Der Roman als Gattung fand erst Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Europäisierungsbestrebungen Eingang in die türkische Literatur und erfuhr dort bis etwa in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts eine recht einseitige Entwicklung. Die europäische Romantik wurde zunächst nicht rezipiert. Zur Hauptströmung des türkischen Romans wurde nämlich der Realismus, wobei gesellschaftliches Bewusstsein und Sozialkritik eine dominante Rolle spielten. Literatursoziologisch ist es durchaus einleuchtend, dass eine Gesellschaft wie die türkische, die in den Zwanzigerjahren auf den Trümmern des Osmanischen Reiches eine laizistische Republik errichtete und mit radikalen Reformen eine Art verspätete Aufklärung vollzog, in ihrer Literatur der Innenwelt des Individuums nur wenig Aufmerksamkeit schenkte und mit fantastischen, romantischen und formalistischen Tendenzen nicht viel anfangen konnte. So fand die Begegnung der türkischen Literatur mit der Romantik erst statt, als der türkische Roman zu Beginn der Siebzigerjahre von der ersten Welle der avantgardistischen Moderne erfasst wurde.
Allerdings tat die türkische Literatur sich noch eine ganze Weile recht schwer mit dem so lange verpönten Begriff der Romantik, der bis dato fast als gleichbedeutend mit »ästhetisch wertlos« gegolten hatte. Noch heute gibt es in der Türkei eine Schriftstellergeneration, die jeder Art avantgardistischem Formalismus und Individualismus den Kampf ansagt.
Hasan Ali Toptas , der in den Achtzigerjahren zu schreiben begann und in den Neunzigerjahren einige der wichtigsten Romane der modernen türkischen Literatur herausbrachte, ist heute zweifellos der bewussteste und bedeutendste Vertreter der verspäteten Romantik in der türkischen Literatur. In seinem letzten Interview äußerte er, ihm scheine, als müssten wir sowohl im Leben als auch beim Schreiben (das für ihn Leben bedeutet) »im Begrenzten das Unbegrenzte suchen«.(1) Diese Aussage könnte von einem deutschen Romantiker vom Anfang des 19. Jahrhunderts stammen. Dabei geht es ihm aber nicht darum, auf archaisch romantische Art alle Grenzen im Leben und in der Literatur bedingungslos niederzureißen und alle Gegensätze auf immer und ewig mit dem Mantel der Harmonie zu bedecken. Vielmehr schreibt Toptas auf einem Nebenschauplatz der globalen Welt, die sich im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Zwängen des postkapitalistischen Materialismus unterworfen hat. In dieser neuen Welt ist an die Stelle der ursprünglichen romantischen Harmonie jene allgemeine Ratlosigkeit getreten, die Derrida als »Aporie« bezeichnet hat. Die Romantik von Toptas gründet in dem romantischen Element, das in der genetischen Struktur der Modernisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Postmodernisten der zweiten Hälfte liegt, die die Ratlosigkeit der modernen Welt mithilfe entsprechender Erzähltechniken auf die Fiktionsebene übertragen haben. Dieses romantische Element tritt in den speziellen, der experimentellen Romanästhetik des 20. Jahrhunderts eigenen Formen auf und verschmilzt mit Begriffen wie Verfremdung, Vielschichtigkeit, Unbestimmtheit und Metafiktion. In einem Interview nach den Autoren befragt, die sein schriftstellerisches Werk befruchtet hätten, nennt Toptas denn auch in einem Atemzug drei Namen, die einer literarischen Standortbestimmung gleichkommen: Kafka, Kundera und Borges. (2)
Der Roman »Die Schattenlosen« (1995) mit seiner irrationalen Atmosphäre ist ein Produkt dieser avantgardistisch-romantischen Bewusstseinshaltung. In einer Welt, in der die Menschen herabgewürdigt werden und keine menschlichen Wertmaßstäbe mehr gelten, schildert der Autor eine Art virtueller Wesen, die nicht existieren können und deshalb nicht einmal Schatten besitzen, und so geht es in dem Text nicht ums Existieren, sondern ums Nicht-Existieren/Verschwinden. Der Roman spielt zwar in einem anatolischen Dorf, weist aber keinerlei Züge des traditionellen türkischen »Dorfromans« auf. Dieser nämlich verfolgt politische Absichten und will von einem Klassenstandpunkt aus die Unterdrücktheit der anatolischen Dorfbevölkerung veranschaulichen. Mit seiner anfänglich vom sozialistischen Realismus und ab den Siebzigerjahren von dem eben in der Türkei rezipierten Lukacs geprägten Sichtweise hat der »Dorfroman« die türkische Literatur über Jahre hinweg in Beschlag genommen. In einer literarischen Atmosphäre, in der die innere Welt des Individuums als vernachlässigbare Größe und jeglicher Formalismus als Hindernis auf dem Weg zum Textverständnis angesehen wurden, war der »Dorfroman« die vorherrschende literarische Gattung.
