Nachwort zum Roman »Der Dämon in uns« von Sabahattin Ali
Sabahattin Alis Kinder- und Jugendjahre waren geprägt von den turbulenten Ereignissen einer Umbruchzeit. Die Jungtürkische Revolution (1908), der Balkankrieg, der Erste Weltkrieg, der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, der Kampf um die nationale Unabhängigkeit, die Gründung der Republik (1923) und die erste hitzige Reformphase unter Gazi Mustafa Kemal (Atatürk) – das alles erlebte er nicht im geschützten Raum eines traditionellen Elternhauses, sondern als Sohn eines Offiziers, der in seiner aktiven Zeit ein unruhiges Leben führen musste und, als er den Dienst quittiert hatte, in verschiedenen Berufen seine Familie recht und schlecht durchzubringen versuchte. Sabahattin Ali ist nur einundvierzig Jahre alt geworden, doch seine Biografen haben bis heute Schwierigkeiten, seinen Lebenslauf zu rekonstruieren.
Über seinen Geburtsort und das Geburtsjahr war man sich lange uneins; in den neuesten Nachschlagewerken findet sich die Angabe: geboren am 25. Februar 1907 in Igridere bei Gümülcine in Nordgriechenland. Er erblickte das Licht dieser »ruinösen Welt« (so der Autor selbst in einer Gedichtzeile) also im rumelischen Bezirk Edirne, wo sein Vater stationiert war und die 14-jährige Offizierstochter Hüsniye geheiratet hatte. Diese Ehe, aus der drei Kinder hervorgingen, war nicht glücklich. Den ältesten Sohn hatte der Vater nach dem osmanischen Prinzen Sabahattin, einem Verfechter der föderalistischen Neuorganisation des osmanischen Vielvölkerstaates, benannt. Sabahattin verehrte seinen gebildeten, modern denkenden Vater, der zu den reformfreudigen Offizieren gehörte, die gegen Sultan Abdulhamid revoltierten. Seine nervöse, streitsüchtige Mutter, die seinem Vater das Leben zur Hölle machte, konnte er aber nur schwer ertragen. Es gab eigentlich nie für längere Zeit einen festen Lebensmittelpunkt der Familie. Entweder nahm der Vater sie mit in die Garnisonsstädte – Sabahattin erinnert sich an den Artilleriebeschuss von den Schiffen der Alliierten in Çanakkale im Ersten Weltkrieg –, oder die Familie fand Unterschlupf bei Verwandten, so etwa in Edremit bei Angehörigen der Mutter. Sabahattin konnte sich nirgends heimisch fühlen. Er besuchte die Schule an verschiedenen Orten; in Istanbul/Üsküdar, Canakkale, Izmir und Edremit. Als er zum Studium nach Istanbul gehen sollte, waren noch die alliierten Besatzer in der Sultansstadt, während in Ankara schon die nationale Gegenregierung unter Mustafa Kemal wirkte. Deshalb ging er 1922 nach Balikesir auf die Lehrerbildungsanstalt. Dort muss er auch die Ausrufung der Republik 1923 erlebt haben. Noch während seines Studiums (1926) starb sein geliebter Vater. Das letzte Studienjahr absolvierte Sabahattin in Istanbul, wo er 1927 das Lehrerexamen ablegte.
Ein neuer Lebensabschnitt begann: das Berufsleben. In der republikanischen Hauptstadt Ankara lebte ein Onkel mütterlicherseits als angesehener Chirurg und hatte gute Beziehungen zu hohen Beamten. Als ihm die Leitung des staatlichen Krankenhauses in der Provinzstadt Yozgat übertragen wurde, sorgte er dafür, dass sein Neffe dort seine erste Lehrerstelle antreten konnte. Gerade für dieses Jahr, das eine entscheidende Zäsur in Sabahattins Lebensweg bedeutet, haben wir zwei Dokumente vorliegen, die sehr aufschlussreich sind. Kurz bevor er nach Deutschland zum Sprachstudium aufbricht, resümiert er während der Schulferien im Jahre 1928 in Briefen an seine Studienfreundin Mehpare sein bisheriges Leben. Er bietet eine Art Auto-Psychogramm, in dem er seine seelische Verfassung unerbittlich analysiert. Diese Selbstentblößung erinnert uns an Ömer, die Hauptfigur unseres Romans »Der Dämon in uns«. Als Gegenstück zu diesem intimen, autobiografischen Text werfen die Erinnerungen, die sein Vetter Resit Ertüzün im Rückblick verfasst hat, der als etwa 11-Jähriger den 21-jährigen Sabahattin im elterlichen Haus in Yozgat hautnah erlebte, Licht auf die äußere Erscheinung und das soziale Verhalten des jungen Lehrers und Autors. In diesen beiden sich ergänzenden Texten finden wir alle typischen Charakterzüge und Verhaltensweisen bereits ausgeprägt, die in den Erinnerungen seiner Freunde und Bekannten aus verschiedenen Lebensphasen leitmotivisch anklingen. Die Erinnerungen Resit Ertüzüns lassen keinen Zweifel: Sabahattin hatte sich damals schon mit Haut und Haaren der Literatur verschrieben. Er war in die Welt der Geschichten eingetaucht. Geschichten, die er erfand, erlebte, erlitt, erzählte und aufschrieb. Er war nie ohne ein Buch unter dem Arm anzutreffen, und er konnte sich, ohne seine Umwelt zu beachten, hinsetzen und in sich versunken lesen oder schreiben. Nur diese seltene Fähigkeit zur Konzentration verhalf ihm dazu, dass er trotz seines unruhigen Lebens so produktiv sein konnte. Es erscheint wie ein Widerspruch, aber er brauchte ebenso dringlich ein Publikum. Er wollte seine Geschichten erzählen und seine Gedichte vortragen. Dabei genügte ihm schon der kleine, aufgeweckte Resit, der sich sehr viel später, als er die Yozgater Zeit mit Sabahattin im Kopf rekapituliert, an viele Details genau erinnert. So z. B. an eine Geschichte, die publiziert vorliegt: »Das Motiv eines Verbrechens« (»Bir Cinayetin Sebebi«), in der ein junger Mann einen Mord begeht, um die Aufmerksamkeit einer geliebten Frau auf sich zu ziehen; oder an ein unveröffentlichtes Romanfragment unter dem Titel »Die Ohrfeige« (»Tokat«), das eine Inzestliebe zwischen Geschwistern behandelt. Auf den 11-jährigen Resit wirkten diese skandalösen Geschichten, die sein Vetter ihm erzählte, verstörend. Aber Sabahattin legte es sein Leben lang darauf an, andere zu überraschen und zu erschrecken. Resit beobachtete verwundert, wie unterhaltsam sein Vetter sich bei den Abendeinladungen der Provinzhonoratioren zeigte, zu denen sein Vater als Chef des staatlichen Krankenhauses zweifellos gehörte. Sabahattin konnte ganz unbefangen mit jedermann Freundschaft schließen, die sehr rasch zur herzlichen Vertrautheit führte. Bei den beliebten Gesellschaftsspielen verstand er zu scherzen, seine Witze trafen ins Schwarze, die Pointen brachten die Gäste zum Lachen, ebenso seine Fähigkeit, andere durch Nachahmung ihrer Mimik und Gestik zu karikieren. Fehlte er bei diesen Einladungen, fanden alle sie fad und langweilig. Resit publiziert auch ein Foto aus dieser Zeit, das einzige von Sabahattin ohne Brille, wie er im Kreise der Freunde sitzt, in das Kostüm eines Efe – eines westanatolischen Dorfhelden – für ein Fest gekleidet. Sabahattin liebte Verkleidungen und Mimikry. Er war damals auch von einer romantischen Liebe zu einer verheirateten Frau besessen, die für Gesprächsstoff in Yozgat sorgte und in Gedichten ihren Niederschlag fand. Man dürfte eigentlich vermuten, dass dieses Yozgater Jahr für den jungen Lehrer doch ganz erfreulich verlaufen war. Aber die Briefe an Mehpare offenbaren, dass er das Leben in der Provinz eigentlich verabscheute und sich in einer jämmerlichen seelischen Verfassung befand. Inzwischen war sein Onkel wieder nach Ankara gezogen, um in der neuen Hauptstadt die erste Privatklinik zu eröffnen. Auf der Durchreise nach Istanbul kehrte Sabahattin bei seinen Verwandten in Ankara ein. Bei einem Treffen mit einem Beamten aus dem Erziehungsministerium äußerte er witzig und provokativ, dass er auf keinen Fall nach Yozgat zurückkehren, sondern sein Glück in Moskau versuchen möchte. Daraufhin schlägt ihm sein Gesprächspartner vor, er könne doch zum Studium nach Deutschland gehen. Sabahattin geht darauf ein, und nach einer Eignungsprüfung erhält er ein Stipendium für ein fünfjähriges Sprachstudium in Deutschland. Während seines Istanbuler Studienjahrs 1927 hatte er Freunde gewonnen, unter denen Pertev Naili Boratav ihm sein Leben lang die Treue hielt. Boratav wurde der bekannteste Volkskundler der Türkei und emigrierte später nach Paris. Boratav war nicht nur ein unerschütterlicher Freund Sabahattin Alis, sondern auch ein objektiver Kritiker und Kommentator seiner literarischen Werke. Zu Sabahattins Freunden aus der Studienzeit gehörten auch Nihal Atsiz und Orhan Saik Gökyay, die dem turanistischen bzw. rechtskonservativen Lager zuzurechnen waren. Die Freundschaft mit ihnen ging später in die Brüche. In seinen Briefen an die Studienfreundin Mehpare analysiert Sabahattin selbst seinen schwierigen Charakter, der durch Widersprüche und Schwankungen seine Mitmenschen irritierte. Er macht seine unglückliche
Jugend dafür verantwortlich, in der er weder mütterliche Zärtlichkeit noch geschwisterliche Zuneigung, ja überhaupt keine wahre Herzensliebe erfahren habe. Aus allen Lebenskatastrophen, die andere ins Irrenhaus gebracht hätten, habe er sich in Unausgeglichenheit und Zerrissenheit retten können. Die Schmerzen hätten sein Herz vernarben lassen, es schmerze unter der Narbe, er schreie aber nicht. Er selbst definiert, was andere immer wieder beobachten, den Widerspruch zwischen seinen Worten und seinen Handlungen. »Mein Herz und mein Verstand sind seltsame Wesen, die nichts voneinander wissen. Wenn mein Verstand mir sagt, ich solle etwas nicht tun, tue ich es gerade … Ich kann nicht vermeiden, Qualen zu leiden, aber ich kann sie vor anderen verbergen. Niemand schaut in mein Inneres, niemand kann mich verstehen … Warum gibt die Natur jemandem, dem sie einen solchen Verstand gegeben hat, nicht ein noch stärkeres Herz?« Solche selbstquälerischen Töne hören wir zehn Jahre später von Ömer, dem Helden in »Der Dämon in uns«. Sabahattin reflektiert in einem Brief an Mehpare auch seine Wirkung auf andere Menschen. Er weiß, dass seine Fröhlichkeit, seine ausgefallenen Ideen und seine poetische Kreativität zunächst anziehend wirken können, aber oft als Geschwätzigkeit, Hemmungslosigkeit und dumme Witzeleien ausgelegt werden. Er spricht selbstkritisch von seiner Possenreißerei, Verrücktheit und Frechheit. Es gebe nur wenige Freunde, die ihn länger ertragen könnten, die aber liebe er von ganzem Herzen. Mit diesen Freunden trifft er sich an den letzten Tagen vor seiner Abreise nach Deutschland in Istanbul. Boratav berichtet von einem lustigen Abend, den sie gemeinsam verbringen. Sabahattin verbirgt wieder einmal seine Qualen hinter einer fröhlichen Maskerade. Er bringt seine Gefährten zum Lachen, indem er, sein Jackett über die Schultern gehängt, die Melone schief auf den Kopf gesetzt, als sei er betrunken, über die belebte Einkaufsstraße Divanyolu torkelt und übermütig nach allen Seiten grüßt.
Auch sein weiterer Lebensweg sollte sprunghaft und unstet verlaufen. Seinen Aufenthalt in Deutschland, der für fünf Jahre geplant war, bricht er nach eineinhalb Jahren ab. Hatte er das Türkentum gegenüber provokanten Äußerungen deutscher Kommilitonen allzu heftig verteidigt, diese Version erzählt er Nihal Atsiz, oder war er wegen kommunistischer Neigungen in Deutschland unerwünscht, das deutet er gegenüber linken Freunden an – der Grund dafür bleibt bis heute ungeklärt. Bekannt ist, dass er marxistische und andere linke Schriften in die Türkei mitbrachte. Zurück in Ankara 1930 erhält er nach einer Zusatzprüfung die Lehrbefugnis für Deutsch. Er muss wieder in die Provinz. Doch Sabahattin verbringt alle Ferientage in Istanbul. Dort verkehrt er in der Literaturszene, in der Nazim Hikmet, der zwei Jahre zuvor aus Moskau zurückgekehrt war, eine tonangebende Rolle spielt. Nazim war damals offiziell als Lektor in der Redaktion der Zeitschrift »Resimli Ay« des Ehepaars Sertel angestellt und scharte die jungen Autoren um sich. Dabei versuchte er, sie nicht nur in die Richtung des sozialen Realismus zu drängen, sondern auch für den Sozialismus zu gewinnen. Sabahattin Alis frühe Gedichte und Erzählungen trugen eher romantische und mystische Züge, er begann nun – wohl unter dem Einfluss Nazims – immer mehr Wert auf den Realismus und die soziale Komponente seiner Geschichten zu legen. Aber er publiziert seine frühen Erzählungen nicht nur im »Resimli Ay«, sondern auch in der Zeitschrift »Atsiz« seines Freundes Nihal Atsiz. Zunächst wird Sabahattin als Lehrer nach Aydin geschickt. Wegen angeblicher kommunistischer Propaganda denunziert, sitzt er drei Monate im Gefängnis. Versetzt nach Konya, kommt es dort zu einem Eklat, weil er auf einer Gesellschaft eine Satire auf die herrschende Clique in Ankara rezitiert, wobei auch der Staatspräsident Gazi Mustafa Kemal (Atatürk) beleidigt wird. Sabahattin wird zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt, aber am 29. Oktober 1933 anlässlich des 10. Jahrestages der Republik begnadigt. Er braucht nun aber einen Brotberuf und muss rehabilitiert werden. Sein Freund Niyazi Berkes trifft ihn zufällig in Ankara in einem Sammeltaxi. Vor Berkes neben dem Fahrer sitzt ein eleganter Herr in Pelzmantel mit Melone und Goldrandbrille. Als dieser sich umdreht und sie sich lachend zu erkennen geben, gesteht ihm Sabahattin, dass er in dieser Verkleidung auf dem Weg zum Erziehungsminister sei. Dieser verlangte von ihm ein Lobgedicht auf den Staatspräsidenten. Das Gedicht »Meine Liebe« (»Benim Askim«) wurde im Januar 1934 in der Zeitschrift »Varlik« publiziert. Dieser Vorgang wird von Freunden und Feinden kontrovers diskutiert. Aber vielleicht war dieses Lobgedicht in seinem Überschwang ja gerade auch eine Satire. Jedenfalls standen ihm in den nächsten Jahren verschiedene berufliche Positionen in Ankara offen: als Angestellter im Erziehungsministerium, als Deutschlehrer an Schulen, als Türkischlehrer an der Musikhochschule und als Dolmetscher für den Dramaturgen Carl Ebert, einen österreichischen Emigranten, am Staatlichen Konservatorium. Das Jahrzehnt zwischen 1934 und 1945 war die produktivste Schaffensphase seines Lebens. 1935 heiratet er Aliye, die er in Istanbul kennen gelernt hat. 1937 wird ihre Tochter Filiz geboren. Die Dachwohnung in der Karanfilstraße mit der umfangreichen Bibliothek wird zum Treffpunkt für die Ankaraner Intellektuellen und Literaten jeglicher Couleur. Seine Manie, mit jedem auf gutem Fuße stehen zu wollen, verwirrte oftmals seine engen Freunde. Denn überall lauerten Spitzel und Denunzianten. Sabahattin Ali war ein besonders sensibler Typus seiner Generation. Es ging ihm wie seinem Alter Ego Ömer in »Der Dämon in uns«, der klagt, dass es keine geistige Strömung gebe, die einen von ihrer Wahrheit überzeugen könne. Die älteren Literaten, wie Halide Edip Adivar und Yakub Kadri Karaosmanoglu, gehörten zu den Kemalisten der ersten Stunde. Das nicht immer ungetrübte Verhältnis zu dem Staatsgründer Atatürk änderte nichts daran, dass sie den Helden des Unabhängigkeitskampfes verehrten und seine Reformen unterstützten. Dagegen ging der jüngeren Generation (mit Nazim Hikmet als Idol) die »Revolution« von oben nicht weit genug. Unter dem Einfluss sozialistischer Ideen sahen sie die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung besonders kritisch. Aber auch der staatlich verordnete Nationalismus ohne turanistische (großtürkische) Elemente fand unter den extremen Rechten, die Nazideutschland bewunderten, keinen Anklang (z. B. Nihal Atsiz). Nach dem Kurdenaufstand unter dem Naqsibandi-Scheich Sait im Osten 1925 kam es zum Ausnahmezustand und zu vielen restriktiven Maßnahmen, die die freie Meinungsäußerung beträchtlich einschränkten. Atatürk wollte die territoriale Integrität, die Unabhängigkeit der Republik bewahren und die Säkularisierung vorantreiben. Er pflegte zwar gute diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion, aber die kommunistische Ideologie fürchtete er. Unter diesen Umständen war die Atmosphäre für die Intellektuellen prekär. Vor allem weil auch manche der mächtigen Funktionäre und Politiker der Republikanischen Volkspartei sogar loyale Kemalisten verdrängten, und der Geheimdienst zu einer unheimlichen Instanz der Gesinnungsschnüffelei wurde. Im Rückblick auf die frühe Republikzeit bescheinigten systemkritische Linksliberale, wie das Ehepaar Sabiha und Zekeriya Sertel, Herausgeber der Zeitschriften »Resimli Ay« und »Tan«, Atatürk, der 1938 gestorben war, dass er eigentlich ein »wohlwollender Diktator« gewesen sei. »Wir konnten unsere Kritik offen vortragen. Nazim Hikmet schrieb seine revolutionären Gedichte in seiner Epoche.« Hasan Ali Yücel, ein loyaler Kemalist, der unter den Parteifunktionären viele Gegner hatte, war 1938–1946 unter Inönü Erziehungsminister. Ihm gelang es, in Ankara eine intellektuelle Elite um sich zu sammeln und wichtige kulturelle Projekte zu verwirklichen. Dazu gehörte das Übersetzungsbüro, das eine Reihe abendländischer Klassiker herausbrachte. Unter seiner Ägide fertigte Sabahattin Ali einige Übersetzungen aus dem Deutschen an, u. a. auch »Antigone« von Sophokles, und gewann unter den »türkischen Humanisten«, die den Nationalismus auf das antike Erbe Anatoliens gründen wollten und die Dorfinstitute und später die Blauen Fahrten in der Ägäis ins Leben riefen, einen Freundeskreis für sich und seine Familie. Mediha Berkes nennt diese Zeit der Zusammenarbeit unter Hasan Ali Yücel die »glücklichsten Jahre in Ankara« für die befreundeten türkischen Intellektuellen.
Sabahattin Ali war, wie viele Literaten, ständig unterwegs zwischen den beiden Kulturzentren der Türkei, Ankara und Istanbul. In Ankara hatte er einen Brotberuf gefunden, aber es zog ihn immer wieder nach Istanbul, wo die literarische Szene ungezwungener war und man mehr Publikationsmöglichkeiten hatte. Er pflegte auch seine Kontakte mit dem Kreis der Linksintellektuellen unter den Sertels. Sabiha Sertel behauptet, Nazim habe Sabahattins Talent erkannt und ihn zum Romanschreiben ermuntert. Als sein erster Roman »Yusuf aus Kuyucak« (»Kuyucakli Yusuf«) in ihrer Druckerei produziert wurde (1936/37), habe Nazim den Fortgang neugierig verfolgt, und sie habe in seinen Augen einen Ausdruck von Freude blitzen sehen, so als wollte er sagen: »Diesen Romanautor habe ich geschaffen.« Kurz vor Atatürks Tod 1938 wurde Nazim wegen kommunistischer Propaganda zu dreißig Jahren Haft verurteilt (er wurde 1950 begnadigt und emigrierte in die Sowjetunion). Auch im Gefängnis blieb er die graue Eminenz und der große Mentor der türkischen Literatur. Hasan Ali Yücel ließ ihn sogar auf Staatskosten Übersetzungen anfertigen. Sabahattin hat aber wohl immer eine gewisse Distanz zu Nazim bewahrt. Erst 1943 nahm er wieder Kontakt mit ihm auf. Er schickte ihm seinen Erzählband »Die neue Welt« (»Yeni Dünya«) und seinen dritten Roman »Die Madonna im Pelz« (»Kürk Mantolu Madonna«), der gerade erschienen war. Nur die Antwortbriefe Nazims sind erhalten. Sie zeigen, dass dieser immer noch große Hoffnungen darauf setzte, Sabahattin Ali neben Kemal Tahir und Orhan Kemal, mit denen er im Gefängnis über ihre Werke diskutierte, zum realistischen Schriftsteller in seinem Sinne zu erziehen. Er schrieb ihm, er sei, was die Erzählungen und Romane angehe, der einzige wirkliche Avantgardist der türkischen Literatur und müsse unbedingt eine Führungsrolle übernehmen. Doch Nazim, der große Lehrmeister, verteilte nicht nur Lob, sondern übte auch vorsichtig Kritik. Den Roman »Die Madonna im Pelz« habe er nur zur Hälfte genießen können, beim zweiten Teil habe er sich geärgert, es fehle die soziale Realität. Sein Erzählband »Die neue Welt« enthalte viele gute Geschichten, aber es stünden immer nur arme Bauern und Landarbeiter oder das Lumpenproletariat im Mittelpunkt, man müsse in der türkischen Literatur endlich auch das Schicksal der echten Proletarier, der Fabrikarbeiter, behandeln. Er hielt ihm den begabten Sait Faik als warnendes Beispiel vor, der nicht wisse, was er wolle und keine Verantwortung übernehme. Nazim fürchtete, dass die türkische Literatur thematisch in die sozialromantische Anarchie abgleiten könnte. Sabahattin war nie ein dogmatischer Sozialist, obwohl er die Marx’schen Schriften gelesen hatte. Ihn interessierten die Randfiguren der Gesellschaft, Vagabunden und Zigeuner. Sabahattin beschreibt Ereignisse, die immer auf einer realen Geschichte basieren. Er hält die Außenseiter, zu denen er sich hingezogen fühlt, für naturnäher und reiner, unverdorben vom seelenlosen Leben der herrschenden städtischen Schicht der Bürokraten und Parteibonzen, die die Augen vor dem Elend des Volkes verschließen und von einer klassenlosen Gesellschaft faseln. Der Literaturwissenschaftler Berna Moran vermutet, Sabahattin Alis Ideal sei die Figur des »edlen Wilden«.
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die politische Situation in der Türkei. Es gab Bemühungen, die Einparteienherrschaft zu überwinden. Unter dem Einfluss der USA sollte sich die Türkei zu einer Demokratie entwickeln. Doch die Kommunistenfurcht trieb seltsame Blüten. Die öffentliche Meinung wurde gegen alle Journalisten und Intellektuelle aufgewiegelt, bei denen man eine kommunistische Gesinnung vermutete. Im Dezember 1945 wurde die Redaktion der Zeitung »Tan« des Ehepaars Sertel in Istanbul niedergebrannt. Sabahattin Ali wurde im Dezember 1945 aus seinen beruflichen Positionen in Ankara entlassen. Auch Hasan Ali Yücel verlor sein Amt als Erziehungsminister. 1946 wurde die Demokratische Partei gegründet, ebenso entstanden zwei verschiedene sozialistische Parteien. Auch Sabahattin Ali und seine Freunde hofften nun auf eine Lockerung der Meinungs- und Pressefreiheit. Doch die Hoffnungen der Linken wurden sehr bald enttäuscht, die sozialistischen Parteien noch im gleichen Jahr aufgelöst. Nazim Hikmet saß weiter im Gefängnis. In seinen letzten drei Lebensjahren wurde Sabahattin zermürbt durch wiederholte Verbote der erfolgreichen Zeitschrift »Marko Pasa«, die er gemeinsam mit dem jungen Aziz Nesin herausgab. Wie auch Aziz Nesin und andere Linke wurde Sabahattin Ali immer wieder wegen regierungskritischer Artikel in Prozesse verwickelt, saß kurzfristig im Gefängnis und sorgte sich um den Lebensunterhalt seiner Familie, die in Ankara geblieben war. Sein letzter Erzählband »Der Glaspalast« (»Sirca Kösk«) erschien 1947 und wurde gleich verboten. In den Märchen und Legenden, die in diesem Band enthalten sind, geht er am weitesten mit seiner kommunistischen Utopie. Sabahattin entschloss sich 1948, als Transportunternehmer sein Brot zu verdienen, und kaufte einen Lastwagen. Er gab guten Freunden zu verstehen, er wolle ins Ausland. Am 16. Juni 1948 wurde sein Leichnam an der bulgarischen Grenze gefunden. Die Öffentlichkeit erfuhr erst Monate später davon. Ein Mann, den er angeblich als Dolmetscher mitgenommen hatte, gestand, Sabahattin Ali am 2. April in Kirklareli ermordet zu haben. Der Mörder kam 1950 wieder frei. Obwohl es inzwischen andere mögliche Szenarien gibt, waren und sind die meisten seiner Freunde überzeugt, dass die Geheimpolizei Sabahattin Ali töten ließ. Seine Bücher durften nicht mehr gedruckt werden. Erst im Jahre 1965 begann der Bilgi-Verlag seine sämtlichen Werke herauszugeben.
Sabahattin Alis zweiter Roman »Der Dämon in uns« (»Icimizdeki Seytan«), 1939 zunächst in der regierungstreuen Ankaraner Zeitung »Ulus« als Fortsetzungsroman abgedruckt, erschien 1940 als Buch beim Istanbuler Remzi-Verlag. Nazim Hikmet schreibt dem Autor 1943 aus dem Gefängnis ganz beiläufig, er habe den Roman mit Vergnügen gelesen, die Polemik des Vaterlandsverräters gegen das Buch (er meint die Broschüre des »faschistischen« Turanisten Nihal Atsiz) mit Widerwillen. Diese lakonische Äußerung deutet darauf hin, dass Nazim das Werk im Gegensatz zu Sabahattin Alis erstem Roman, dem realistischen Provinzroman »Yusuf aus Kuyucak«, nicht übermäßig schätzte. »Der Dämon in uns« ist ein Istanbuler Intellektuellenroman. Hier fehlen die Figuren der unteren Schichten, die Nazim in einem gesellschaftskritischen Roman suchte. Der Held Ömer ist eine Projektionsfigur des Autors, wobei die biografischen Fakten leicht verfremdet sind. Er ist der Repräsentant der ruhelosen Generation ohne Gott und Tradition, deren intellektuelle und seelische Identitätskrise er erleidet. Sein Hang zur Introspektion, den der Autor in den Briefen an Mehpare auskostet, führt ihn hier zum »psychologischen Realismus«, wie es Boratav genannt hat. Für uns ist der Schlüsselromancharakter des Werkes, auf den Atsiz in seiner polemischen Broschüre eingeht, kaum von Belang. Die Figuren der Künstler- und Gelehrtenszene gehen auf reale Vorbilder zurück. Nihal Atsiz enthüllte ihre Identitäten und entdeckte sein eigenes Porträt in Ömers Freund Nihat mit seinen verstiegenen turanistischen Weltherrschaftsfantasien. Alle Figuren in Sabahattin Alis Erzählungen sind aus dem realen Leben gegriffen. Er war stolz auf seine »wahren« Geschichten. Sein Freund Boratav bestätigt, dass Alis Geschichten meistens auf eigenen Erlebnissen und wahren Begebenheiten beruhten. Oft war er Zeuge. Man darf wohl davon ausgehen, dass in »Der Dämon in uns« die inneren Monologe Ömers, die Dialoge zwischen den ungleichen Freunden Ömer und Nihat, die Kaffeehausgespräche der Literaten und Bedris gesellschaftskritische Belehrungen den wirren Zeitgeist »realistisch« widerspiegeln. Das Innenleben der Protagonisten und die intellektuellen Spiegelfechtereien stehen zwar im Mittelpunkt des Romans, doch auch die Atmosphäre der öffentlichen Räume, in denen die Künstler und Intellektuellen sich bewegen, ist präsent. Die ausführlichen Beschreibungen der Musikveranstaltung in dem Gartenlokal, wo plötzlich Macides früherer Musiklehrer Bedri am Piano auftaucht, sowie der Soiree des Wohlfahrtsvereins mit den szenischen, literarischen und musikalischen Darbietungen und der anschließenden Sauftour der Clique nach Büyükdere sind Kabinettstücke besonderer Art. Auch gesellschaftskritische Exkurse fehlen nicht: So bietet Sabahattin Ali einen Einblick in das Leben der Provinzhonoratioren von Balikesir, zu denen die Familien Ömers und Macides gehörten. Der soziale Wandel, der sich vollzieht, weil die zentrale Wirtschaftspolitik diese einst begüterten Kreise verarmen lässt, wird am Schicksal von Onkel Galip und Tante Emine deutlich. In der Passage über Macides Schuljahre zeichnet der Autor mit wenigen Strichen ein Bild der Schwierigkeiten, die das neu eingeführte koedukative Schulsystem für die traditionelle Gesellschaft mit sich brachte. Die Episode mit Hafiz Hüsamettin, dem Kassierer bei der Post, an der der Philosophiestudent Ömer ein geringes monatliches Salär verdient, bringt Krimieffekte ins Geschehen.
Doch eigentlich ist es die anrührende Geschichte von Ömer und Macide, die in dem Roman den Spannungsbogen hält. Sie beginnt auf dem Bosporusdampfer wie viele volkstümliche Liebesromane mit der zufälligen Begegnung des füreinander bestimmten Paars. Ömer weiß blitzartig, dass er die Geliebte bereits aus dem präexistenten Urgrund des Seins kennt. Eine Vereinigung mit ihr birgt für ihn die Chance einer Neugeburt, das heißt, seine durch die seelenlose und lügenhafte Gesellschaft geprägte, zerrissene Persönlichkeit auszulöschen. Ömer, der zu ihr wie Mecnun, der klassische Liebesheld, in verrückter Liebe entbrennt, gelingt plötzlich die Einheit von Denken und Fühlen, Reden und Tun, nach der er sich immer gesehnt hat. Er schüttet der Geliebten das Herz aus, die Worte sprudeln aus ihm hervor, sie blickt verzückt auf seine Lippen, betört von der Offenheit und Aufrichtigkeit seiner Rede. Der Höhepunkt dieser magischen Phase ist die Bootsfahrt auf dem Bosporus im Mondschein, als sie wie in einem mystischen Akt mit der Natur verschmelzen. Ihre spontane Heirat, nicht wirklich mit Dokumenten besiegelt, erscheint ihnen fraglos wie ein Bund für die Ewigkeit. Für kurze Zeit erleben sie ihre Liebe in einem Kokon versponnen inmitten einer großstädtischen Umwelt. Doch Ömer kann eine feste Bindung nicht ertragen, er möchte auf seine anarchische Ungebundenheit nicht verzichten. Macide aber, das Mädchen aus der Provinz, ist durch Schulbildung, Romanlektüre und ihr Studium am Konservatorium zu einer modernen jungen Frau sozialisiert. Natürlich, selbstbewusst und willensstark begegnet sie den Blicken der Männer. Sie erträumt sich ein wahreres Leben, als ihr in der rückständigen Provinz bestimmt ist. Auch Ömers Freunde, die aufgeblasenen, aufdringlichen Typen der Istanbuler Intellektuellen- und Künstlerszene, sind ihr instinktiv zuwider. Ömer ringt bald wieder mit seinem bösen Dämon, den er fürchtet und dem er gehorcht, bis er schließlich nach vielen Enttäuschungen erkennt, dass er sich nur seiner Faulheit und Willensschwäche ausgeliefert hat. Er zieht von dannen, um endlich ein wahrhafter Mensch zu werden, und vertraut die geduldige Macide, die er oft beleidigt und verletzt hat, Bedri an. Bedri und Macide verbindet eine scheue, unausgesprochene Zuneigung, die der Lehrer und die Schülerin einst in Balikesir nur durch ihre Blicke erfahren hatten. Auch Bedri, der positive Held des Romans, der Einzige, der seine Identität gefunden hat, ist eine Projektionsfigur Sabahattin Alis, sein ideales, besseres Selbst, das erst noch gewonnen werden muss. Bedri tröstet Macide mit der Vision von einer zukünftigen Welt, in der Menschen leben werden, die durch den inneren Kampf des Individuums, wie ihn Ömer nun führen will, zu vollkommenen Persönlichkeiten heranreifen. Nur so könne eine bessere Gesellschaft aufgebaut werden, in der es gerecht zugeht. Die Polemik von Nihal Atsiz, die kurz nach Erscheinen des Romans noch im selben Jahr herauskam, erregte die Gemüter. »Der Dämon in uns« wurde zunächst als politischer Schlüsselroman gelesen, in dem die Ideen und Methoden der turanistischen Rassisten, die damals mit Nazideutschland sympathisierten, je nach Einstellung des Lesers, diffamiert bzw. demaskiert wurden. Ein ideologischer Kampf wurde geschürt, der drei Jahre nach Erscheinen des Romans erneut heftig aufflammte, als Atsiz eine andere Schrift gegen die Turanisten mit »Der Dämon in uns« in Verbindung brachte und Sabahattin Ali als Kommunisten denunzierte, worauf Sabahattin gegen Atsiz eine Beleidigungsklage einreichte. Die Vorgänge sind alle gut dokumentiert und zeigen, wie unauflösbar Sabahattins Leben mit seinem Werk verknüpft ist. Es kam zu einem Prozess, in dem über Gesinnungen verhandelt wurde. Damals begann die Polarisierung der Ideologien, die sich in all den Jahrzehnten danach fortsetzen sollte und zu blutigen Straßenkämpfen führte. Da es keine kommunistische Parteiorganisation gab, wurden alle Gesellschaftskritiker und Humanisten, die der reinen Menschlichkeit und nicht ausdrücklich dem Türkentum huldigten, einer kosmopolitischen, kommunistischen Gesinnung verdächtigt. So spricht Atsiz in seiner Polemik von dem »Opium der Menschlichkeit« (insaniyet afyonu), das Sabahattin Ali dem Volk einflößen wolle, um damit den türkischen Nationalismus zu vergiften. In dem Roman wurden nach der Meinung von Atsiz auch die traditionellen Normen der türkischen Gesellschaft verletzt, denn nach deren geltenden Moralvorstellungen seien doch die zentralen Figuren des Werkes, die »guten Menschen« Ömer, Bedri und Macide, zwei Hahnreie, und eine Hure. Das Selbstbewusstsein einer jungen, modernen Frau, wie Macide sie verkörpert, die sich auch in ihrer Liebe nicht den Konventionen beugt, galt damals immer noch als unziemlich und verdammenswert. Dass diese Problematik bis heute aktuell geblieben ist, liegt auf der Hand. In ihrer Kritik zu »Der Dämon in uns« lobte Suat Dervis, die selbst einige sozialkritische Romane geschrieben hatte und sich zum Sozialismus bekannte, dass Sabahattin Ali in seinem Roman die Gefahr der turanistisch-faschistischen Bewegung so drastisch dargestellt habe, aber sie kritisierte, ganz im Sinne Nazims, dass die Handlung auf einer Kette von Zufällen beruhe und nicht die gesellschaftlichen Ursachen der Krise, sondern nur der geistige Zustand von Individuen beschrieben werde. Sie monierte auch Ömers Willensschwäche und Ziellosigkeit sowie die heillosen Widersprüche in seinem Verhalten. Man übersah damals die eigentliche avantgardistische Dimension dieses Werkes für die türkische Romanliteratur, nämlich den grenzenlosen Subjektivismus, die differenzierte Analyse der Innenwelt eines Individuums, das an der zeitbedingten Identitätskrise leidet, die es nicht überwinden kann. Dieser komplexe Zeitroman barg also bei seinem Erscheinen beträchtlichen Zündstoff, und er ist aktuell geblieben, weil die chaotische Phase der türkischen Geistesgeschichte, die Sabahattin Ali mitgeprägt und in seinem Werk lebendig gemacht hat, in ihren Auswirkungen bis heute spürbar geblieben ist.
Erika Glassen