Fremdsprachige Literaturen zur Kenntnis zu nehmen und zu übersetzen, hat in der Türkei eine lange Tradition. So ist die moderne türkische Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade unter dem Einfluss französischer Romane und Theaterstücke entstanden. Dass Werke der Weltliteratur ins Türkische übertragen werden, verwundert daher im globalen Zeitalter nicht wirklich. Lateinamerikanische Literatur wird beispielsweise seit mehreren Jahrzehnten in der Türkei rezipiert. Dass diese weit entfernte Region als Schauplatz eines türkischen Romans in Erscheinung tritt, ist allerdings ein Novum. Der 1998 erschienene Roman Die Stadt mit der roten Pelerine von Asli Erdogan ist wohl der erste türkische Roman, der in einem lateinamerikanischen Land spielt. Rio de Janeiro dient darin nicht nur als Szenerie, vielmehr lässt sich das Werk auch als Aneignung einer fremden – der brasilianischen – Kultur lesen.
Die Protagonistin Özgür, deren Namen so viel wie »die Freie, die Unabhängige« bedeutet, ist eine blasse, introvertierte, akademisch gebildete junge Türkin, die sich auf diese, ihr fremde Welt einlässt. Obwohl sie in Rio de Janeiro sozial abgleitet, kann sie sich von der ebenso faszinierenden wie bedrohlichen Stadt nicht lösen. Alltäglicher Gewalt, Armut und Chaos, dem allgegenwärtigen Tod kann sie nicht entrinnen. Sie fühlt sich vielmehr angezogen von der scheinbar grenzenlosen Freiheit und der Lebensfreude der Metropole. Nervlich zerrüttet und gefangen in ihrer Einsamkeit versucht sie, die anscheinend nicht erfassbare Realität zu begreifen. Das Schreiben darüber wird zur Passion. Der so entstehende Roman im Roman ist die Geschichte Ö.s. Die beiden Ebenen vermischen sich bis zur Unkenntlichkeit, sodass sich die Verknüpfungen der Bezüge zwischen Authentizität (Özgür) und Fiktion (Ö.) nur schwer auflösen lassen.
Die Wahl des ungewöhnlichen Schauplatzes lässt sich durch den Lebensweg der Autorin erklären. Die Protagonistin Özgür/Ö. ähnelt in vielen Charakterzügen der Verfasserin und ihrer Biografie. Asli Erdogan wurde 1967 in Istanbul geboren. Ihre Schulzeit verbrachte sie an renommierten Istanbuler Schulen. Anschließend studierte sie Informatik an der englischsprachigen Bosporus-Universität. Nach ihrem Studienabschluss 1988 war sie dort Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Physik. Als Diplomandin folgte 1992 ein zweijähriger Aufenthalt in der Schweiz an der in Genf ansässigen Europäischen Organisation für Kernforschung CERN. Eine glänzende Karriere als Physikerin zeichnete sich ab. Dem Master in Physik schloss sich eine Assistenz an der Bosporus-Universität an, ihr folgte eine Anstellung an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro von 1994 bis 1995, wo sie gleichzeitig mit der Arbeit an einer Dissertation begann.
Neben der wissenschaftlichen Laufbahn schlug Asli Erdogan Ende der 1980er Jahre noch einen anderen Weg ein: Sie begann zu schreiben. Erste Erzählungen erschienen ab 1991. Vielbeachtet wurde die Erzählung Holzvögel, für die sie 1997 den ersten Preis der Deutschen Welle erhielt. Ihren Aufenthalt in der Schweiz beschreibt die junge Schriftstellerin in Interviews als schwierige Lebenssituation. Grund hierfür sind enorme Arbeits- und Leistungsanforderungen und unkollegiale Verhaltensweisen im Konkurrenzkampf der Wissenschaftler vorwiegend männlichen Geschlechts. Nach langen Arbeitszeiten in sterilen Physiklabors verfasste sie nachts ihren ersten Roman Der Muschelmann. Zurück in Istanbul setzte sie dieses Doppelleben fort. Zum Bruch mit der naturwissenschaftlichen Karriere kam es erst in Brasilien, obwohl sie bereits die Zeit an der CERN als Wendepunkt in ihrem Leben beschreibt. Die Welt der physikalischen Forschungseinrichtungen vergleicht Asli Erdogan immer wieder mit einem Gefängnis, einem Ghetto. Nach eigenen Aussagen inspirierte vor allem Rio de Janeiro ihr schriftstellerisches Schaffen. Aus der familiären Enge geflohen, durch die fremde Kultur angeregt, gab es kein Land, in das sie zurückkehren mochte. Rio de Janeiro wurde ihr zum freiwillig gewählten Exil. Ein Leben in der Welt der Physik passte nicht mehr.