Das Individuum, dem eine solche Literaturauffassung keine Luft zum Atmen ließ, konnte im türkischen Roman erst eine Rolle spielen, als sich nach Ablauf der Siebzigerjahre Autoren bürgerlicher Herkunft seiner annahmen. Nun war es auch in der türkischen Literatur so weit, dass der Mensch die Ketten der Klassenzugehörigkeit sprengte, sich mit Identitäts- und Existenzproblematiken auseinander setzte, nach Dostojewski-Manier durch die dunklen Seiten seiner Seele von Krisen erfasst wurde und sich in kafkaesken Labyrinthen verlor. Die intensive Beschäftigung mit dem abstrakten Chronotopos der Innenwelt war vor Toptas im türkischen Roman bürgerlichen Intellektuellen vorbehalten. »Die Schattenlosen« waren eines der ersten Produkte einer ästhetischen Revolution, die der aus der Provinz stammende Toptas vollbracht hat, indem er sich über das einschränkende Kastenwesen, das in der türkischen Literatur herrschte, einfach hinweggesetzt hat, ohne viel Aufhebens darum zu machen, ganz wie es dem Wesen des Autors entspricht, der durch sein Erscheinungsbild und sein schüchternes Naturell – ebenso wie durch kafkaeske Züge seines Werkes – unwillkürlich an sein großes Vorbild erinnert. Die Auflehnung gegen eine Tradition, die sich in den »Schattenlosen« manifestiert, beschränkt sich nicht nur darauf, den »Dorfroman«, der sich dem sozialistischen Realismus verpflichtet sah, mit dem modernistischen Formalismus zu konfrontieren. Der Roman hat auch insofern revolutionierenden Charakter, als er vor Augen führt, dass die marginalen existentiellen Affekte, die den zeitgenössischen Menschen erfassen – aber eigentlich so alt sind wie die Menschheitsgeschichte selbst –, nicht dem Bürgertum eigentümlich sind, sondern dass auch die Menschen, denen auf unserem Planeten ein provinzielles »Dritte Welt«-Dasein beschieden ist, mit den gleichen universellen Problemen zu kämpfen haben.
»Was es wohl eigentlich zu beschreiben gilt, sind nicht Dorf oder Stadt, sondern was der Mensch ist, warum er es ist, und was er sein wird. Wie der Mensch innerhalb seiner endlosen Möglichkeiten begrenzt ist und doch unbegrenzt. Alles andere erscheint mir nur Hintergrund zu sein, Stoff, Material«, erklärt Toptas. (3) In den »Schattenlosen« wird vor einem Provinzhintergrund ein ungewöhnliches Existenzproblem abgehandelt. Dieser Hintergrund, der eines der wichtigsten Elemente des Romans ausmacht, konfrontiert den Leser mit einem hybriden Universum, das dem erstaunlichen Schöpfertum des Autors entspringt: Zum einen ist der fiktive Ort nämlich ein typisches anatolisches Dorf, ja mit seinen Märchen, seinen menschlichen Beziehungen und seinen Lebensformen ist er Anatolien selbst. Zum anderen aber sind wir in der paralogischen Welt der modernistischen Avantgarde, in der alle logischen und ästhetischen Kategorien traditioneller Literatur aufgehoben sind. Die »Schattenlosen« führen uns in eine für transzendentale, kosmische Analysen offene, auf einer anderen Seinslehre beruhende Welt, in der die Menschen – vielleicht in Anspielung auf die in der Astrophysik aufgekommene Theorie der »Parallelwelten« – zwischen verschiedenen Orten hin und her mutieren und manchmal in einer Weise die Zukunft vorhersehen, die der Unschärferelation der Quantenphysik alle Ehre machen würde. Und in diesem hybriden Universum, in dem ein anatolisches Dorf durch Science-Fiction-Elemente und moderne Romantechniken verfremdet wird, entfaltet sich die sprachliche und fiktionale Ebene der »Schattenlosen« mit den zentralen Fragen der menschlichen Existenz.
