In der Wendezeit vom 19. zum 20. Jahrhundert, der Zeit der politischen Repression während der düsteren Ära des Sultans Abdülhamid II. (reg. 1876–1909), in der sich die türkischen Schriftsteller eine strenge Selbstzensur in politischen und sozialen Fragen auferlegen mussten, nahm der Autor Halid Ziya Uÿakligil (1865–1945), der auch Mitstreiter in der Autorengruppe Edebiyat-i Cedide (Neue Literatur) war, im türkischen literarischen Leben einen hervorragenden Rang ein. In der Gesellschaft seiner Zeit war Halid Ziya Usakligil in der Kunst und der Literatur eine anerkannte Autorität und ein richtungsweisender Schriftsteller.
Auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Reife und in seiner fruchtbarsten Schaffensperiode entstanden die beiden Romane »Mai ve Siyah« (Blau und Schwarz, 1896–1897) und »Ask-i Memnu« (»Verbotene Lieben«, 1898–1900). Beide Werke markieren Höhepunkte der ersten Phase der türkischen Romanliteratur und können zwar nicht von der historischen Abfolge her, aber aus literarischer Sicht als die ersten türkischen Romane bezeichnet werden.
Während in »Blau und Schwarz« alles aus der Perspektive der Hauptfigur Ahmet Cemil beschrieben wird, entwickelt der Autor in »Verbotene Lieben« eine ausgewogene Konstellation, in der die Lebenswege aller Figuren schicksalhaft, ja tragisch miteinander verbunden sind. Jede für sich ist so bedeutsam, wie die im Mittelpunkt stehende Figur des Ahmet Cemil im erstgenannten Werk.
In »Verbotene Lieben« konzentriert sich der Autor auf die innere Welt seiner Figuren und gestaltet sie vorwiegend unter psychologischen Gesichtspunkten. Die ausführliche Beschreibung der inneren Befindlichkeit der Romanfiguren, das Zusammenführen der Personen unter deterministischen Vorzeichen, das psychologisch geschickte Verschieben der Figuren wie auf einem Schachbrett, die Darstellung der Beziehungen und ihre dramatische Vernetzung – all diese Bestandteile machen den Roman zu einem Werk von höchster Meisterschaft.
Im Jahre 1898 fand der Roman seine ersten Leser: Es war das interessierte Publikum der Literaturzeitschrift »Servet-i Fünun« (Schatz der Wissenschaften), das die Fortsetzungen der »Verbotenen Lieben« verfolgte. Bereits zwei Jahre später erschien das Werk in Buchform. Seit dieser Zeit versuchen seine Leser, aber auch die Literaturhistoriker und Kritiker, den Fragen, die der Roman offenlässt, auf die Spur zu kommen: Was sind die zentralen Themen, mit denen sich Halid Ziya Usakligil auseinander setzt? Geht es ihm in erster Linie um das tragische Leben Bihters – oder vielmehr um Nihals persönliches Glück? Und: Wie lassen sich diese beiden Handlungsstränge miteinander verknüpfen? Wie sind die Ambitionen der leichtlebigen Firdevs Hanim mit ihrer aufgesetzten Jugendlichkeit einzuschätzen, und wie die Wünsche Adnan Beys, der nach vielen Jahren als Witwer eine neue Ehefrau sucht? Wie ist es heute zu bewerten, dass der Roman auf jegliche soziale und politische Bezüge verzichtet? Einerseits eiferte Halid Ziya den Vorbildern nach, die ihm die europäische Literatur bot, andererseits musste er als Schriftsteller im Osmanischen Reich inhaltliche und formale Zugeständnisse machen, musste gewisse Beschränkungen hinnehmen. Daher lohnt es sich, der Lebensgeschichte des Autors nachzuspüren, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Weitere Hinweise sind aus der Betrachtung der historischen und gesellschaftlichen Ereignisse der Entstehungszeit des Werks zu erschließen.
