Sie sind selbst Anwältin. Was ist abwegiger: Die Fiktion in Ihrem Roman oder die Realität in Ihrem Job?
Die Realität. Bei Weitem! Im Roman wollte ich, dass alles plausibel ist. In der Wirklichkeit erlebt man aber unglaubliche Fälle. Bei den rund achtzig Personen jeden Tag, die vor Gericht erscheinen, kommen verblüffende Geschichten vor. Vor Kurzem habe ich eine Tunesierin verteidigt, die eine Geschlechtsumwandlung wollte, weil sie genug davon hatte, wie im Islam die Frauen behandelt werden. Erstaunlicherweise ist sie, während sie sich in einen Mann umgewandelt hat, zum Islamisten geworden. Um die Operationen bezahlen zu können, hat sie Betrügereien begangen. Bis man sie gefasst hat. Wohin nun mit ihr? Im Gefängnis bei den Männern lief sie Gefahr, vergewaltigt zu werden. Bei den Frauen wollte sie auch keiner, denn sie trug einen Bart und war Islamist. Man hat sie schließlich auf freien Fuß gesetzt. Wenn ich das in einem Roman erzähle, würde jeder sagen, ich übertreibe.
Der kleine Anwalt Leibowitz kommt aus bescheidenen Verhältnissen. Wie wird man ein Spitzenanwalt, wenn man nicht aus den entsprechenden Kreisen kommt?
Unsere Reklame als Strafverteidiger ist das Gefängnis: Wenn man ein, zwei Delinquenten freibekommen hat, dann zirkuliert der Name. Nun, um an die Spitze zu kommen, gibt es mehrere Möglichkeiten: Entweder man hat ein Laster, geht in einen Sexclub oder zu Huren und sucht sich seine Klientel im Milieu. Oder man ist der große Redner: Kaum hat er den Mund aufgemacht, wollen zehntausend Leute seine Visitenkarte haben. Dann gibt es den Sohn aus wohlhabender Familie, der die Klientel vom Vater erbt. Und die letzte Kategorie der Gewinner: die Gauner. Das sind die schwarzen Schafe. In meinem Roman karikiere ich einen von ihnen.
Und zu welcher Kategorie gehören Sie?
Als Frau stehe ich außerhalb jeder Kategorie. Strafverteidiger sind in der Regel Männer, denn es ist ein Beruf, in dem man eine große Klappe braucht. Die Klienten, Männer wie Frauen, ziehen einen Mann als Verteidiger vor. Und was die Geschworenen betrifft, so muss man sich nichts vormachen, die Frauen lassen sich von einem Mann eher erweichen. Und auch die Männer. Ich bin die Erste, die das bedauert, aber man macht diese Arbeit nicht, um die Lage der Frau zu verbessern, wirklich nicht. Wir verteidigen einfach einen Klienten.
Warum haben Sie diesen Beruf gewählt?
Ich mag Menschen. Die Extreme zeigen einem viel über sich selbst. Man kann nicht jemanden verteidigen und Distanz bewahren, man muss sich in den Dieb, den Pädophilen, den Vergewaltiger, den Gewalttäter hineinversetzen können. Man selbst unterscheidet sich gar nicht so sehr von den anderen. Aber ich habe meine Grenzen: Ich kann zum Beispiel keine Autoraser verteidigen. Vergewaltiger hingegen verteidige ich, bis zu einem Punkt, an dem ich vergesse, dass ich eine Frau bin. Letztlich versteht man immer die sexuelle Frustration. Wirkliche Schweine gibt es nur wenige. Ich bin in meinem Leben nur vier oder fünf begegnet.
Aus: Nova, November 2004