Was die Existenzproblematik angeht, bleibt der Roman innerhalb seiner vielschichtigen metaphorischen Struktur unverbindlich. Toptas hegt keineswegs die Absicht, irgendwelche universellen Probleme des Menschen einer Lösung zuzuführen. Er ist vor allem ein Sprachkünstler, und sein primäres Anliegen ist das Fabulieren; er verweist zwar implizit auf einen normativen Bedeutungsrahmen, legt aber eine deskriptive Haltung an den Tag. An Textstellen, an denen über den Sinn des Lebens reflektiert werden soll, lässt Toptas die betreffende Romanfigur derlei nicht direkt aussprechen, sondern lässt sie stattdessen eingebunden in die Bildstruktur des von ihm erdachten philosophischen Kontexts seitenlang ausrufen: »Warum fällt der Schnee?« (S. 101– 113) Indem Toptas die Existenzproblematik einem Naturphänomen gegenüberstellt, dem im Grunde keinerlei Geheimnis innewohnt, bringt er sie einerseits auf eine den Dorfmenschen gemäße Ebene und verfremdet sie zum anderen und hält sie dadurch offen. Manchmal sind seine Figuren hinter einer transzendentalen Wahrheit her, als wollten sie wie Faust aus dem Gefängnis ihrer Körperlichkeit ausbrechen: »Seine Haut sei dem Körper plötzlich zu eng geworden, die Hände hätten nicht mehr zu den Armen und die Füße nicht mehr zu den Beinen gepasst, und mit den Augen sei nicht mehr recht zu sehen gewesen. Hätte er seine Augen weit aufgerissen, wäre er imstande gewesen zu sehen, was jenseits der Berge lag, und vielleicht habe er das sogar gesehen, und es sei ihm nur nicht bewusst gewesen.« (S.57) Dann wiederum lässt Toptas seine existentielle Reise in einen allegorischen Wald voller Riesen und Schlangen gehen.
Eine Besonderheit in der philosophischen Dimension der »Schattenlosen«, die auch das thematische Geflecht des Romans bestimmt, liegt darin, dass bei der Problematisierung seiner Wirklichkeit nicht von ihrer Existenz ausgegangen wird, sondern von ihrer Nichtexistenz. Auch den Menschen, der sich im 20. Jahrhundert in der Herrschaft des Materiellen verliert, bildet Toptas nicht in seiner Existenz ab, sondern in seiner Nichtexistenz, und schafft damit in seinem Text eine »Ästhetik der Inexistenz/des Verschwindens«. Der Roman ist um Menschen herum aufgebaut, die eines Tages verschwinden. Eine Menschenmenge, die aus Dorfbewohnern besteht und sich wie ein eigenständiger Organismus verhält, wird vom Erzähler als »Herde der Verschollenen« (S. 89) bezeichnet. Eine Romanfigur, die erst verschwindet und dann wieder auftaucht, sagt: »Ich bin ja noch nicht gefunden worden« (S. 132), und wie ein Staatsbürger, der mit seinem Ausweis seine Existenz belegen will, versucht die Romanfigur, ihre Nichtexistenz zu beweisen:
»Ich bin verschollen! Wenn du willst, kann ich es dir schriftlich geben!« (S. 132) Die Figuren verspüren »den Wunsch, sich in Luft aufzulösen«. (S. 227) »Vielleicht war das Dorf ja schon verschwunden, und es hatte nur keiner etwas davon gemerkt.« (S. 118) In dieser aus Sprache komponierten »Verschwundenen-Sinfonie« heißt es über eine Figur: »Eigentlich war dieser Mann so gut wie gar nicht da, sodass neben dem Mann mit der Gebetskette eine eigenartige menschenähnliche Leere gähnte.« (S. 61)
In dem Roman, in dem so viele Variationen von Flucht, Verlassen und Weggehen durchdekliniert werden, steht das Leitmotiv des Verschwindens nicht nur für das Aufgehen des Individuums in der modernen Gesellschaft. Die »Flucht« ist zugleich eine Lösung, zu der der Mensch greift, der auf der Suche nach der Wahrheit und nach sich selbst über seine Grenzen hinausgehen will. Sowohl Kierkegaard und der westliche und östliche Mystizismus als auch ein Bestsellerautor wie Robin S. Sharma, der seinen Helden dazu bringt, seinen Ferrari zu verkaufen, führen den »homo viator« mit konkreten und abstrakten Reisen zu einem Leben außerhalb der Gesellschaft. Das dichte Bildgewebe von Toptas’ vielschichtigem Roman enthält einige Hinweise darauf, dass das Verschwinden nicht auf konkreter Ebene stattfindet, sondern eine existentielle Reise in die Innenwelt sein könnte. »In seiner eigenen Existenz zu verschwinden« (S. 104) ist in dem Text die vom Erzähler bevorzugte Methode des Verschwindens. Die unoriginellste dagegen wird vom Durchschnittsbewohner des Dorfes praktiziert, der »nirgendwo anders zu verschwinden pflegte als in seinem Grab«.