Im Jahre 1865 wurde Halid Ziya Usakligil in Istanbul geboren. Die Familie des Autors stammte ursprünglich aus der westanatolischen Stadt Usak, daher der 1934 angenommene Familienname Usakligil (etwa: Die Leute aus Usak). Später siedelte die Familie nach Izmir über, schließlich nach Istanbul. Halid Ziyas Vater war der gut situierte Teppichhändler Haci Halil Efendi, der sich mit der klassischen und mystischen Literatur des Orients beschäftigte, europäischer Lebensart und westlichem Gedankengut gegenüber aber gleichfalls aufgeschlossen war. Die Familie pflegte einen am französischen Vorbild orientierten Lebensstil, unterhielt einen großen Hausstand mit einem Erzieher und einer Gouvernante für die Kinder. Der Vater besuchte mit Halid Ziya und seinem älteren Bruder Ethem schon früh das im Istanbuler Stadtteil Gedikpasa gelegene Theater des Armeniers Güllü Agop (1840–1902), dem der Sultan 1870 ein zehnjähriges Monopol für Aufführungen in türkischer Sprache eingeräumt hatte. Haci Halil Efendi weckte und unterstützte das Interesse seiner Söhne an der Literatur. So war Halid Ziya schon als Kind mit den türkischen Volksbüchern und den Märchen aus Tausendundeiner Nacht vertraut. Die Theaterbesuche regten seine Fantasie an, und begeistert verschlang er die Textbücher der Dramen. Darunter waren die gesellschaftspolitisch aufrührerischen Bühnenwerke Namik Kemals (1840–1888), die von Freiheit und Vaterland sprachen, und die Stücke des literarischen Schöngeists Recaizade Mahmut Ekrem (1847–1917), der sich in seinen Werken auch über das gedankenlose Nachäffen westlicher Lebensart lustig machte. Seine Figur des Gecken Behruz aus dem Roman »Araba Sevdasi« (Eine Leidenschaft für Kutschen, 1896) begegnet uns wieder in dem Dandy Behlül aus »Verbotene Lieben«, der sich ebenso wie die Romanfigur Ekrems eine Lebensphilosophie zurechtlegt, die sich an dem orientiert, was er für europäischen Lebensstil hält.
Wegen des wirtschaftlichen Niedergangs nach dem Russisch-Osmanischen Krieg (1876–1878) kehrte Halid Ziya als Dreizehnjähriger mit seiner Familie nach Izmir zurück – zum Großvater Haci Ali Efendi, der die Liebe seines Enkels zur Literatur gezielt förderte. »Papagei Halid« nannte ihn der Großvater liebevoll, wegen seiner Eloquenz und seines nie versiegenden Redeflusses. Er ließ für Halid Ziya die Romane von Ahmet Mithat (1844–1912) sowie Werke der europäischen Literatur in türkischer Übersetzung aus Istanbul kommen und engagierte einen privaten Französischlehrer. Später gab er seinen Enkel auf die Schule des katholisch-armenischen Ordens der Mechitaristen, wo er sein Französisch weiterentwickelte, zusätzlich Italienisch lernte und mit der Mentalität seiner christlich geprägten Mitschüler und Lehrer vertraut wurde.
Schon während seiner Schulzeit las Halid Ziya französische Autoren im Original: die gefühlvollen Romane und Dramen Victor Hugos (1802–1885) mit ihrem komplexen
Handlungsgeflecht, Milieuromane von Eugène Sue (1804–1857), der einer der ersten Autoren von Fortsetzungsromanen in den Feuilletons französischer Tageszeitungen war, und die Abenteuergeschichten und Krimis Paul Févals (1816–1887). Halid Ziya fesselten die spannenden Romane von Frédéric Soulie (1800–1847), und begeistert wandte er sich den historischen, romantischen Romanen Alexandre Dumas’ (Vater, 1802–1870) zu. Auch die Werke von Jules Verne (1828–1905) las er mit Vergnügen, und die Klassiker Honoré de Balzac (1799–1850) sowie Gustave Flaubert (1821–1880) beeinflussten ihn maßgeblich. Er selbst begann schon als Schüler französische Literatur ins Türkische zu übersetzen.
Nach dem Ende der Schulzeit im Jahr 1883 arbeitete Halid Ziya zunächst in der Firma seines Vaters, später wurde er Französischlehrer und schließlich Übersetzer bei einer Bank in Izmir. Nachdem er schon als Fünfzehnjähriger erste Schreibversuche unternommen hatte, erschienen bereits 1883 eigene Arbeiten in Istanbuler Zeitschriften. In der Zeitung »Hizmet«, die Halid Ziya seit 1886 mit einem Freund in Izmir herausgab, veröffentlichte er zwischen 1886 und 1894 seine ersten vier Romane in Fortsetzungen. Mit Zeitschriftenartikeln beteiligte er sich an den Auseinandersetzungen zwischen den Traditionalisten und den Verfechtern der literarischen Erneuerung, die damals die türkische Literaturszene beschäftigten. In polemischen Beiträgen zum türkischen Roman stellte er den Realismus als der Romantik überlegen dar und kritisierte bekannte Literaten wie den Romancier Ahmet Mithat und den Lyriker und Journalisten Muallim Naci (1850–1893), die beide traditionelle Formen und Inhalte verteidigten und mit streitbaren Artikeln an die Öffentlichkeit traten.
