die Durchlässigkeit dieser Grenzen. Vergänglichkeit und Tod gehören zu unseren fundamentalen Wahrheiten, aber ebenso der Wunsch, aus uns herauszugehen, ein neues Gebiet zu beschreiten, ein anderer zu sein, unsterblich zu sein. Vielleicht ist ja auch die Frage »Wer bin ich?« eine Strafe, die dem modernen Menschen auferlegt wurde, denn wer sich nicht mit dieser Frage auseinandersetzt, hat nicht die geringste Hoffnung auf Freiheit!
In welchen Rollen spiegeln Sie sich in Ihren Texten?
Ich bin das kleine Mädchen, das sich im nächtlichen Wald verirrt hat; ich bin die Frau, die mit dem gleichen wehmütigen Blick wie ihre Mutter am Fenster steht, die mit ihrer schmutzigen Fantasie die Welt betrachtet, die lauscht und wartet; deren Ithaka, zu dem sie zurückkehren möchte, es gar nicht mehr gibt, wenn sie sich auf die Straße stürzt, als würde sie aufs Meer hinausschwimmen. Aber vor allem bin ich diejenige, die, als wäre sie aus der gleichen Substanz wie die Worte geschaffen, alles durchdringt und die zwischen den Stimmen der Welt hindurch umherstreift.
Wenn man in der Landschaft Ihrer Texte umherstreift, kann man beobachten, wie Sie nach den Pforten des Schreibens suchen?
Die alten Ägypter sagten: Ein Sterbender muss siebzig Pforten durchschreiten auf seiner Reise ins absolute Nichts, in die Existenz oder die Wiedergeburt. Sind das nicht die »Alternativen«, die uns aufgezeigt werden? Lassen Sie mich darauf in der Sprache meines Buches antworten: Jedesmal tritt eines meiner Ichs durch eine der Pforten und versucht zurückzukehren; diejenigen, die zurückbleiben und nicht über die Schwelle treten können, halten sich an den Gitterstäben fest und rufen nach ihm.
Als was sollte man diese Reise bezeichnen, als transformierenden Akt?
Als heilige Zeremonie. Als Zeremonie, die die Vergangenheit in die Zukunft, den Traum in die Wahrheit, mich in eine andere, den Tod in Leben, das Leben in Tod verwandelt. Eine Zeremonie, die alle Stimmen der Welt zitiert, die sie, wenn sie aufhört zu sprechen, alle wieder mit sich nimmt.
Welche Schriftsteller haben Ihr Schreiben, Ihre Gefühls- und Gedankenwelt über Ihre Schaffensphasen hinweg beeinflusst?
Das sind zweifelsohne Dostojewski, Kafka, Tschechow, Nabokov, Bachmann, Musil und Woolf. Aber es waren vor allem Rilke und Celan, deren Stimmen mir in der endlosen Einsamkeit des Wortes ganz nah waren.
Wenn Sie vom Abenteuer eines anderen erzählen, konzentrieren Sie sich dabei auf das Gefühl für Raum und Ort. Da gibt es Schmerz und Auflösung. Immer, wenn Sie schreiben, gehen Sie durch Labyrinthe. Reisen und schreiben – das ist tief in Ihnen verwurzelt. Damit haben Sie die Landschaft unserer Literatur erweitert, einen Weg nach draußen geschaffen.
Ein Ausweg, den man tastend in der Dunkelheit sucht, den aber bisher noch niemand gefunden hat. Die Reisen, in die mich das Leben geworfen hat, waren eher eine problematische Flucht, eine Verbannung, eine Trennung ohne Wiederkehr, als ein bloßes Vagabundieren. Aber vielleicht hätte ich auf andere Weise nichts lernen können. Zu gehen und zurückzukehren, Kreise zu ziehen, meine Schritte zu wiederholen, den Ruf der Ferne und der Nähe, die Hafenlosigkeit, meine Wurzeln in mir zu tragen; alles, was man mir gab, alles, was man mir vorenthielt, zum Beispiel meine Sprache.
Kamen Ihnen ganz grundsätzliche Bedenken, als Sie beim Schreiben das »Ich« mit dem »Anderen« konfrontierten?
Ich wollte lediglich über das Begehren schreiben; aber ich wollte dabei nicht nur das Begehren einer Frau thematisieren, sondern auch seinen Verlust und sein Wiederentdecken. Begehren und Angst, der Ruf des Fleisches und seine Fallstricke. Fast wie eine Schlafwandlerin war ich in das Labyrinth des Ichs und der anderen eingetaucht!