Das »Verschwinden« findet in dem Roman auf verschiedenen ontologischen Ebenen statt, reichert sich durch verschiedene Inhalte an und verweist auf verschiedene Bedeutungen; in direkter Weise als Allegorie oder Symbol für einen bestimmten Sinn steht es nicht, sondern es trägt vielmehr den Zauber des Ungewussten in sich, das Geheimnis des Unverstandenen; es ist der Hauptmythos des Textes und sein spezifisches Bild. Die Grenzen des Bedeutungsfelds, die diesen Urtopos umkreisen, reichen von einer Loslösung aus der konkreten Welt durch eine innere, existentielle Reise über einen Bruch mit der Wirklichkeit durch ein Verfallen in den Wahnsinn bis hin zum Verschwinden durch den Tod; für den an Quantenphysik interessierten Leser ergibt sich eine Parallele zum Verhalten der Atomkerne, das an konventionellen Mustern zur Erklärung der Wirklichkeit zweifeln lässt, und an einem Ende des Bedeutungsfeldes liegen auch die politischen Strategien totalitärer Systeme, die zum Verschwinden von Menschen führen können. Ein weiteres auffälliges Mosaikstück führt uns auf die Metafiktionsebene: Vielleicht ist ja nichts von dem, was im Text geschieht, wirklich, es ist alles »inexistent« und nur vom Erzähler ersonnen: »Vielleicht sind sie ja tatsächlich nicht gekommen, und ich habe mir das nur eingebildet«, (S. 74) fragt sich der Erzähler. Der Autor des Textes, Toptas selbst, stützt die Vermutung, dass sich das Bild des Verschwindens aus der konkreten Realitätsebene entwickelt hat, indem er sagt: »Ich habe angefangen zu schreiben, um vor den Menschen um mich herum und vor mir selbst zu flüchten.« (4) Daraus geht hervor, dass der Autor beim Schreiben seines Textes gewissermaßen zwischen den Zeilen verschwinden wollte. Der fast schon zur Epidemie ausartende Wunsch, der sowohl Toptas als auch seine Romanfiguren dazu treibt, sich zu verflüchtigen, kann innerhalb der für alle Interpretationen offenen Struktur des Romans als Ausdruck dessen gewertet werden, dass man – um es wieder mit dem Autor zu sagen – »vielleicht vor dem Leben davonläuft, vielleicht aber auch am Leben ein Ungenügen empfindet und ein anderes Leben will« (5). Somit darf behauptet werden, dass bei dem Topos des Verschwindens, der im Allgemeinen eher zu nihilistischen Interpretationen verleitet, zumindest ein Teil seines weitgefassten Bedeutungspotentials nicht nihilistisch gefärbt ist, sondern ganz im Gegenteil auf eine Sinnsuche verweist.
Die fiktionale Struktur der »Schattenlosen« mit ihrem unauflöslichen organischen Gewebe deckt sich mit der Romandefinition der Romantiker, die den Roman mit dem Gedicht gleichsetzten und ihn als »unwiederholbare Einzelleistung« bezeichneten. Alle Elemente, die im traditionellen realistischen Roman des 19. Jahrhunderts als Textträger auftraten, also die Kategorien Sinn, Held, Erzählung, Zeit und Raum, verlieren in diesem Roman ihre Bedeutung und werden – wie in den meisten der für die Literatur des 20. Jahrhunderts typischen experimentellen Texten – zu bloßen Maschen des textuellen Gewebes, was einer Poetisierung des Romans gleichkommt.
Diese in der Romanästhetik der Moderne vollzogene Verwandlung wird in den Texten von Hasan Ali Toptas durch eine ganz bewusste Arbeit an der Sprache noch weiter voran getrieben: Der Romanschriftsteller wird zum Dichter. Wie die anderen Vertreter des experimentellen Formalismus seit Anfang des 20. Jahrhunderts verschmilzt Toptas die Themen-, Motiv- und Sinndimension ganz und gar mit der Form, betreibt mithilfe der Form auch Philosophie und hebt sich wie in der Poesie über die Grenzen zwischen Form und Inhalt hinweg. Die im Zentrum des Romans stehenden Motive der »Inexistenz« und der »Unbestimmtheit« werden im Schmelztiegel einer solchen Ästhetikauffassung allmählich verbildlicht, durch diverse formale Techniken verschiedenen Sinnfeldern zugeordnet, um sich dann über das ganze von ihnen gebildete organische Gewebe zu verbreiten.