1889 heiratete Halid Ziya Memnune Hanim, die Tochter des obersten Steuerbeamten der Provinz. 1902 und 1904 wurden seine Söhne Halil Vedat und Bülent geboren. In Izmir hatte sich Halid Ziya als Autor einen Namen machen können. Inzwischen hatte er auch in Istanbul, dem kulturellen Zentrum des Osmanischen Reiches, einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Als dem damals Achtundzwanzigjährigen die Stelle eines Obersekretärs bei der Monopolverwaltung in Istanbul angeboten wurde, griff er zu und zog 1893 in die Hauptstadt. Dort fand er schnell Anschluss an die führenden Literatenkreise und veröffentlichte – vornehmlich in der Zeitschrift »Servet-i Fünun« – zahlreiche eigene und aus dem Französischen übersetzte Erzählungen. Vor allem, nachdem 1896 der Dichter Tevfik Fikret (1867–1915) die redaktionelle Leitung übernommen und Literatur als neuen Schwerpunkt der Zeitschrift eingeführt hatte, war auch Halid Ziya mit vielen Artikeln, Erzählungen und Romanen dort vertreten. »Servet-i Fünun«, 1891 von Ahmet Ihsan Tokgöz (1868–1947) gegründet, wurde zum Sprachrohr der Bewegung der Edebiyat-i Cedide (Neue Literatur), und Halid Ziya war einer ihrer eifrigsten Vertreter. Hier brachte er in Fortsetzungen seine wichtigsten Romane heraus: »Blau und Schwarz« (1896–97), »Verbotene Lieben« (1898–1900) und »Zerstörte Leben« (1901–1902), mit denen er große Anerkennung fand. Die Dichter der Edebiyat-i Cedide folgten der Maxime »L’art pour l’art« und scherten sich nicht um die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit. Was die Lyrik betraf, orientierten sie sich an den französischen Symbolisten, an den Inhalten und Formen französischer Gedichte. Mit ihren Prosawerken etablierten sie neue, für die Entwicklung des türkischen Romans wegweisende Techniken. Dabei waren sie aber auch von den französischen Realisten beeinflusst und verwendeten eine künstliche, elitäre und mit zahlreichen arabischen und persischen Lehnwörtern durchsetzte Sprache. Dies trifft auch auf die Sprache Halid Ziyas in »Verbotene Lieben« zu: Lange, zu Wortgirlanden gewundene Satzgefüge, zahlreiche aneinander gereihte Genitivverbindungen, die durch sorgsam ausgewählte Adjektive zu opulenten Sprachgebilden montiert werden, sind charakteristisch für eine sich von der Alltagssprache abhebende Ausdrucksweise. Der Autor schüttet das Füllhorn seines überreichen Wortschatzes aus und lädt den Leser ein, mit ihm im Wohlklang des Sprachkunstwerks zu schwelgen. Der durch den Symbolismus inspirierte poetische Ausdruck mit seinem Bemühen um sprachliche Originalität steht bei Halid Ziya in einem gewissen Gegensatz zu der überaus detailverliebten Erzählweise, wie sie eher dem Realismus zuzuschreiben ist: Nichts passiert einfach so, bevor er nicht alle Einzelheiten des Wetters, der Kleidung, der Düfte und der Musik zusammen mit der eigentlichen Erzählsituation verschwenderisch vor dem Leser ausgebreitet hat.