Während Asli Erdogan sich in Brasilien aufhielt, erschien in Istanbul 1994 ihr erstes Buch Der Muschelmann. In diesem Roman in Ich-Form verbringt eine junge Physikerin zwei Wochen in einer Summer-School auf den Karibischen Inseln. Der Kontakt zu einem Einheimischen ermöglicht ihr, Sexualität und menschliche Nähe zu erfahren. Reflektiert werden hier außerdem die Arbeitsbedingungen und Lebensumstände junger Naturwissenschaftler. Wie Die Stadt mit der roten Pelerine hat dieser Erstlingsroman eine autobiografische Komponente.
Zwei Jahre blieb Asli Erdogan in Rio de Janeiro. Nachdem sie die Universität verlassen hatte, arbeitete sie als Programmiererin, Englischlehrerin und Tänzerin, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie bereiste Länder in Lateinamerika, Europa und Afrika, und seit 1996 lebt sie wieder in Istanbul. Die Stadt mit der roten Pelerine wurde nicht in Brasilien geschrieben; erst aus der Distanz heraus, in Istanbul, entstand der Rio-Roman. Nach ihren eigenen Aussagen machte sie sich vor Ort keine Notizen. In diesem komplexen Text ist auch ihre eigene Lebensgeschichte verborgen.
Von 1998 bis 2001 verfasste Asli Erdogan wöchentliche Kolumnen für die linksliberale Tageszeitung Radikal, die mittlerweile auch als Buch mit dem Titel Wann endet eine Reise? (2000) vorliegen. Neben den Romanen Der Muschelmann (1994) und Die Stadt mit der roten Pelerine (1998) erschien der Erzählband Der wundervolle Mandarin (1996). Als lyrische Prosa bezeichnet sie ihren zuletzt veröffentlichten Band Die Stille des Lebens (2005). Mit Übersetzungen in mehrere europäische Sprachen machte sich Asli Erdogan nicht nur in der Türkei einen Namen: Die junge türkische Autorin trug und trägt dazu bei, dass türkische Literatur weit über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus wahrgenommen wird. Sie gehört zu jenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, durch die türkische Literaten und ihre Werke Eingang in die Weltliteratur finden. Nicht zuletzt steht Asli Erdogan mit ihrer Biografie und ihrem literarischen Werk exemplarisch für eine neue Generation unabhängiger Frauen in der Türkei.
Rio de Janeiro: die Stadt des Karnevals, der Tropenkrankheiten und der Armut, des organisierten Drogenhandels und der Slums, brasilianische Metropole mit einem bunten Völkergemisch. Die Labyrinthe des städtischen Raums, Chaos und Dschungel, Begegnungen mit dem Tod bestimmen den Roman und seine Protagonistin – ihr Denken und Handeln, die Schöpfung ihrer fiktiven Doppelgängerin, ja geradezu alle Facetten ihres Seins sowie die Art und Weise ihres Schreibens. Nicht wie eine Touristin führt Özgür den Leser durch die Großstadt, vielmehr wie eine Migrantin, die das zunächst Fremde bereits als Vertrautes und Eigenes angenommen hat. Sie kennt sich aus und verhält sich wie eine Einheimische. Einzelne Figuren, die stets den marginalisierten, unteren Gesellschaftsschichten oder der Künstlerszene angehören, haben sie akzeptiert. Trotz alledem bleibt sie für die Einwohner der Metropole eine Gringa, eine Ausländerin.
