»Frauenliteratur« in der Türkischen Bibliothek
Die inhaltliche Konzeption der Türkischen Bibliothek, die unserer Auswahl zugrunde liegt, stützt sich auf die Erkennntnis, dass die moderne türkische Geschichte – seit den Tanzimat-Reformen im 19. Jahrhundert – von einem dynamischen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel beherrscht wird, der mit der Öffnung nach Westen und der Abkehr von der eigenen östlichen Tradition beginnt. Dieser Prozess lässt sich am besten als Verwestlichung beschreiben. Er wurde durch die Reformen des Republikgründers Mustafa Kemal (Atatürk), die auf vielen Gebieten (Alphabetwechsel, Kleider- und Kalendereform usw.) den Charakter einer Kulturrevolution trugen, rasant beschleunigt. Die Verwestlichungsproblematik mit allen ihren Facetten liefert auch die Grundthematik der türkischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Das Kernstück der Türkischen Bibliothek bilden die 9 Werke der klassischen Moderne. Besonders in ihnen wird der rote Faden unserer Konzeption sichtbar. Diese Romane, unter die wir eine Autobiografie eingeschmuggelt haben, sind jeweils etwa im Abstand von 10 Jahren in der Zeit von 1900 bis in die 1970er-Jahre erschienen. Die Helden bzw. Heldinnen vertreten also verschiedene Generationen des 20. Jahrhunderts. Die Schauplätze wechseln zwischen Istanbul, Ankara und der anatolischen Provinz. Sie spiegeln die sich wandelnde türkische Gesellschaft im Bewusstsein von Individuen, die zu der Gesellschaft in einem Spannungsverhältnis stehen und auf Identitätssuche sind. Unsere Reihe wird also, wenn sie als Ganzes vorliegt, einen Strang der Geistesgeschichte der modernen Türkei zeigen.
Zu der Verwestlichungsproblematik gehört als wesentliches Phänomen die Emanzipation der Frau. In den Werken bedeutender Literatinnen, die wir in unsere Reihe aufgenommen haben, wird der gesellschaftliche Wandel aus weiblicher Sicht thematisiert.
Eine Pionierin der türkischen Frauenbewegung, die auch eine einflussreiche Rolle im Vorfeld der politischen Entwicklungen gespielt hat, ist die erfolgreiche Romanautorin Halide Edip Adivar (1892–1964), deren Memoiren wir in einem Band publizieren. Damit bieten wir den deutschen Lesern nicht nur einen literarischen Leckerbissen, sondern auch eine unverzichtbare Quelle für autobiografische, feministische und historische Forschungen. Es handelt sich ursprünglich um zwei Bände, die zuerst in englischer Fassung erschienen sind (Memoirs of Halide Edib 1926 und The Turkish Ordeal 1928). Später wurden auch türkische Versionen veröffentlicht unter den Titeln Mor Salkimli Ev 1963 und Türkün Atesle Imtihani 1956. Halide Edip hat mit ihren frühen Romanen, in denen sie die feinsten Regungen der Frauenseele dargestellt hat, die vorrepublikanische Frauengeneration auf die Emanzipation vorbereitet. In der Jungtürkenzeit (1908–1918) war sie bereits im Erziehungssektor, in Frauenorganisationen und als Journalistin tätig. Im türkischen Unabhängigkeitskrieg hat sie mit Mustafa Kemal (Atatürk) an der Front gestanden. Sie beschreibt also diese Zeit des Umbruchs und Übergangs vom Osmanischen Reich zur türkischen Republik als Zeitzeugin. Es ist der faszinierende Lebensweg einer Frau, die aus der Segregation des Harems den Weg ins öffentliche Leben findet. Halide Edip war eine Ausnahmeerscheinung, aber sie hat viele Frauen zur Selbstverwirklichung ermutigt, auch zum Schreiben. Der Roman wurde zu einem Medium, das auf viele Frauen wie eine Droge wirkte. Seit der Republikgründung entstand eine ungewöhnlich erfolgreiche Unterhaltungsliteratur, die vor allem von Frauen geschrieben und konsumiert wurde. Diese rührseligen Liebesdramen gewürzt mit nationalistischer Moral wurden von der literarischen Kritik abqualifiziert, vergleichbar etwa mit den heute populären islamistischen Romanen, die Bekehrungserlebnisse mit Liebesgeschichten verquicken. Doch es gab unter den Romanautorinnen immer eigenwillige Persönlichkeiten, denen zu Recht literarische Anerkennung zuteilwurde. Da die meisten Autorinnen aus städtischem Milieu stammten, thematisierten sie vor allem die sozialen und psychischen Probleme der kleinbürgerlichen Schichten, an der sozialkritischen Dorfliteratur, die nach 1950 viel Beachtung fand, waren sie nicht beteiligt.