Die Hoffnung der türkischen Intellektuellen, nach der Einsetzung der Verfassung (1876) und des Parlaments (1877) bald in einem freiheitlicheren Rahmen veröffentlichen zu können, wurde schon 1878 enttäuscht: Nach der Niederlage im Russisch-Türkischen Krieg suspendierte der Sultan das Parlament auf Dauer, und ein Umsturzversuch gegen den Herrscher im Mai 1878 führte zu einer Zeit verstärkter Repression. Unter der diktatorischen Herrschaft Sultan Abdülhamid II. war es den Autoren daher nicht möglich, in ihren Werken auch nur verhalten Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu üben. Auch Halid Ziya Usakligil hatte mehrfach unter der Zensur zu leiden. So musste er die Veröffentlichung seines Romans »Zerstörte Leben«, der 1901/02 in »Servet-i Fünun« abgedruckt worden war, abbrechen. Auch erlaubte ihm die Zensur nicht, seinen Roman »Sefile« in Buchform herauszubringen. Wegen eines Artikels über die indische Literatur (1894) wurde er sogar von den Sicherheitsbehörden zu einem Verhör einbestellt. Und nach 1899 wurden einige Schriftstellerkollegen Halid Ziyas aus dem Kreis um »Servet-i Fünun« wegen politischer Äußerungen aus Istanbul verbannt. Diese Umstände führten immer wieder zu Phasen, in denen der Autor nur wenig oder gar nichts veröffentlichte. Neben der politischen Situation waren aber auch Todesfälle in der Familie und seine häufig starke berufliche Belastung dafür verantwortlich, dass er sich mit dem Schreiben und Publizieren zurückhielt.
1908 wurde die Verfassung wieder eingesetzt und die Pressezensur aufgehoben. Dies wurde gleichsam als eine Aufforderung angesehen, nach mehrjährigem Schweigen dem geistigen und literarischen Leben wieder neue Impulse zu geben. Nahezu täglich wurden neue Zeitungen und Verlage gegründet. Auch Halid Ziya wurde vom Strudel dieser Entwicklung mitgerissen, denn mit einem Mal verlangte jedermann Artikel und Erzählungen von ihm.
Nachdem Sultan Abdülhamid II. im April 1909 nach dreiunddreißig Jahren Regierungszeit entmachtet worden war, übernahm Mehmet V. Resat (1909–1918) die Herrschaft. Der neue Sultan bot Halid Ziya die Stelle eines Ersten Sekretärs am Hofe an, die dieser dann dreieinhalb Jahre lang innehatte. Sein neues Amt, das auch zahlreiche Dienstreisen erforderlich machte, ließ ihm nicht viel Zeit für die schriftstellerische Arbeit. Im Jahre 1915, also mitten im Ersten Weltkrieg – das Osmanische Reich war im Juli 1914 als Verbündeter des Deutschen Reiches in den Krieg eingetreten –, wurde Halid Ziya von der Regierung auf eine achtmonatige Inspektionsreise nach Deutschland geschickt, um über den technischen und kulturellen Fortschritt im Deutschen Reich zu berichten. Er besuchte öffentliche und private Einrichtungen aller Art in fünfundfünfzig deutschen Städten und schrieb 1915–1916 eine Artikelserie über seine Reiseeindrücke, die in der Zeitung »Tanin« abgedruckt wurde. Schon 1918 brach er in Begleitung seiner Familie erneut nach Deutschland auf. Dieses Mal reiste er vierzehn Monate durch Europa.
Halid Ziya zog sich ab 1937 in sein Haus im Istanbuler Vorort Yesilköy zurück und betrieb die Herausgabe seiner Werke, die bis dahin noch nicht alle in Buchform erschienen waren. Er übernahm es selbst, einige seiner Romane sprachlich zu modernisieren. Daher steht heute eine vom Autor 1939 an das zeitgenössische Türkisch angeglichene Fassung von »Verbotene Lieben« zur Verfügung. Halid Ziya Usakligil starb am 27. März 1945 in Istanbul.
Der Autor hat ein vielfältiges, reiches Werk geschaffen. Es enthält mehr als zwanzig Bände mit Erzählungen, eine ausführliche Darstellung seiner Erinnerungen »Vierzig Jahre« in fünf Bänden und »Im Palast und außerhalb« in drei Bänden. In dem autobiografischen Bericht »Eine bittere Geschichte« (1942) geht es um den Verlust seines Sohnes Vedat, der 1937 Selbstmord begangen hatte. Halid Ziyas Werk umfasst auch Sachbücher zu Sprache und Literatur sowie zu Kunst und Theater und sechs literaturgeschichtliche Monografien – unter anderem eine Darstellung der deutschen Literatur.
