Tatsächlich unterschieden sich in der osmanischen Gesellschaft die Beziehungen zwischen Mann und Frau sehr von denen in westlichen Gesellschaften. Doch der Roman, der mit einer Art Bildungsauftrag in die türkische Literatur eingegangen ist, hat unter den gesellschaftlichen Institutionen, deren Erneuerung er – damals noch in oberflächlicher Form – anregte, auch die Familie zu seinem Thema gemacht. Er hat in dieser Zeit dazu beigetragen, dass ein Forum entstand, wo die Erwartungen an die gesellschaftlichen Veränderungen diskutiert werden konnten. Der Entschluss zur Hochzeit, Liebe in der Ehe, die Verständigung zwischen dem Ehegatten, Heirat zum Zwecke der materiellen Versorgung, Heirat zwischen älteren Männern und jüngeren Frauen – das alles sind Fragen, die eine gewichtige Rolle in dem Roman spielen und die während des Prozesses der Annäherung an westliche Lebensweisen eingehend diskutiert wurden. […]
Der Erfolg der inneren Handlung von »Verbotene Lieben« hat die Kritiker sehr beschäftigt. Man hat die wohldurchdachten inneren Beziehungen in dem Roman mit einem Ballett, ja sogar mit einer Schachpartie verglichen. Doch wie man es auch beschreiben will, zwischen den Romanfiguren entwickelt sich ein verwirrendes Beziehungsgeflecht, das in seinen Grundzügen aus »Annäherung und Entfernung« besteht. […] Die Romanfiguren lassen sich ihrem Geschlecht entsprechend in zwei Gruppen einteilen, die einander beeinflussen, die unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen, die sich zwar am gleichen Schauplatz befinden, doch in einer Welt der Frauen und einer Männerwelt leben. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Welten zeigen zweifellos eine Hierarchie zugunsten der Männer: Die Männer sind aktiv, beharrlich und voranschreitend, die Frauen passiv, angepasst und abwartend.
In »Verbotene Lieben« zeigt sich keine Trennung zwischen den Männern, die ein nach außen gerichtetes Leben voller Arbeit, Kämpfen und Vergnügungen führen, und den Frauen, die zurückgezogen in ihren Privatgemächern leben. Doch die Frau ist immer noch vom Mann abhängig. Das Gleichgewicht zwischen Mann und Frau wird grundlegend durch Umstände in der Welt der Männer gestört. Die Männer scheinen sich, ohne dass im Roman hierfür eine Begründung gegeben wird, aus dem öffentlichen Leben völlig zurückgezogen zu haben. Die einzige Ausnahme hiervon ist der Bereich des Amüsements.
Obgleich die Gründe hierfür im Roman nicht ausdrücklich erläutert werden, lässt der Autor durch seine Verachtung und Geringschätzung beim Blick auf die Männerwelt den Leser die Gründe für den Rückzug in den privaten Bereich dennoch spüren. Die Regierungszeit des Sultans Abdülhamid II. ist eine Zeit des Despotismus. Der Druck von höchster Stelle im Staat bewirkte, dass sich die Männer aus Politik und Handel zurückzogen.
Auszug aus: Ask-i Memnu’nun ayri dünyalari. (Versuch einer feministischen Kritik). In: »Sözden yaziya« (Vom Wort zur Schrift) Istanbul: Bosporus Universität 1994, S.39–46.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Aus dem Türkischen von Wolfgang Riemann