Ihre Versuche, sich in der fremden Umgebung einen privaten Raum – ideell, visuell und akustisch – zu schaffen, scheitern. Weder die Geräusche in ihrem gemieteten Zimmer noch die Gestaltung der Wände kann sie selbst bestimmen. Das Schreiben bildet die einzige private Sphäre, die jedoch von der Großstadt und ihrem Treiben vereinnahmt, ja geradezu verschlungen wird. Eine Existenz jenseits des großstädtischen Raums gibt es nicht. Im Verhältnis von Öffentlichem und Privatem wird bereits deutlich, wie sich Özgür einerseits das Fremde aneignet und andererseits Fremdes als fremd belässt.
Der Leser lernt Özgür an einem brütend heißen Sonntag im Dezember in ihrer Wohnung kennen, als sie einen Nervenzusammenbruch erleidet, und begleitet sie dann bei einem Spaziergang durch die Stadt. Sie macht Halt an verschiedenen Stationen und wird nach Einbruch der Dunkelheit überfallen. Eingebettet in diese Rahmenhandlung sind die kursiv gesetzten Passagen, Auszüge aus ihrem Roman Die Stadt mit der roten Pelerine. Diesen hat sie in ein grünes Heft geschrieben. Mal liest sie den fertigen Text, mal schreibt sie ihn weiter. Immer wieder thematisiert Özgür bzw. Ö. diese Schreibsituation. Formal und inhaltlich sind die beiden Erzählebenen auf mannigfache Weise miteinander verflochten. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität wird unscharf und verwischt. Das Schreiben bedeutet für Özgür nicht nur Überlebensstrategie und letzte Rettung in einer Krisensituation, sondern dient ihr zugleich als Therapie, die es ihr ermöglicht, die Schreckenserfahrungen von Gewalt und Armut zu erdulden und zu verarbeiten. Wie eine Süchtige klammert sie sich daran fest.
Als abenteuerlustige Frau aus der Mittelschicht – eine verwestlichte Türkin, die irgendwo aus Europa stammen könnte – ist sie zu einer Reise auf der Suche nach sich selbst aufgebrochen. Diese Suche bleibt – anders als in vielen anderen Romanen, in denen Frauen sich in exotische Länder begeben – erfolglos. Ganz im Gegenteil: Die Erinnerungen verblassen, das Ich wird sich immer fremder, ja sogar die eigene Sprache wird ihr fremd. Verhaltensweisen und Vorstellungen passen sich an die neue Umgebung an, und am Ende des Romans geht das Ich in den Labyrinthen der todbringenden Stadt verloren. Entgegen anderen Berichten von Frauen, die in weit entfernte Gegenden reisen, wird ihre Geschichte keine Überlebensgeschichte: Sie endet tödlich.
Die Fremdheitserfahrungen im Roman bleiben immer eine Schwellenerfahrung. Fremdes zeigt sich in allen denkbaren Facetten – zwischen Faszination und Schrecken, als das Unbekannte, Undenkbare, Nichtvorstellbare schlechthin sowie als das Fremdartige und Befremdliche. Die Stadt ist Leben und Tod, grenzenlose Freiheit und Gefangensein. Sie ist wild, zügellos, barbarisch, unzugänglich und nicht greifbar. Wenngleich der erste Eindruck täuschen mag, so hat Özgür/Ö. dennoch vieles aus der Kultur der brasilianischen Metropole verinnerlicht. Der Erzähltext ist analog dazu gestaltet.
Angeeignet hat sich die Protagonistin Sprachkenntnisse des Portugiesischen. Ihre anfänglichen Kenntnisse, die noch als eher spärlich zu bezeichnen sind, kann sie im Laufe der Zeit so weit ausbauen, dass sie bei jenem Sonntagsspaziergang durch die Stadt fast alles versteht, aber immer noch nicht flüssig sprechen kann. Immer wieder vergleicht sie Türkisch und Portugiesisch und bedauert ihre mangelnden Kenntnisse des portugiesischen Straßenslangs. Sich nur begrenzt ausdrücken zu können, verändert ihre Persönlichkeit. Trotz dieser sprachlichen Defizite zeigt der Romantext zugleich, wie differenziert die Protagonistin das Portugiesische mit seinen sprachlichen Feinheiten wahrnimmt – so ihre Ausführungen zu den Favelas, den Elendsquartieren und den Bedeutungsschichten des Begriffs. Einzelne Wörter erlernt sogar der Leser bei der Lektüre des Romans.