Sämtliche Elemente des Romans scheinen darauf ausgerichtet zu sein, dass die verschiedenen ontologischen Kategorien sich ineinander auflösen und verwischen bzw. sich ineinander verwandeln. Der Text erzählt von einer Welt, in der »alles ineinander überging und das eine im anderen lebte« (S. 156). »Es war nicht einmal mehr gewiss, ob Hühner noch Hühner waren, während Bäume sich bisweilen wie Tiere gebärdeten; blühten sie, so konnten sie jeden Augenblick zu muhen oder zu mähen beginnen oder vom Hof springen und auf den Straßen wild umherhüpfen.« (S. 32) In einem Text, in dem alle Elemente fortwährend ineinander übergehen können, ist es unmöglich, die Wirklichkeit im Rahmen der herkömmlichen logischen Normen zu halten. So verschwimmen bei Toptas auch zusehends die Grenzen zwischen belebt und unbelebt: Truhen, Schaufelstiele und irdene Töpfe stöhnen, murmeln und weinen bei ihm, und auch Zeit und Raum verhalten sich wie Lebewesen: »… breitete sich die Nacht aus, schluckte die Vögel mitsamt ihrem Schlaf, wischte das Hundegebell weg, verschlang die Dorfbewohner [...]« (S. 223) Auch die von Toptas gern verwendete rhetorische Figur der Synästhesie trägt durch die grenzüberschreitende Art, in der sie mit den verschiedenen Sinnesorganen und Körperfunktionen umgeht, zu der in ständigem Fluss begriffenen Wirklichkeitsauffassung des Textes bei: In dem Roman »dampft das Raunen der Menschen empor«, »genießt« jemand »Schritt für Schritt« und heben trauernde Frauen »zu feingewirkten Klagelauten an«. Auf rein sprachlicher Ebene macht der Autor durch häufiges Einstreuen von »vielleicht« und »als ob« deutlich, dass er in seinem Text keinen Gedanken und keine Wirklichkeit verabsolutieren will. Nichts ist gewiss in dieser Welt. »Vielleicht habe ich ja vorher in einer Stadt gewohnt« (S. 10), sinniert eine Romanfigur, aber »vielleicht lebte« sie »ja auch noch immer in einer Stadt« (S. 11). Entstammte der Fremde, der ins Dorf kam, etwa dem Dorf selbst? »Es kam den übrigen Dorfbewohnern so vor, als sei jener im Dorfe geboren und aufgewachsen.« (S. 27)
Auch der Ort des Romans weist eine Simultaneität auf; es ist zugleich ein Dorf und ein Frisiersalon in der Stadt. Zwar lässt der Autor seine Figuren zwischen dem Dorf und dem Frisiersalon irrationale Reisen vollführen, deren sie sich nicht bewusst zu sein scheinen, doch lassen einige Einsprengsel beim Leser den Verdacht aufkommen, dass die Beziehung zwischen diesen beiden Orten noch ganz anderer Natur sein könnte. Sollte etwa wie in dem Kultfilm »Matrix« nichts anderes vorliegen, als dass einem Helden, der bewegungslos im Sessel sitzt, im Kopf eine virtuelle Welt entsteht? »Es war, als erhebe sich sein Blick über sämtliche Straßen der Stadt und ginge ganz weit in der Ferne, hinter die Berge, an irgendeinen Ort. Vielleicht war dort der Teil des Frisörs, der nicht mehr in ihn hineinpasste, und er saß nun in irgendeinem Dorf, in seiner Frisörskluft, in genauso einem Laden, wandte hin und wieder den Kopf und schaute zu uns herüber.« (S. 7) Auf solche Möglichkeiten kommt Toptas immer wieder zurück. Gegen Ende des Romans deutet er nochmals an, es könne sich alles nicht im konkreten Leben, sondern nur in den Windungen des Gehirns abgespielt haben, und gebraucht dabei wieder das Wörtchen »vielleicht«, das als das Mantra seiner Romanpoetik anzusehen ist: »Vielleicht war ich im Friseurladen der hierher versetzten Straße lediglich Zeuge einer aus vielen Teilen bestehenden großen Erinnerung geworden.« (S.195) Wie bei einem elektronischen Empfänger je nach Wellenlänge Bild und Ton variieren, passt sich in dem Roman die äußere Wirklichkeit an Veränderungen im Gehirnmechanismus an. »Eine fremde Hand hatte mir das Gedächtnis durcheinander gebracht« (S: 220), sagt der Ich-Erzähler, als die Straßen, in denen er sich zurechtzufinden versucht, einfach verschwinden.