»Die Stadt mit der roten Pelerine« ist ein Roman, in dem Sie von dem Gedanken erfüllt sind, Ihre Position im Roman, Ihre Vision von Leben und Tod zu erzählen, die Sie mit einem besonderen Einfühlungsvermögen für den Ort beschreiben. Können Sie uns etwas zum Entstehungsprozess des Romans sagen?
Trotz seiner Komplexität und seines Aufbaus, der eher einem dunklen Netz gleicht und weniger einem Labyrinth, ist der Roman aus einer einzigen Vision heraus entstanden, und zwar der Vision über eine Frau, die, als sie an einem ruhigen, ganz gewöhnlichen Sonntag durch die Straßen von Rio spaziert, plötzlich bei einem Raubüberfall getötet wird. Ich glaube, damit, dass ich dieser Frau einen Namen gegeben habe – Özgür/Freiheit –, habe ich die Geschichte zum Abschluss gebracht. Es hat eine Weile gedauert, bis ich merkte, dass die Geschichte, die ich erzählte, auch die Geschichte von Orpheus war, dazu musste ich mich mit der griechischen Mythologie auseinander setzen. Damals war ich krank, war bis zum Skelett abgemagert. Die Frage, warum Orpheus sich umwandte, war für mich ein echtes und drängendes Problem.
Diese Stadt ergänzt und definiert das, was verschwommen und verborgen ist. So sehen Sie Rio in Ihrem Roman. Was ist es, was diese Stadt für Sie so bedeutungsvoll macht?
Rio de Janus: Der Fluss des Gottes mit den zwei Gesichtern, von denen eines in die Vergangenheit und eines in die Zukunft blickt. Ein zeitliches und räumliches Labyrinth, voller Wehklagen, blinder Flecken und Prophezeiungen, das Reich der Toten, der Ruf des Dschungels, des Fleisches und der Nacht, der Triumph des Chaos. Rio ist eine Stadt, der ich zwar entkommen bin, die mich aber für immer gepackt hat, in der ich am Leben geblieben und doch gestorben bin. Es war die Stadt der Abgründe, der Adler und Haschraucher, die Vermählung von Himmel und Hölle, ebenso verletzt wie ich selbst, ähnelte sie mit ihrem Elend und ihrer Schönheit einem Menschen. Das, was ich in dem Spiegel sah, der mir vorgehalten wurde, war das »Leben« und der »Tod«.
Eine Stadt zur Heldin machen – Rio de Janeiro ist ja die eigentliche Heldin Ihres Romans. Bei Ihren Beobachtungen pendeln Sie hin und her. Sie beobachten den Menschen, dann die Stadt, und ziehen dann Ihre Schlüsse. Was erzählen Stadt und Roman, was sollen Sie Ihrer Meinung nach erzählen?
Ich habe Özgür und Rio einander gegenübergestellt, um die offensichtliche Gegensätzlichkeit von äußerer und innerer Welt aufzuzeigen, wie zwei Spiegel, die sich ineinander spiegeln. Tiefgründige, gefährliche, trügerische Spiegel. Eine Özgür, die in allem, was sie betrachtet, ihr eigenes Spiegelbild sieht, und ein Rio, das sein, durch das Erzähltwerden lebendig gewordenes Schicksal in die eigene Hand nimmt. Alte Fragen, Fragen, die so alt sind wie die Begriffe äußere Welt und innere Welt, Wahrheit und Fiktion, Freiheit und Schicksal, Sterblichkeit und Unendlichkeit. Und zwischen all dem steht, wie ein Schloss, das sich nicht öffnen lässt, der Themenkomplex Tod – Schreiben – Leben. Ich bin nicht der Meinung, dass sich ein Roman diesen Themen stellen sollte, aber ich habe auch keine Möglichkeit gesehen, diesen Fragen auszuweichen.
In einem Gespräch haben Sie einmal gesagt: »Ich fühle, dass zwischen mir und der Welt ein Abgrund liegt. Eigentlich wollte ich von der Entfremdung vom Leben erzählen. Es gibt unberührbare, ausgegrenzte Menschen, und ehrlich gesagt, ich habe das Gefühl, dass ich eine von ihnen bin.« Ist das Schreiben für Sie eine Möglichkeit, Halt zu finden?