Auf Elemente der afrobrasilianischen Kultur wie beispielsweise Gottheiten und Rituale des Candomblé, mit denen sich die Autorin intensiv auseinandersetzte, sowie auf den Kampftanz Capoeira verweist der Roman hier und da direkt. Diese werden auch als Folie für die Handlungsführung eingesetzt. Die erste Station Özgürs beim sonntäglichen Gang durch die Stadt, der Kiosk, an dem sie mit zwei Favelados und einem missmutigen portugiesischen Verkäufer konfrontiert wird, lässt sich als nicht vollendeter Todestanz, als Capoeira, lesen. Unter afrobrasilianischen Sklaven als Kunstform des Kampfes gegen ihre Herren entstanden, handelt es sich dabei um einen Kampftanz, bei dem die Gegner sich auf keinen Fall gegenseitig berühren dürfen. Sie greifen gleichzeitig blitzschnell an, und ebenso plötzlich ziehen sie sich wieder zurück.
Religiöse Vorstellungen sind im nachgezeichneten Rio de Janeiro allgegenwärtig. Ganz allgemein kann man sehen, dass auch Özgür/Ö. sich dem Religiösen nicht entziehen kann, obwohl sie aus einem säkularisierten Elternhaus stammt und sich selbst nicht-gläubig begreift. Mit kurzen Stoßgebeten und Bibelzitaten werden religiöse Bezüge angedeutet. Aber auch implizit ist christliches Gedankengut eingearbeitet. So lassen Ö.s Erfahrungen am sogenannten Nullpunkt das Bild eines weiblichen Christus entstehen. Am Ostersonntag entdeckt sie eine tote Mulattin, die an einer belebten Straße, an einen Strommast gelehnt, von niemandem beachtet wird. Erst nach mehrmaligem Vorbeigehen erkennt sie, dass die scheinbar Schlafende ermordet wurde. In diesem Moment beginnt sie, das Leid der Welt zu erfassen und zu begreifen. Diesem steht sie völlig hilflos, sprachlos und ohnmächtig gegenüber. Danach gibt es für Ö. kein Zurück mehr, und der Verfall, die Zerstörung ihrer selbst setzt ein. Ihre Gefühle der Mitmenschlichkeit münden nicht im Trost und Gnade spendenden Gedanken von einem wie auch immer gearteten Gott. Vorstellungen von einer Erlösung der Menschheit und einem sich des Menschen erbarmenden Gottes stellen sich nicht ein. Die Erfahrungen an diesem Nullpunkt übernehmen noch eine andere Funktion: Sie sind Anlass und Motivation zum Schreiben.
Neben der ermordeten Mulattin, die ihr als weiblicher Christus erscheint, zeigen sich weitere Bezüge zu christlichem Gedankengut. Özgürs Gang durch die Stadt kann analog zum Kreuzweg gelesen werden, und zahlreiche Parallelen finden sich zwischen dem Erzähltext und der Passionsgeschichte Jesu Christi. Kreuzwegartige Stationen kristallisieren sich im Lauf der Lektüre heraus: ihr Einzug in die Stadt, ihre Gefangennahme, die Gespräche mit der Mutter, eine kurzzeitige Linderung des Leids bis hin zum Tod von Ö. Die Vollendung des Romans bildet die letzte Station: Es ist ihr persönlicher Sieg über den Tod. Zentraler Aspekt der Parallelisierung ist die Überwindung von Leid und Tod. Auch der Titel des Romans lässt sich hier einordnen. Die rote Pelerine des Titels wird zum Purpurmantel Jesu Christi. Der Umhang der Stadt symbolisiert zugleich mit seiner Farbe Blut. Mit dem roten Gewand steht die Stadt Institutionen der Gerichtsbarkeit nahe: Sie wird zur Herrin über Leben und Tod.
