Thomas Wörtche: Monsieur Boman, das ist schon ziemlich verzwickt: Ein franko-schwedischer Schriftsteller schreibt einen historischen Kriminalroman, der um 1900 im britischen Indien spielt, also an einem Schauplatz französischer Demütigung des achtzehnten Jahrhunderts. Die handelnden Personen sind ein liebenswerter, aber gleichzeitig widerwärtiger, monsterhafter britischer Polizist, ein schwuler, affektierter französischer Diplomat, ein lüsterner, versoffener irischer Priester und so weiter; die Geschichte ist durchsetzt mit Passagen aus einem Seekriegsroman im Geiste C.S.Foresters, Alexander Kents und Patrick O’Brians, einem Genre also, das beinahe per definitionem anti-französisch ist. Das Ganze auf Französisch, in Frankreich zuerst verlegt und dort auch noch erfolgreich. Wie geht so etwas zusammen?
Patrick Boman: Ich betrachte es als unser Recht, wenn nicht als unsere Pflicht, unsere Kultur kritisch, sogar überkritisch zu beobachten – und andere Kulturen auch! Zurzeit werden wir mit gut gemeinten Blabla-Predigten über den Begriff »Respekt« überzogen und belehrt. Quatsch! Im Gegenteil, Respektlosigkeit (eine nicht-gewalttätige, freundliche Respektlosigkeit natürlich) und Lachen sind wahrscheinlich ein viel besserer Schlüssel zum Verständnis der Welt – einvernehmlich mit der großartigen Redefreiheit, die wir in Europa genießen dürfen, und die auch Blasphemie einschließt.
Aus diesem Grund wird auch niemand verschont in meinem Roman: Die Briten nicht, nicht die Franzosen, und die Inder auch nicht. Man kann sie als Comicfiguren betrachten – oder auch nicht. Nicht, dass ich mir das alles schon von Anfang an so überlegt hätte, es ist einfach passiert.
Die französischen Leser scheinen es zu mögen. Aus Deutschland hatte ich ein sehr positives Echo (»Wie schön, ein französischer Roman, in dem nicht wir die Schurken sind!«). Ein schottischer Verlag zeigte sich erschrocken über die »bösartige Atmosphäre« des Romans, meine englischen Freunde hingegen mögen Mr P.
Sie sind viel gereist in Ihrem Leben. Auch in Indien?
In meinen jungen Jahren bin ich oft durch Indien gereist. Ich habe dort nie länger an einem Ort gelebt, aber alles in allem habe ich mich gut anderthalb Jahre in der ganzen Region rumgetrieben (unter anderem auch in Nepal und Sri Lanka) und bin in die entlegensten Gegenden gekommen. Es gibt also nichts bloß Ausgedachtes in meinen Romanen.
Das heißt, Sie haben Ihre Erfahrungen dort einfach achtzig Jahre zurückprojiziert?
Ich bin davon überzeugt, dass das Land, das ich damals in den 1980ern kennen gelernt habe, sich nicht wesentlich von dem von 1900 unterschied. Überall Kühe. Ich habe einfach Elektrozäune, Telefone, Fahrräder und Kinowerbung aus der Landschaft entfernt; das ergab ein relativ modernes Land mit Eisenbahn, Dampfschiffen und Telegraf – und darunter den riesigen echten Kontinent.
Irgendwo hab ich mal gelesen, Josaphat Peabody sei Ihnen erschienen. Wenn das stimmt, wie war das? Und passiert Ihnen so was öfter?
Die heilige Johanna hat des öfteren Stimmen gehört und der heiligen Bernadette von Lourdes ist die Jungfrau Maria achtzehn Mal erschienen. Aber Mr P mir nur einmal. Ich hab mir gerade den Kopf gekratzt, weil ich mir eine Figur ausdenken musste. Und da war er! Aus heiterem Himmel, fett, schwitzend, an seiner ekligen Zigarre nuckelnd und auf Hindi fluchend. Eine solche Erscheinung, das reicht. Mehr solcher Epiphanien könnte ich auch gar nicht aushalten.