Nicht nur der Autor Toptas, sondern auch – nach der Definition von Wolfgang Iser – sein »impliziter Leser« kann bei seiner grenzenlosen Reise im Text seiner Fantasie freien Lauf lassen. Der vielschichtige Text ist für eine Lektüre auf mehreren Ebenen offen, die wiederum zur Schaffung neuer Texte einlädt.
Wie durchlässig die verschiedenen Ebenen sind, wird auch an der zeitlichen Dimension des Romanes deutlich. »Während die Zeit sich in winzigen Schritten dahinquälte, geriet sein Körper in zunehmende Erstarrung. So mochte er schon seit tausenden von Jahren in unterschiedlicher Kleidung unter diversen Namen mit verschiedenen Bürgermeistern an ein und demselben Punkt gestanden haben und zum Anfang des Punktes geworden und versteinert sein«,(S. 81) sagt der Erzähler in seinem Bemühen, sämtliche Zeiten verschwimmen zu lassen. Manchmal spricht er von der »Zeit« auch, als sei sie örtlich aufzufassen, und hebt damit die Unterschiede zwischen den beiden Kategorien auf. Von den Spuren, die ein Verschwundener hinterlässt, heißt es einmal, »die Zeit« hätte sie »längst unter sich begraben« (S. 122), als wäre von einem Stein oder einem Erdhaufen die Rede. Während man in einem anderen Text eine solche Ausdrucksweise als metaphorisch zu werten hätte, darf man bei Toptas davon ausgehen, dass die Wörter in ihrer ursprünglichen Bedeutung aufzufassen sind. An den dominierenden Strukturprinzipien der »Unbestimmtheit« und der »Wandelbarkeit« haben auch die fiktiven Personen in den »Schattenlosen« ihren gebührenden Anteil. Die Romanfiguren, die seit dem experimentellen Roman ihre text- und sinntragende Rolle eingebüßt haben, handeln bei Toptas wie die zur Austauschbarkeit neigenden Personen eines postmodernen Romans auf transsubjektive Art und verlieren ihre Individualität. Der Leser, der auf herkömmliche Weise den Spuren der Romanhelden folgt, wird gewiss ins Zweifeln geraten und sich selbst und die Figuren in diesem regellosen Text verlieren. Wenn er sich dann einmal auf die »Wandelbarkeit« einlässt und Anhaltspunkten wie etwa dem Leitmotiv der »Henkersäuglein« nachspürt, wird er bemerken, dass Hauptpersonen wie der Frisör oder der immer wieder auftauchende Ich-Erzähler – und bestimmt noch einige andere – sich immer wieder wandeln und manchmal zwei Figuren wohl eigentlich nur eine einzige sind. Die Menschen eines Simulationszeitalters, in dem keine spezifische Individualität mehr möglich ist, verarbeitet Toptas in der Fiktionsebene, indem er sie ineinander übergehen lässt. Einen Literaturwissenschaftler veranlasste dies zu folgendem Kommentar: »Vielleicht erzählt uns der Autor, dass der Mensch nur er selbst sein kann, wenn er ein anderer wird oder in der Geschichte eines anderen verschwindet.« (6)
Mit Hilfe diverser Fiktionstechniken problematisiert Toptas die Wirklichkeit und hebelt sie aus, in dem er sie ins Wandelbare und Unbestimmte drängt. Er sprengt alle Grenzen zwischen den Elementen, nimmt ihnen ihre spezifische Existenz, und manchmal splittert er die Wirklichkeit in so viele Teile auf, dass sie sich für eine unendliche Vielfalt der Möglichkeiten öffnet. Dieser Roman, in dem sich die reelle und die transzendentale Ebene so sehr ineinander verranken, stimmt zwar vom philosophischen Ansatz her nicht ganz mit der romantischen Auffassung überein, doch spielt er – wie hier schon mehrfach angedeutet wurde – gerne mit deren Elementen. Eines davon ist das Märchen. »Beim Entwickeln meiner eigenen Sprache greife ich auf den Fundus an Märchen und Sagen zurück, mit denen ich aufgewachsen bin. In gewisser Weise versuche ich, die Erzählweise der Märchen und Sagen in die Dimensionen des zeitgenössischen Romans zu übertragen« (7), erklärt Toptas. Diese in der Literaturwissenschaft unter der Bezeichnung »Magischer Realismus« figurierende Strömung, die vor allem unter lateinamerikanischen Schriftstellern verbreitet ist, gehört zu dem gemeinsamen Nenner, auf den die Romantiker des 19. Jahrhunderts und die Moderne gebracht werden können. In den »Schattenlosen« tritt diese Tendenz, die zur surrealistischen Dimension des Romanes beiträgt, in den Schlüsselszenen hervor, in denen durch einen »Liebeszauber« selbst ein Pferd in den Wahnsinn getrieben wird und sich zwischen einem Mädchen und einem Wesen, das nach Art des Minotaurus halb Mensch und halb Bär ist, eine Liebesgeschichte abspielt. Einem Literaturwissenschaftler zufolge lassen sich in der Geschichte mit dem Bären Anklänge an ein Märchen mit dem Titel »Ayıgabak« finden, das man sich in der Gegend der westanatolischen Stadt Denizli erzählt, der Heimat von Toptas.