Die Großstadt als Matrix des menschlichen Seins ist Leben und Tod, Himmel und Hölle zugleich. Analog hierzu steht Musik jeglicher Couleur – die in Rio de Janeiro eine außerordentlich wichtige Rolle einnimmt – stets für Todessehnsucht und Lebenswille. In diesem Punkt treffen sich die verschiedenen Kulturen, und Musik an sich wird zur universellen Größe. Im sonderbaren tropischen Ambiente tanzt Özgür klassisches Ballett, eine aristokratische, sehr europäische Kunstform. Zuflucht bietet ihr das Ballettstudio, und der Tanz selbst erhält eine religiöse Dimension, wird zum rituellen Zeremoniell. Ähnlich verhält es sich, als sie die Tänze des Candomblé, einer stark mit der Sklaverei verbundenen Kultur, erlernt. Sie ist in der Gruppe homosexueller Männer nichtweißer Hautfarbe »die Andere«: als einzige Frau, einzige Weiße und einzige Ausländerin. Im Tanz, als ob der Todesmoment naht, und in Todessehnsucht erschafft sich Özgür ein kurzweiliges, verloren gegangenes Paradies und erfährt die notwendige soziale Anerkennung. Todessehnsucht und Lebenswille bilden die verbindende Dimension durch das Medium der Musik.
Diese eigenartige Verbindung von Leben und Tod an der Grenze zum Tod wird im Roman mehrfach thematisiert. Hinter aller Liebe in Rio de Janeiro steht der Tod analog zur Liebe, die Orpheus für Eurydike in dem Moment empfindet, als er sich umblickt. Den griechischen Mythos von Orpheus greift die Autorin mehrere Male auf. Sein Gesang und Spiel rührten die Götter der Unterwelt so sehr, dass sie seiner verstorbenen Frau Eurydike die Rückkehr aus dem Reich der Toten erlauben. Als er beim Gang aus dem Totenreich das Verbot, sich umzuschauen, aus Liebe übertritt, muss sie zurückbleiben. Die Wirkung von Musik und Kunst, starke Gefühle hervorzurufen – wie es Orpheus gelingt –, ist eine Dimension des Mythos. Eine andere ist die Verbindung von Liebe und Tod, lebensrettender und todbringender Liebe. Das Reich der Toten bilden die Favelas. Sie sind die Unterwelt, deren Besuch zum Grenzgang zwischen Leben und Tod wird. Jenen Augenblick der Grenzüberschreitung zwischen Leben und Tod kann die Kunst erfassen, wie das im Roman erwähnte Poster einer Ballettszene verdeutlicht. Die Autorin stellt dies mit dem Ende des Romans infrage. Im realen Leben ist das Erfassen des Todesmoments nicht möglich. Ö.s Tod ist ein von Özgür erschaffener Tod, Produkt ihrer Fiktion. Der Tod bleibt das nicht zugängliche Fremde.
In diesem Verständnis kehrt Özgür mit dem Schreiben des eigenen Todes zum Leben zurück. Bereits mit dem Roman Sich hinlegen und sterben (1973) von Adalet Agaoglu ist solch ein Gedanke in der türkischen Frauenliteratur angelegt. In beiden Werken ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod eine Suche nach der eigenen Identität. Diese Suche ist eng mit Fragen nach Weiblichkeit und dem Frausein verbunden. Jedoch folgt Asli Erdogan hier nicht den Mustern der klassischen Frauenliteratur. Ihre Auseinandersetzung mit dem Tod mündet nicht in der Selbstfindung als Frau. Unter dem Stichwort »Weiblichkeit« ist all das zusammenzufassen, was Özgür/Ö. von den Frauen Rio de Janeiros trennt. Ihr Verhältnis zum eigenen Körper, zur Sexualität und zur Repräsentation des Körpers ist ein völlig anderes, obwohl sie sich hier und da analog zu den Mulattinnen der Metropole und ihrer Geschichte in die Nähe einer Sklavin rückt. Weit entfernt hat sich die junge Frau von der traditionellen Frauenrolle, wie sie im Islam im Allgemeinen oder in der Türkei im Speziellen vorzufinden ist. Weder ihre Werte und Moralvorstellungen noch ihre Auffassung der Geschlechterrollen lassen sich in traditionelle Vorstellungen einordnen. Dies gilt für alle Spielarten des Frauenbildes in der Türkei: kemalistisch, sozialistisch, feministisch oder islamisch orientiert. Alles, was mit der Mutterrolle in Verbindung zu bringen ist, wird von Özgür/Ö. ebenso verabscheut und verweigert. Die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht spielt für sie überhaupt keine Rolle. Ihre Identität speist sich eher aus dem allgemein Menschlichen.