Mögen Sie ihn, diesen ganz und gar nicht politisch korrekten, schmutzigen alten Mann mit den liebenswerten Zügen?
Das Problem hat sich für mich nie gestellt. Ich mag es nur nicht, mit ihm verglichen zu werden. Aber natürlich ist er nett! Sehr menschlich! Er weiß, was die Menschen umtreibt. So wie Dostojewskis Porphyr Porphyrowitsch, Simenons Maigret und der liebe alte Derrick mit seinen hervorquellenden Augen …
Bei vielen Leuten kommt er ganz außerordentlich gut an. Manche Frauen sind regelrecht fasziniert von ihm; dummerweise habe ich das nie zu meinem Vorteil ausnutzen können. Manchmal höre ich auch: »Ihre Figur ist so gewalttätig, korrupt und außerdem trinkt er zu viel«. Dann sage ich: »In Ihrer Fantasie vielleicht, aber tut mir leid, Sie irren. Na ja, kann mal vorkommen, dass er einem Mörder ein paar Ohrfeigen verpasst. Aber in seiner ganzen Karriere hat er – in einem total korrupten Umfeld – nie einen einzigen Penny für sich abgezweigt, und ein paar Schluck Portwein trinkt er nur alle zweihundert Seiten.« Auch klar, dass ich heftig angegriffen wurde wegen der Stelle, wo er die Gattin eines Verdächtigen erpresst: Sex gegen das Fallenlassen einer Zeugenaussage. Ich muss zugeben, das war nicht gentlemanlike.
An einer Stelle will Peabody sogar eine Nonne verführen – eine übliche Männerfantasie? Oder Ihre eigene? Und das in Zeiten religiöser Umtriebigkeiten?
Finden Sie nicht auch, dass Nonnen mit den richtigen Kurven und schwarzseidener Unterwäsche unterm Habit eine klassische Männerfantasie sind? Klassisch, weil sie, wenn ich mich nicht irre, im achtzehnten Jahrhundert begann …
Peabodys Begehren für Sister Mary ist ja bloß die erste Ebene. Er hat er sich ja wirklich in sie verliebt. Natürlich ist die ganze Situation lächerlich und er kann es nicht einfach zugeben. Auch von ihr kommt ein leichtes Funkeln, zumindest mag sie ihn. Wenn sie abreist und er zum Pier kommt, um sich zu verabschieden, lächerlicher denn je, dann ist das ein wirklich tragischer Moment. Der einsame alte Mann wird seine irische Fee nie wieder sehen, und beide wissen das. Das ist die menschliche Tragödie einer unmöglichen Liebe, kein Comic mehr.
Was finden Sie so faszinierend an Ihrer Kombination von klassischem whodunnit und hardboiled-novel?
Der klassische whodunnit langweilt mich unendlich; ich bewundere die amerikanischen Meister des hardboiled. Aber das ist zu einfach, man kann diese beiden Strömungen nicht leicht auseinander halten. In jeder hardboiled novel steckt teilweise auch ein whodunnit. Aber literarische Regeln interessieren mich sowieso nicht. Ich habe muss in meinem Alltag so viele Regeln befolgen, dass ich beim Schreiben garantiert keine akzeptiere, da lässt meine wilde und freie Seite keine Beschränkung zu. Ich versuche anständig zu schreiben und nicht zu langweilen. Das ist alles.
Allerdings will ich auf ein bestimmtes Riff mit Sicherheit nicht auflaufen: Diese linken Predigten, die dem französischen Kriminalroman seit den 1970ern so sehr geschadet haben. Das Leben ist nicht politisch korrekt, und man kann vernünftigerweise auch nicht hoffen, etwas Gutes mit politisch korrekten Bandagen zu schreiben. Hammett war ein radikaler Kommunist (und das war damals noch lebensgefährlich), aber er hat nie eine Botschaft gehabt. Dennoch sind seine Beschreibungen der amerikanischen Gesellschaft gnadenlos.