Eine weitere Erzähltechnik, die nicht nur die »Schattenlosen«, sondern überhaupt die meisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienenen postmodernen Texte in eine Art Verwandtschaft mit den Romantikern des 19. Jahrhunderts bringt, ist die Metafiktion. Diese seinerzeit als »romantische Ironie« bezeichnete Methode besteht darin, dass der Autor die Grenzen zwischen seinem wirklichen Leben und der Fiktion, die er gerade verfasst, verschwinden lässt. Wenn die Romantiker sich mitten aus dem Text heraus direkt an den Lesern wandten und ihn somit auf die Textebene brachten, so verfolgten sie damit wohl hauptsächlich das Ziel, alle Grenzen aufzuheben, die sie am Erreichen des Unendlichen hinderten. Den postmodernen Autoren und somit auch Toptas geht es vielmehr darum – wie es auch Calvino einmal ausdrückt –, die Literatur zu einem »Spiel« zu machen, das zusammen mit dem Leser gespielt wird; anstatt die Wirklichkeit widerzuspiegeln, die Außenwelt, wollen sie das Schreiben an sich ins Zentrum ihrer Texte stellen und dessen Geschichte schreiben, also die »Fiktion der Fiktion«. In der Tat wird der implizite Leser, der den Text auf zwischen den Zeilen Verstecktes hin durchforstet, begreifen, dass eines der hauptsächlichen Fiktionsprinzipien dieses vielschichtigen Textes, der sich aus dem Dunstkreis der zeitgenössischen Existenzproblematik herausgelöst hat und für Deutungen offen ist, auf der Ebene der Metafiktion verwirklicht wird, denn der Roman steckt voller Hinweise darauf. Ein Mann, der einmal in dem Frisörsalon in der Stadt auf eine Rasur zu warten scheint, entpuppt sich als Romanschriftsteller. »Vielleicht war ich mit verwirrtem Gesicht dabei, an meinem Roman zu basteln, der noch immer keinen Namen hatte. Ich war also weit weg, wörterweit, ja seitenweit weg« (S. 98), sagt er, und diese Worte könnten auch dem auf der realen Ebene weilenden Schriftsteller namens Hasan Ali Toptas zugeschrieben werden, der damit zu einem Teil seines Romangeflechts geworden wäre. An einer anderen Stelle äußert dieses auf zwei Ebenen zugleich agierende Wesen über die Romanfiguren: »Sie gingen mir alle nicht aus dem Kopf ... in gewisser Weise befand ich mich mitten unter ihnen.« (S. 147) Gegen Ende des Romans wird der Leser mit der Eventualität konfrontiert, dass das Zwischending aus Romanfigur und Schriftsteller, das den Schleier, der über so manchen zwischen den Zeilen versteckten Geheimnissen liegt, zwar etwas anhebt, aber nie ganz lüftet, womöglich die ganze Zeit nicht aus seinem Zimmer gegangen ist. Ganz zum Schluss setzt Toptas alles daran, dass der Leser denkt, der Junge, der von dem Hybridwesen nach Rasierklingen ausgeschickt wird – Toptas selbst hatte damals einen Sohn in diesem Alter – habe sich in den in der Fiktion nach Rasierklingen ausgeschickten Frisörlehrling verwandelt, der dem um sich greifenden Zauber des Verschwindens erliegt. Diese Metafiktion bildet den Höhepunkt des Fiktionsprinzips, das alle Grenzen zwischen den Ebenen aufhebt und sich gegen alles sträubt, was irgendwie eindeutig aussieht.