Der ganz große Durchbruch auf der literarischen Szene gelang den Frauen in den 1960er- und vor allem in den 1970er-Jahren. Es war nun eine Generation herangewachsen, die in der Republik geboren war und an den säkularen koedukativen Schulen ihre Sozialisation erfahren hatte. Sie hatte von der kemalistischen Ideologie, die die Gleichstellung der Frauen verteidigte, profitiert, den Übergang zum Mehrparteiensystem 1950, die politischen Auseinandersetzungen zwischen nationalistischen und sozialistischen Jugendgruppen sowie die Einmischung des Militärs bei den Putschen (27. Mai 1960 und 12. März 1971) miterlebt.
Alle diese Entwicklungen wurden in einer gesellschaftskritischen Literatur verarbeitet, wobei eine ganze Reihe begabter Schriftstellerinnen eine herausragende Rolle spielte.
Da die Türkische Bibliothek auf 20 Bände beschränkt ist und nur bislang noch nicht ins Deutsche übersetzte Werke in Frage kommen, konnten wir aus der Fülle der »Frauenliteratur« nur wenige Werke auswählen. Die Entscheidung fiel auf die Romane Eine seltsame Frau (Tuhaf Bir Kadin, 1971) von Leylâ Erbil (geb. 1931) und Sich hinlegen und sterben (Ölmeye Yatmak, 1973) von Adalet Agaoglu (geb. 1929). Diese beiden Romane, die nach allgemeinem Konsens der Literaturkritiker zu den Klassikern der türkischen Moderne gehören, passen am besten in unsere Konzeption, weil sie mit ihrer weitgespannten historischen Dimension und dem starken autobiografischen Anteil fast an Halide Edips Memoiren anknüpfen und – jeder in seiner Art – den Zeitgeist einer ganzen Epoche einfangen. Erbil und Agaoglu waren bereits anerkannte Schriftstellerinnen, die für das komplexe Thema der Identitätssuche des weiblichen Individuums die nötige Distanz besaßen und auch schon eine originelle literarische und sprachliche Form gefunden hatten.
Leylâ Erbil hat in ihrem Roman Eine seltsame Frau viele Tabus gebrochen. Es sind nicht nur die gesellschaftlichen Probleme der Frauenemanzipation, die sie mutig anpackt – und damit den Erfolg der kemalistischen Reformen in Frage stellt –, sie macht auch vor der weiblichen Intimsphäre nicht Halt. Das Jungfernhäutchen spielt im Bewusstsein der Protagonistin Nermin, besonders in ihrer gespannten Beziehung zu der religiösen Mutter, eine große Rolle. Nermin ist aber nicht auf die Sexualität fixiert, sie bemüht sich vielmehr krankhafte Verdrängungen zu vermeiden. Sie möchte ihre Weiblichkeit normal erleben, am wichtigsten aber für die Persönlichkeitsentfaltung sind ihr die geistige Unabhängigkeit und gesellschaftliche Mündigkeit. Sie zeigt Verständnis für die ältere Generation, denn obwohl sie in einem permanenten Spannungsverhältnis zu ihren Eltern lebt, liebt sie diese. Nermin hat Freud und Marx gelesen. Durch Freundschaften mit linken Studenten und die einschlägige Lektüre wird sie zur Kommunistin, die das durch das verhasste »System« irregeleitete und ausgebeutete Volk aufklären möchte. Durch den Umzug in ein Istanbuler Gecekondu-Viertel sucht die junge Arztfrau dem geliebten Volk ganz nahezukommen. Trotz aller Desillusionierungen lässt sie sich nicht entmutigen. Die raffinierte, abwechslungsreiche Erzähltechnik sowie Humor und Selbstironie Leylâ Erbils machen den Roman zu einem Lesevergnügen.
Die seltsame Frau gehört zu den ersten drei Bänden der Türkischen Bibliothek, die im Herbst 2005 erschienen sind. Übersetzt von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch.