Paradoxe gefallen Ihnen – auch als Lebensmaxime?
Es gibt keine Wahrheit. Der Himmel ist ganz offensichtlich leer. Einbahndenken bedroht uns, diese verdammten drei monotheistischen Religionen sind im Moment hysterischer als je zuvor. Deswegen: Paradoxe sind das Leben! Nichts ist richtig oder falsch, schwarz oder weiß.
Josaphat Mencius Peabody, was für Name! Stimmt die Herleitung im Buch?
Selbstverständlich! Nebenbei bemerkt, es gibt ein paar Tausend Peabodys auf diesem Planeten, aber ich weiß von keinem, der auch noch Josaphat Mencius heißt und der sich glücklich schätzen würde, mich wegen Verunglimpfung des edlen Namens Peabody zu verklagen.
Imperialismus und Kolonialismus – ein hässliches Thema …
Doch, doch, lassen Sie uns dazu ruhig etwas sagen. Koloniale Situationen waren immer sehr unterschiedlich, je nach Ort und Zeit. Kolonialismus konnte grauenhaft sein und barbarisch (Zwangsarbeit aller Art) oder relativ entspannt – die Dinge sind da extrem kompliziert. Vergessen Sie nicht, dass gerade im neunzehnten Jahrhundert viele prokolonialistische Politiker eher der Linken angehörten, zumindest in Frankreich (»Lasst uns den armen Seelen Zivilisation und Fortschritt bringen«), während es bei der Rechten viele Antikolonialisten gab (»Lasst die Wilden doch in Ruhe, sie sind glücklich, so wie sie sind«).
Ich will dieses Zeitalter nicht positiv zeichnen, ganz und gar nicht; aber ich will auch nicht alles nur schwarz malen. Welche historische Periode man sich auch aussucht: In der gesamten menschlichen Geschichte haben Kolonialismen nie lange gedauert. Das zumindest sollte die Schuld von uns Europäern nicht ganz so schwer machen oder nicht so ewiglich.
In einem der Romane sagt Peabody, dass kein Weltreich, auch der British Raj, ewig dauert. Peabody macht seine Arbeit, der offiziellen britischen Propaganda glaubt er kein Wort; aber er kann sich auch kaum vorstellen, dass »eine Hand voll Anwälte und Grundbesitzer Millionen von elenden Menschen zu Freiheit und Glück führen«. Im Jahr 1900 hört sich das doch ganz vernünftig an, oder?
Monsieur Boman, Sie sind mit Ihrer Biografie sehr, sehr zurückhaltend. Warum? Haben Sie was zu verbergen? Oder sollen wir denken, Sie hätten was zu verbergen? Oder treten Sie einfach bescheiden hinter Ihr Werk zurück?
Ich bin überhaupt nicht zögerlich mit meiner Biografie, und zu verbergen hab ich dummerweise auch nichts, aber es gibt einfach nicht viel zu erzählen. Ich gehe zur Arbeit, ich bezahle meine Steuern, ich bin zu dick, ich schmeiße meinem Zahnarzt ein Vermögen in den Rachen. Und so weiter, wie alle Leute. Wir sind ja sowieso alle gleich, in so vielen Aspekten. Meine einzige Eitelkeit ist, dass ich nicht allzu schlecht koche, wenn mir danach ist.
Der Autor ist sowieso nicht wichtig. Die Bücher, die Filme, die Gemälde, die Skulpturen, die Gebäude, die Gärten, die sind wichtig.
Und natürlich müssen die Leser nun wirklich nicht alles wissen. Transparenz, das ist auch so ’n Quatsch. Rücksicht auf Privatsphäre ist ein tragender Pfeiler der Demokratie!
Vielen Dank, Monsieur Boman, für das Gespräch.