Die vier frühen, in Izmir entstandenen Romane des Autors waren noch deutlich von Einflüssen der französischen Romantik geprägt. Halid Ziya schilderte die Gefühle seiner Helden aus dem Blickwinkel des Erzählers und bewertete ihr Verhalten, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung. Der vierte dieser frühen Romane, »Ferdi und seine Kameraden« (1894), enthielt bereits Merkmale des französischen Realismus. Seine Annäherung an den Realismus setzte sich mit dem in Istanbul erschienenen Roman »Blau und Schwarz«, vor allem aber mit »Verbotene Lieben« fort. Diese Annäherung zeigt sich in der realistischeren Struktur der Erzählung und im Verzicht des Autors auf eine Bewertung der handelnden Personen, ein charakteristisches Merkmal des »modernen Romans«. Dabei tritt an die Stelle der bisher üblichen, linearen Erzählung eine Erzählweise, die zwei Ebenen einbezieht: das Geflecht der Beziehungen und die Konflikte sowie deren innere Verarbeitung durch die einzelnen Personen. So reflektiert Bihter – sich nackt im Spiegel betrachtend – ihren unerfüllten Wunsch nach sexueller Befriedigung. Ähnlich stellt sich Adnan Bey seinem schlechten Gewissen, weil er selbstsüchtig seine Ehe mit Bihter durchgesetzt und damit den Bedürfnissen seiner Tochter zuwider gehandelt hat. In diesem Sinn begründete Usakligil mit »Verbotene Lieben« den modernen, realistischen türkischen Roman. Dabei enthält der Roman auch weiterhin viele Elemente einer romantischen Erzähldiktion. In »Verbotene Lieben« verbindet Halid Ziya die romantische Darstellungsweise, die sich in der Beschreibung von Liebe und Empfindsamkeit ausdrückt, mit einer am Realismus geschulten scharfen Beobachtung der fein herausgearbeiteten Charaktere. Auch die große Differenzierung in der Beschreibung des Milieus und das ausführliche Eingehen auf Äußerlichkeiten stehen für die starken Einflüsse des literarischen Realismus auf diesen Roman. Beispiele hierfür sind wirklichkeitsnahe Szenen wie die geschilderten Hochzeitsfeierlichkeiten und die genaue, sich in Einzelheiten ergehende Darstellung der Inneneinrichung in der Villa Adnan Beys oder des Zimmers, das die Tante für Nihal auf der Insel ausgestattet hat. Ungewöhnliche Neuerungen für die osmanische Literatur waren eine ausführliche Schilderung der Wetterlage und die Beschreibung der Musikstücke, die gerade gespielt wurden sowie ihr direkter Bezug zur Gemütslage der handelnden Figuren.
Definieren sich die Menschen im realistischen Roman europäischer Prägung über ihren sozialen Status, was in besonderer Weise auch auf die Nebenfiguren zutrifft, so wird man diesen für den europäischen Realismus charakteristischen Zug in »Verbotene Lieben« vermissen, da Halid Ziya auf alle Darstellungen verzichtet, die ihm als Gesellschaftskritik hätten ausgelegt werden können. Seine Zurückhaltung geht so weit, dass wir nicht einmal erfahren, womit die Personen im Roman ihren Lebensunterhalt bestreiten. Er erwähnt lediglich, dass die Damen der Sippe Melih Beys sparsam wirtschaften müssen und dass auch der Dandy Behlül nicht frei von finanziellen Sorgen ist. Dieses Phänomen ist ebenso bei weiteren Romanen und Erzählungen, die in »Servet-i Fünun« veröffentlicht wurden, zu beobachten. Tatsächlich hatten die Autoren der Edebiyat-i Cedide ja auch eine Salon-Literatur für die besseren Kreise im Sinn und interessierten sich deshalb nicht für diese Thematik.
Bihters verbotene Liebe und die sich daraus ergebenden tragischen Verstrickungen halten einige Interpreten für das zentrale Thema des Romans. Bihter versucht zwar ein ehrbares Leben zu führen, kommt jedoch nicht gegen die Macht ihrer ererbten Anlagen an. Hierin glauben türkische Kritiker der letzten Jahrzehnte den Einfluss des europäischen Naturalismus zu erkennen, dem die Vorstellung einer vermeintlichen Vorbestimmung nicht fremd ist. Zu der verbotenen Beziehung mit Behlül kommt es, weil Bihter Adnan Bey allein aus materiellen Gründen geheiratet und dabei nicht bedacht hat, dass sie sich eigentlich nach einem Ehemann sehnt, mit dem sie auch eine erfüllte Sexualität haben kann.
Es gibt andere Interpretationen, die Nihals Geschichte und ihren Versuch, der Einsamkeit zu entfliehen, als gesonderten Handlungsstrang beschreiben, weshalb sich das Werk auch als Bildungs- oder Entwicklungsroman bezeichnen ließe. Gegen diese Auffassung spricht jedoch die Tatsache, dass sich Nihal im Verlauf der Handlung im Grunde nicht entwickelt – am Ende des Romans befindet sie sich in der gleichen Situation wie am Anfang und ist glücklich, wie zuvor mit ihrem Vater zusammenleben zu können. Hierin könnte man Anzeichen eines inzestuösen Verhältnisses zwischen Vater und Tochter erkennen. Danach würde sich der Titel des Romans nicht nur auf die verbotene Beziehung zwischen Bihter und Behlül beziehen, sondern gleichfalls auf eine symbiotische, unnatürliche Verbindung zwischen Adnan Bey und Nihal. Für diese Ansicht spricht eine Szene am Ende des Buchs: Nihal führt ihren Vater zu dem Kiefernwäldchen, in dem sie erst kürzlich in einer rührenden Liebesszene Behlül ihr Jawort gegeben hat. Doch zu guter Letzt scheint eine unsichtbare Hand die beiden am Betreten des Kiefernhains zu hindern, denn diese Liebe zwischen Vater und Tochter – Nihal nimmt quasi die Stelle von Adnan Beys verstorbener Frau ein, Adnan Bey ersetzt Nihal den verflossenen Verlobten – ist auch eine »verbotene Liebe«.
Die überaus ergebene Haltung Besirs der Tochter des Hauses gegenüber gibt ebenso Anlass, an eine »verbotene Liebe« zu denken. Doch die Liebe des Sklaven und Eunuchen Besir muss unerfüllt bleiben. Indem er den Hausherrn über Bihters und Behlüls Liebschaft aufklärt, kann er Nihal wenigstens einen Liebesdienst erweisen und sie vor einer Heirat mit Behlül bewahren.
Eine fast banale Erklärung für das Nebeneinander, für das auf den ersten Blick unverbundene der beiden Haupthandlungsstränge könnten die besonderen Umstände liefern, die bei der Entstehung eines Fortsetzungsromans häufig anzutreffen sind: Wie wir von anderen Autoren wissen, die in der fraglichen Zeit beliebte Romane in türkischen Zeitschriften veröffentlichten, entwickelte sich die Handlung häufig erst beim Schreiben. Auch handfeste geschäftliche Interessen könnten der Grund dafür sein, dass ein Roman eine bestimmte Form annahm: Kamen die einzelnen Folgen gut an, dehnte man die Geschichte aus, um weitere Fortsetzungen herauszuschinden – oder die Romane fanden sehr schnell ihr Ende, wenn sie dem Publikum nicht gefielen. Zu dieser Überlegung geben auch die gelegentlichen Exkurse im Roman Anlass. Ein Beispiel hierfür sind die umfangreichen und für die osmanische Literatur der damaligen Zeit fast schon revolutionär zu nennenden Ausführungen über die Pubertät junger Mädchen, wenngleich sie uns als Beschreibung der psychischen Verfassung Nihals recht angemessen erscheinen mögen. Daher fällt es schwer, dem Autor unterstellen zu wollen, er habe sich bei der Entwicklung der Romanhandlung von Erfordernissen des tagesaktuellen Pressebetriebs leiten lassen, denn der Roman erscheint, obwohl er in Fortsetzungen veröffentlicht wurde, schlüssig durchkomponiert und stringent strukturiert.
Die Frage nach dem zentralen Thema des Romans führt letzten Endes nur zu einer eher vagen Feststellung. Bei den Figuren des Romans besteht die Hoffnung, einmal das große Glück zu erlangen. Das angestrebte, vermeintliche Glück erweist sich jedoch in allen Fällen als Illusion.
Die Uneinigkeit der Interpreten bei der Einschätzung eines so gewichtigen Klassikers, wie es der Roman »Verbotene Lieben« ist, ruft Verwunderung hervor. Eigentlich sollte das Werk inzwischen ausreichend analysiert sein. Die Leser dürfte dies kaum stören, denn der Roman ist – eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften – für viele Lesarten offen. Die Bewunderer Usakligils lassen sich, heute ebenso wie vor mehr als hundert Jahren, noch immer gern von diesem spannenden, mitreißenden Klassiker in den Bann schlagen. Denn sind es nicht gerade die Vielschichtigkeit und das Geheimnisvolle, die den Reiz dieses literarischen Meisterwerkes ausmachen?