Und auch ihre kulturelle Sozialisation verweist auf eine viel eher westliche bzw. europäische Bildung als auf eine türkische Prägung. Musikwerke und Komponisten, Schriftsteller und Philosophen, angeführte Zitate und Liedtexte, die im Roman genannt werden, entstammen zum überwiegenden Teil der europäischen und der lateinamerikanischen Kultur. Türkisches nimmt dagegen nur eine marginale Position ein. Ein als Epigraph verwendetes persisches Sprichwort, die nach Rio de Janeiro mitgebrachten Bücher – darunter neben Übersetzungen ins Türkische auch Werke von Nazim Hikmet – verdeutlichen, dass die Schriftstellerin zwar auf türkische bzw. orientalische Kulturgüter zurückgreifen kann und dass sie über ein Wissen in diesen Literaturen verfügt, dieses aber nur selten mit konkreten Bezügen nutzt. Weit mehr rückt sie den griechischen Mythos von Orpheus sowie seine musikalische Bearbeitung als Ballett in den Mittelpunkt. Hier und da knüpft sie an Nietzsches Philosophie an. Beim sonntäglichen Spaziergang durch die Stadt trägt Özgür neben dem grünen Heft mit eigenen Aufzeichnungen den Roman Rayuela. Himmel und Hölle des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar bei sich, in dem sie Kokain versteckt. Zahlreiche sprachliche Bilder lassen an die Werke von Clarice Lispector, eine brasilianische Schriftstellerin russischer Herkunft, denken. Es entsteht das Bild einer jungen Weltbürgerin, die sich kosmopolitisch in allen Literaturen bzw. Kulturen der Welt heimisch fühlt und dadurch zugleich heimatlos ist. Mit solch einer Haltung ist Asli Erdogan eine der türkischen Intellektuellen, die schon lange in Europa und in einer globalisierten Welt angekommen sind.
Lassen Sie sich mitnehmen auf eine Reise in die Straßen Rio de Janeiros und faszinieren von den Labyrinthen der Stadt, von den Tiefen der menschlichen Seele. Mit unpathetischen, prägnanten und eindrucksvollen Beschreibungen der Menschen, mit detaillierten Schilderungen einzelner Orte und Begebenheiten wird der Leser in den Bann der Stadt gezogen. Da die Umstände des Schreibens immer wieder thematisiert werden, ist es möglich, sich in den Text hineinzufühlen. Erklärende Passagen ermöglichen dem Leser ein besseres Verständnis für die fremde Kultur. Die Sprache der Verfasserin bewegt sich auf vielen verschiedenen Sprachebenen mit dem dazugehörigen Vokabular: von der Vulgärsprache bis hin zu Klassikern der englischen Poesie, vom jugendlichen Sprachjargon bis hin zu philosophischen und literaturwissenschaftlichen Abhandlungen. So bunt und multikulturell wie die Stadt sich zeigt, so vielfältig ist auch die Ausdrucksweise im Roman: Passagen, die aus einem Reiseführer stammen könnten, folgen absurd anmutenden Szenen; humorvoll-satirischen Momenten schließen sich schreckliche Zeitungsmeldungen an. Nuanciert findet die Verfasserin den angemessenen Tonfall zwischen journalistisch klingenden Ausführungen und persönlichen Bekenntnissen in einer lyrischen Sprache, die Phasen intensiver Selbstbegegnung nachzeichnen. Ganz im Sinne der Stadt des Karnevals verbirgt sich alles hinter einer Maske. Doch hinter dieser Maske kann eine weitere stecken, und was solide erscheint, stellt sich als vollkommen dekadent heraus. Mit einem Wechsel der Perspektive verwandelt sich der erste Eindruck manchmal sogar in sein Gegenteil. Rio de Janeiro, die Meisterin im Spiel der Täuschungsmanöver, der Zufälle und der Maskerade lässt – ganz in postmoderner Manier – selbst den Teufel weit hinter sich zurück. In diesem sehr komplexen Werk werden Sie also noch vieles mehr entdecken können.
Karin Schweißgut