Die Protagonistin in dem Roman Sich hinlegen und sterben von Adalet Agaoglu ist Aysel, eine Dozentin an der Universität Ankara. Sie steckt in einer privaten Lebenskrise und zieht sich in ein Hotelzimmer zurück, um zu sterben. Sie leidet unter dem Konflikt zwischen der gesellschaftlichen Pflichterfüllung, die sie als kemalistisches Ideal verinnerlicht hat, und ihren psychischen und physischen Bedürfnissen als weibliches Individuum. Sie erinnert sich an ihre Schulzeit in einer anatolischen Provinzstadt und lässt vor ihrem geistigen Auge die Lebensschicksale ihrer Schulkameraden und Schulkameradinnen vorüberziehen. Dabei entsteht ein facettenreicher Bilderbogen von 30 Jahren republikanischer Geschichte. Die subjektive Ebene des inneren Monologs der Protagonistin, Tagebuchauszüge und Briefe Aysels und ihrer SchulfreundInnen verdeutlichen die Identitätssuche einer ganzen Generation; sie wird zudem durch den Abdruck authentischer Zeitungsartikel in den historischen Kontext eingebunden und aus weiblicher Sicht problematisiert. Der Roman wird von Ingrid Iren ins Deutsche übersetzt.
Halide Edip Adivar, Leylâ Erbil und Adalet Agaoglu sind nicht die einzigen Autorinnen, die in der Türkischen Bibliothek zu Wort kommen. In unseren beiden Erzählanthologien, die thematisch zusammengestellt wurden, sind insgesamt 13 Erzählerinnen aus verschiedenen Generationen vertreten. In den vergangenen Jahren sind mehrere Erzählanthologien türkischer Autoren in deutscher Übersetzung erschienen. Darunter auch einige, die ausschließlich schreibenden Frauen gewidmet sind, z. B. unter den vielsagenden Titeln Aufbruch aus dem Schweigen (buntbuch Hamburg 1984) und Entschleierung (Dost Istanbul 1993). Doch mir scheint, in einer gemischten Erzählanthologie, in der die Geschlechterperspektiven wechseln, liegt ein besonderer Reiz. In unserem Erzählband Von Istanbul nach Hakkâri. Eine Rundreise in Geschichten (herausgegeben von Tevfik Turan, erschienen im Herbst 2005) haben wir bei der Auswahl keinen Geschlechterproporz walten lassen, sondern nach interessanten Geschichten gesucht, die unsere Rundreise durch die anatolischen Regionen komplettieren. Da stehen dann das männliche Frauenbild mit dem harten Kontrast von der reinen, ehrenhaften Schwester und der verworfenen, verlockenden Hure neben den Erfahrungen einer intellektuellen, städtischen Türkin aus Ankara, für die die archaische Lebenswelt im fernen Harran Seelenfrieden verheißt. Die Erzählung von Yesim Dorman Vollmond über Harran scheint mir deshalb erwähnenswert, weil hier das Motiv der volkstümlichen, anatolischen Liebesepen von der verzehrenden Leidenschaft der Asik-Sänger ganz lebendig wird und für die junge türkische Akademikerin unausweichbar ist wie eine Naturgewalt.
Übrigens wird durch die Konfiguration der Geschlechter evident, dass die türkischen Autorinnen sehr viel offener sind für formale und sprachliche Experimente als ihre männlichen Kollegen.
Der Militärputsch am 12. September 1980 und seine Folgen wird rückblickend auch als Zäsur für die türkische Literatur empfunden. Man spricht von postmodernen und globalen Tendenzen, die nun endgültig den sozialen Realismus abgelöst haben. Wir wollen in der Türkischen Bibliothek den deutschen Lesern auch einen Eindruck von diesen neuen Trends vermitteln. Dazu dient vor allem der zweite Erzählband unter dem Titel Liebe, Lügen und Gespenster (herausgegeben von Börte Sagaster, erschienen im Herbst 2006), in dem 9 Erzählerinnen mit ihren Geschichten zu Wort kommen.
Dass junge gebildete türkische Frauen nun unabhängig durch die Welt schweifen und sich sozusagen abenteuerlustig global auf Identitätssuche begeben können, zeigt Asli Erdogan (geb. 1967) in ihrem Roman Die Stadt mit der roten Pelerine (Kirmizi Pelerinli Kent, 1999). Die Heldin Özgür vagabundiert durch die labyrinthischen, chaotischen Straßen Rio de Janeiros, wo sie dem Tod begegnet. Dieser faszinierende Roman mit seinen vielschichtig verwobenen Erzählebenen besitzt auch eine autobiografische Dimension.
Junge türkische Autorinnen, wie Asli Erdogan, haben dazu beigetragen, dass die türkische Literatur im Rahmen der Weltliteratur mehr und mehr wahrgenommen wird.
Erika Glassen