Natürlich, aber es ist nur das Schreiben, das mir Halt gibt, nicht das Lebens selbst. Der Mensch, der sich bemüht, sich durch das Schreiben am Leben festzuhalten, stellt fest, dass er dazu einzig und allein Worte besitzt, Worte, die entwurzelten Pflanzen gleichen. Als würden diese Worte das Leben verdrängen und es ersetzen. Özgür sagt: »Leben und Schreiben stehen einander gegenüber wie zwei wetteifernde Bauchredner. Der eine versucht ständig die Stimme des anderen zu übertönen.«
Wie sind sie zum Schreiben gekommen, wann haben Sie damit angefangen?
Das war zu Zeiten, als ich innerlich wie zerrissen war. Ich war eine Sterbende, die geht und in den Hintergrund tritt, und eine Überlebende, die sich erinnert und vergisst. Das kann ich aber erst heute in Worte fassen, zehn Jahre später. Vielleicht werde ich noch später die Gründe für das Weiterschreiben anders benennen.
Welchen Stellenwert nimmt das Schreiben in Ihrem Leben ein?
Im Moment nimmt das Schreiben in meinem Leben einen derart großen Raum ein, oder wenn es nicht das Schreiben selbst ist, dann bedeckt wenigstens sein Schatten einen so großen Bereich, dass ich nicht weiß, was ich meine, wenn ich sage: »Mein Leben.« Es ist beinahe so, als gäbe es nicht einmal mehr ein Ich, das dies wissen könnte. Ich habe gerade einen Roman abgeschlossen, in dem ich mich so geöffnet und verausgabt habe, dass ich kaum mehr Lebensenergie habe.
In einem anderen Interview sagen Sie: »Wenn ein Schriftsteller kann, so stellt er an einer ganz neuen, bisher unbekannten Stelle einen Spiegel auf, schlägt eine, in uns allen vorhandene, unterdrückte Stimme an, taucht ein in eine von uns gefürchtete Dunkelheit.« Wie sollte Ihrer Meinung nach ein zeitgenössischer Schriftsteller in diesem Sinne seine Mission als Gewissen der modernen Epoche erfüllen?
Durch das Verlieren und durch Verluste; durch Trennungen, Abschiede, Spaltungen; durch das Ablaufen des Lebens und seine Unumkehrbarkeit. Durch Reisen ohne Hafen; durch Morgende im Fegefeuer. Aber ich denke, vor allem durch Desillusionierung, wie sie mit dieser Welt einhergeht.
Was sind die wichtigsten Quellen Ihres Schreibimpulses?
Die Erstarrung, die Herausforderungen, die Auseinandersetzungen. Ein unersättlicher, widerstandsfähiger Organismus, der die anderen verschüttet, überdeckt und manipuliert; der mit aller verfügbaren Kraft versucht aufzustehen, sich vom Boden zu lösen; die lebendige, gefährliche, verderbliche Außenwelt; die endlose, unerschöpfliche Reise durch enge und unendliche Straßen; der Ruf der anderen.
Können Sie uns sagen, was Städte für Sie bedeuten?
Für mich sind Städte wie Labyrinthe voller Spiegel, Echos, Fallstricke, sie repräsentieren das Schicksal der heutigen Menschheit. Städte waren stets Ziele auf meinen Reisen, zu denen ich aufbrach, ohne zu wissen, was ich suchte: glitzernde Welten, die ich, als ich sie fand, nicht durchschaute. Und als ich sie durchschaut hatte, war es zu spät. Glitzernde Welten, in denen ich mich zwangsläufig verlieren musste.
Ist es Liebe oder Transzendenz, was Ihnen die Kraft für Ihre Texte gibt?
Das Leben kann einem Menschen das Gesicht rauben, seinen Körper, seine Seele, ja sogar seine Tragödie bedeuten. Aber es kann ihm nicht seinen Schmerz und seine Einsamkeit nehmen. Das Einzige, was ich dagegen machen kann, ist, mich mit all meiner Aufnahmefähigkeit dem Leben, seinen Stimmen und seiner Stille zu öffnen.
Sie sind nicht mehr an dem Punkt, an dem Sie waren, als Sie Ihr erstes Buch schrieben, nur der Schmerz ist geblieben. Haben wir nun eine Asli Erdogan vor uns, die diesen Schmerz lindern, die durch ihn neue Stimmen erzeugen möchte?
Ich möchte erzählen, Geschichten erzählen, Personen erschaffen und zum Sprechen bringen, mir ihre Worte borgen und mich ihrem Schicksal unterwerfen. Ohne ein »Ich« »Ich« nennen zu müssen, ohne »Du«, »Tod« oder »Leben« zu sagen.
Auszug aus einem Interview, erschienen in »Varlik«
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Aus dem Türkischen von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch