Valentin Schönherr, LateinamerikaNachrichten, Mai 2005
»Ich schreibe ganz bewusst nicht über Gewalt«
Der kolumbianische Autor Memo Anjel erklärt, warum sein jüdischer Familienroman nicht mit unseren Bildern von Medellín zusammenpasst
»Nächstes Jahr in Jerusalem«, so lautet der traditionelle Hoffnungsspruch der in der Diaspora verstreuten Juden, wenn das Pessachfest zu Ende geht. Im ersten Satz von Das meschuggene Jahr, dem Roman des 1954 in Medellín geborenen José Guillermo (Memo) Anjel, ist diese rituelle Hoffnung einer leicht resignativen Selbstbescheidung gewichen: »In dem Jahr wurde wieder nichts aus unserer Reise nach Jerusalem, wir hatten kein Geld.« Dabei hat der Vater des Ich-Erzählers durchaus Ideen, wie man zu dem fehlenden Geld kommen könnte. In seinem geheimnisvollen Kämmerchen erfindet er eine Brotbackmaschine, die ungeachtet der Skepsis seiner lebenspraktischen Ehefrau schließlich tatsächlich funktioniert. Und die ganze Familie fiebert mit. Memo Anjel hat einen leichten, manchmal skurrilen, aber immer mitreißenden Roman geschrieben, in dem trotz zu tief angebrachtem Backrohr, trotz einem vom Sterbebett wieder auferstehenden Onkel und trotz einer unstatthaft geschwängerten Buchhändlertochter am Ende alle ungefähr da ankommen, wo sie einmal hinwollten.
Ihr Roman Das meschuggene Jahr hat mich überrascht: Viele Dinge, die ich mit Medellín verbinde – Gewalt, Drogen, Killerkommandos – kommen darin überhaupt nicht vor. Wo liegen statt dessen die Wurzeln dieses Buches?
Das Medellín, von dem ich erzähle, ist das der 1950er- und 60er-Jahre, als die Stadt noch nicht so wie heute in den Fängen der Gewalt war. In dieser Zeit, so erzählt meine Mutter, gab es für die meisten genügend zu essen und die Leute hatten Arbeit und ein anständiges Dach über dem Kopf. Der Bürgerkrieg, der 1948 begonnen hatte, war in den Städten noch nicht zu spüren. Für die Juden von Medellín war dies eine gute Zeit: Sie gründeten Unternehmen und nahmen am kulturellen Leben teil. Daher gibt es im Roman keine Gewalt: Es gibt eher Träume und Ideale – und Verrücktheit.
Die Familie, von der die Rede ist, beschäftigt sich vor allem mit sich selbst. Nun ist das für Bücher, die aus einer Kinderperspektive geschrieben sind, nicht unüblich. Aber scheinen hier auch die realen Gegebenheiten durch, unter denen eine jüdische Familie in Kolumbien lebt?
Das jüdische Leben spielt sich in Medellín, wie auch sonst in Lateinamerika, hauptsächlich in der Familie ab. Das liegt daran, dass meistens ganze Familien nach Kolumbien kamen, und aus ihnen bildeten sich die Gemeinden. Diese weitläufige Familienstruktur hat es erlaubt, dass die jüdische Kultur mit ihren Festen, den Mahlzeiten, den Eheschließungen und so weiter intakt bleiben konnte.
Für eine sephardische Familie wie die meine, ohne weitere Kontakte als die zur eigenen Verwandtschaft, war die einzige Möglichkeit, sich als Juden zu erhalten, ein intensives Familienleben zu führen, bei dem die Mutter das Zentrum aller Aktivitäten war. Es ist interessant festzustellen, dass die sephardischen Juden (anders als die aschkenasischen oder die Juden aus Arabien) zu der Zeit, in der der Roman spielt, gerade erst eingewandert waren. Ihre Bindung an die kolumbianische Gesellschaft war noch sehr schwach. Was sie interessiert hat, waren die Briefe aus dem Ausland und die Nachrichten, die von Besuchern überbracht wurden. Deswegen schreibt die Mutter im Roman die ganze Zeit Briefe und deshalb ist auch die Ankunft ihres Bruders Chaim ein so wichtiges Ereignis.
Im Roman hat das rituelle jüdische Versprechen »Nächstes Jahr in Jerusalem« etwas Metaphorisches an sich und scheint über den jüdischen Kontext hinauszugehen: Ist dieses Versprechen für Sie ein Projekt, ein Ideal, das die Familie miteinander teilt?
Die Reise nach Jerusalem ist vor allem ein erzählerisches Element, das den Roman voranbringt. Ohne das am Esstisch geplante Projekt hätte es keine Geschichte gegeben, die man erzählen könnte. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn dieses Projekt auch wahrscheinlich ist, wenn es beispielsweise den Vater mit seiner Brotbackmaschine so geben hätte können. Also verfolgen sie alle einen Traum und arbeiten an seiner Realisierung.
Der kolumbianischen Gegenwartsliteratur fehlt im Gegensatz dazu alles Utopische: Was zählt, ist die Realität, und die ist extrem hart. Oder täuscht das?
Tatsächlich gehen der aktuellen Literatur in Kolumbien Utopien völlig ab. Die sogenannte Realität – das heißt, die finstere Seite des Landes – erlaubt nichts weiter als eine Literatur, die mit Anekdoten beladen ist, mit psychologischen Krankengeschichten und polizeilichen Dienstbüchern. Sie taucht weder ernsthaft in die tatsächlichen Hintergründe der Konflikte ein, noch beschäftigt sie sich mit Projekten, die einen Wandel herbeiführen könnten. Ich würde deshalb eher von einer Literatur der Chroniken sprechen als von einer Roman- oder Erzählliteratur.
Warum sprechen Sie der Literatur über Gewalt, Drogen und Krieg ab, gute Erzählliteratur zu sein? Gerade angesichts neuer, vielbeachteter Romane etwa von Jorge Franco aus Kolumbien oder Horacio Castellanos Moya aus El Salvador ist das ziemlich provokant.
Selbstverständlich gibt es in Lateinamerika gute Erzählliteratur über bewaffnete Konflikte. Mit wenigen Ausnahmen handelt die lateinamerikanische Literatur ständig von Krieg, Schmerz, Angst und Maßlosigkeit. Ich würde sagen, es gibt eine tragische Tradition in der lateinamerikanischen Erzählkunst. Und es muss sie geben, denn die Regierungen und die Macht waren tragisch und gewalttätig.
Aber wenn Sie sich die jüngere kolumbianische Literatur anschauen, können Sie leicht sehen, wo das Problem liegt. Ich würde da von zwei Generationen sprechen. Zu der ersten gehören Darío Ruiz Gómez, Laura Restrepo oder Fernando Vallejo – sie erzählen von der Gewalt in Kolumbien, von der Mafia, der Guerilla. Es ist übrigens nur ein Einziger der auch von den Paramilitärs erzählt: Javier Echeverri, der ist spektakulär. In einer nachfolgenden Generation kommen Leute wie Héctor Abad Faciolince, Santiago Gamboa, Jorge Franco, die alle auch im Ausland viel Erfolg hatten. Sie schreiben über die Gewalt, wie die Verlage es von ihnen verlangen, aber die Gewalt selbst haben sie überhaupt nicht kennengelernt. Das trifft sogar auf Fernando Vallejo zu: Er stammt aus Medellín, und sein Roman »Die Madonna der Mörder« handelt von den Auftragskillern in der Stadt. Aber er selbst hat nie einen kennengelernt!
Die kolumbianischen Verlage ziehen aufgrund der Verkäuflichkeit das Gewalt-Thema vor. Andere Themen dringen nur schwer durch. Meine Romane und Erzählungen sind vor allem in Universitätsverlagen erschienen, in sehr kleiner Auflage. Durch ihre Politik erzeugen die Verlage aber nur noch Karikaturen des Themas Gewalt. Die Romane handeln nicht mehr davon, was tatsächlich geschieht, sondern bedienen Klischees – sie verzerren und vergrößern die Gewalt-Phänomene. Selbstverständlich existiert all das, die Straßenkiller. Aber an unserer Universität, wo wir uns mit diesen Killern befasst haben, kamen wir zu dem Ergebnis, dass diese Leute auf der Straße jemanden umbringen und dann nach Hause zurückkehren – als brave Familiensöhne: Sie helfen ihren Eltern, lieben ihre Geschwister. Das ist schon sehr merkwürdig. In die Romane der besagten zweiten Autoren-Generation würde so etwas nicht hineinpassen.
Einmal aus Sicht der Leserinnen und Leser gefragt: Haben die nicht ein völlig legitimes Bedürfnis, sich in etwas zu vertiefen, das ihnen fremd ist und das ihre Träume, ihre Phantasien – auch deren schwarze Seiten – füllt? Das Dämonische?
Die Leser wissen, dass die Gewalt existiert. Im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen, im alltäglichen Gespräch ist sie dauernd präsent. Ein Beispiel: Eine meiner Studentinnen kommt zu mir und sagt, sie müsse jetzt heimgehen, denn der Bruder ihres Freundes sei ermordet worden. Natürlich lasse ich sie gehen. Ich weiß, dass die Gewalt existiert, alle wissen es. Aber was mir die Literatur über die Gewalt erzählen kann, ist sehr wenig, denn ich weiß es schon. Ein Leser, der immer dasselbe sucht und bestätigt haben möchte, ist in meinen Augen kein kultivierter Leser. Ich habe Bücher über Kriege gelesen, aber ich will nicht nur Bücher über den Krieg lesen, irgendwann ist es damit auch genug. Und, was noch schlimmer ist: diese kommerzielle Gewalt-Literatur verzichtet darauf, auf die Hintergründe der Gewalt einzugehen. Der kolumbianischen Literatur fehlt jemand wie Elfriede Jelinek, die zwar sehr hart ist, aber den Gründen der Gewalt wirklich auf den Grund zu gehen versucht. Die Frage, warum wir schlecht sind, was uns zur Gewalt antreibt, die stellt sich von diesen kolumbianischen Autoren niemand.
Würden Sie sagen, der gute Roman über die kolumbianische Gewalt steht noch aus?
Ja. So ein Roman müsste von drei Dingen sprechen, die die Gewalt überhaupt erst hervorbringen. Zum einen die Landverteilung: Das meiste Land in Kolumbien ist in der Hand von achtzehn Personen, und dort weidet Vieh. Wo Viehzucht betrieben wird, herrscht Reichtum bei einigen wenigen Leuten, aber Wohlstand für viele gibt es nur dort, wo Ackerbau betrieben wird. Zum zweiten die politische Macht: Die geht in Kolumbien auf allen Ebenen mit absolut ausufernder Korruption zur Sache. Zum dritten die Identität: Kolumbien besteht eigentlich aus sieben Regionen, sieben Ländern in einem Land, die nur durch den kolumbianischen Pass zusammengehalten werden.
In »Das meschuggene Jahr« ist von diesen Themen nicht die Rede. Was halten Sie statt dessen dagegen?
Es gibt nicht nur Gewalt, Drogen und Bürgerkrieg! Man kann auch noch ganz andere Aspekte Kolumbiens betrachten, zum Beispiel die Abwanderung vom Land in die Städte und die Emigration ins Ausland. Das wird vor allem auf dem Niveau journalistischer Chroniken abgehandelt. Und eine weitere Facette, die in der Literatur fast gar nicht vorkommt, ist die Mittelschicht. Hier geht es um Leute, die einen Job haben, die träumen, die die Universitäten besuchen – das ist die Literatur, die ich mache.
Ich bin damit nicht allein. Wir sind eine kleine Gruppe von Autoren – Pedro Badrán, Saúl Álvarez, Tomás González –, die wir uns gegen die Generation von Autoren wenden, die die Gewalt nur noch verkauft. Wir schreiben ganz bewusst nicht über die Gewalt, weil wir glauben, dass wir nur Karikaturen schreiben würden, denn wir haben sie nicht tatsächlich erlebt.
Diese Gewalt hat uns nicht, oder noch nicht, direkt betroffen. Was tun also die Menschen, die zwar an der Seite von Drogenhändlern oder Guerilleros leben, aber keine von denen sind? Sie arbeiten, sie haben ein Geschäft, sie haben Kinder und Ehekonflikte … So entsteht eine andere Art von Literatur, die die Verlage nicht haben wollen: Ihnen fehlt das morbide Element, die Vorstellungskraft der Leser mit Hilfe der Angst zu entzünden. Für uns gilt, was man in den Romanen von Mario Benedetti findet: Es ist wichtig, am Leben zu sein. Selbst wenn das mit sich bringt, dass man sich von der finsteren Realität abwendet.
Sie wählen in Ihrem Roman eine Gliederung in kurze Kapitel, also eine leichte Struktur, die sich sehr angenehm liest, aber auch leicht zu konsumieren ist. Es scheint, als wollten Sie Ihren Lesern nicht allzu viel abverlangen.
Ich glaube, die langen und labyrinthischen Kapitel funktionieren heutzutage nicht mehr. Die Leser haben sich gewandelt. Sie haben mehr Bilder im Kopf – aus dem Fernsehen, dem Internet, dem Kino. Die Zeit zum Lesen teilen sie mit anderen Aktivitäten.
Deswegen sollten wir heute kürzer und schneller schreiben. Und den Leser nicht in Frage stellen, sondern ihn in eine Welt einführen, damit er mit einer großen Idee wieder daraus auftauchen kann. Mir geht es darum, ihm einen Eindruck zu verschaffen, den er nicht erwartet hat. Ein Leser meines Romans sagte: »Ich las ihn, und als ich fertig war, hatte ich gute Laune.« Ich glaube, das suche ich: dass jemand, der mich liest, merkt, dass das Leben existiert, das nicht alles nur Gegenstand und Materialsammlung ist.