Dieses Prinzip, das sich auch gegen jegliche Hierarchie philosophischer, ethischer, wissenschaftlicher oder ontologischer Natur stemmt, kann auch im Zusammenhang mit den postmodernen Begriffen »Pluralität« und »Simultaneität« gesehen werden. Das wichtigste Element, das Toptas bei der Anwendung dieses Prinzips einsetzt, um die Durchlässigkeit zwischen den Ebenen zu gewährleisten, ist der »Spiegel«, der mit seiner aus den Tiefen der Psychoanalyse kommenden archetypischen Beschaffenheit die im Zentrum des Romans stehende Existenzproblematik treffend symbolisiert. Einen Frisör als Hauptfigur hat sich der Autor wohl nicht zuletzt deshalb auserkoren, weil jener in einem Raum voller Spiegel arbeitet. Der Spiegel ist für die Figuren in den »Schattenlosen« ein Mittel, um auf andere räumliche bzw. existentielle Ebenen zu gelangen. Über einen Frisörkunden sagt der Ich-Erzähler: Er »stand sogleich aus dem Stuhl auf und trat aus dem Spiegel heraus« (S. 62). Von einem Kunden, der einschlief, während er in den Spiegel schaute, heißt es: »Er ist nicht mehr da.« (S. 66) Zugleich wird der Spiegel auch als Metapher für die Tätigkeit die Herstellung der Fiktion gebraucht. Durch seinen zwar eigentlich unwahren, aber doch ein Stückchen Wahrheit beinhaltenden Charakter ist der Spiegel seit jeher dazu geeignet, die Welt der Fiktion zu symbolisieren. Nicht von ungefähr hat Stendhal den Roman als einen Spiegel bezeichnet, »den man eine Straße entlangträgt«. Bei Toptas ist der Spiegel zugleich Teil der Metafiktion. Der Autor lässt oft »spiegelbestückte Vögel« (S. 59) durch den Roman fliegen, und der Topos des Spiegels wird durch Märchenvögel aus der Fiktionswelt angereichert. Die einzige Romanfigur – mit Ausnahme des in den Text geschlichenen Autors –, die mit dem Akt des Schreibens zu tun hat, ist Cennets Sohn, der seine Briefe mit Vögeln verziert, die sich gegenseitig spiegeln. Auf der intertextuellen Ebene, einer Art Fortsetzung der Metafiktion, spielt Toptas auf das Werk »Mantık-ut-Tayr« (Vogelsprache) des iranischen Dichters Attar (12. Jh.) an. (9)
Wir leben in einer Zeit, in der sowohl Gott vom Thron gestoßen wurde als auch sein Vertreter auf Erden, der Mensch als Individuum, und in der alle Werte auf den Kopf gestellt werden. Die moderne Kunst scheint schon lange darauf verzichtet zu haben, die Wirklichkeit dieses geschichtlichen Augenblicks, dessen Grenzen immer mehr verschwimmen, noch »widerspiegeln« zu wollen. Der zeitgenössische Künstler verhilft dieser neuen Welt, die sich durch den Zauberstab von Wissenschaft und Technologie in das mythologische Universum alter Zeiten zu verwandeln beginnt, mitsamt dem entfremdeten Menschen, der in ihr lebt, mit den ihr gemäßen Mitteln experimenteller Fiktion zu neuen Formen. Genau das ist es, was Hasan Ali Toptas in seinen »Schattenlosen« tut. Zwar stimmt die fiktionale Welt der »Schattenlosen«, in der die Wirklichkeit von der Kunst unter die Lupe genommen und dadurch vielfältig gebrochen wird, nicht hundertprozentig mit der Phänomenwelt deterministischer Prägung überein, doch die ins organische Geflecht des Textes eingesickerte Essenz der Einsamkeit, der Kommunikationslosigkeit und der Entfremdung gibt die Wirklichkeit unseres Zeitalters in ihrer ganzen Nacktheit wieder: Es ist dies die Wirklichkeit der experimentellen Literatur. Hasan Ali Toptas ist einer der wichtigsten Vertreter dieser in den letzten Jahren weltweit auf den Plan getretenen neuen Literatur, und er ist ein Meister der Sprache und der Fiktion.
Copyright by Yildiz Ecevit
Übernahme mit freundlicher Genmehmigung der Autorin
Anmerkungen:
(1) Picus (Zeitschrift), Istanbul, Ocak/Januar 2006
(2) Cumhuriyet/ Kitap (Literaturbeilage der Zeitung), Istanbul, 5.9. 1996
(3) a.a.O
(4 )a.a.O
(5) a.a.O
(6) Pelin Aslan, Varlik (Zeitschrift), Ekim/Oktober 2005
(7) Cumhuriyet/Kitap, 5.9. 1996
(8) Seval Sahin, Gösteri (Zeitschrift), Istanbul, Subat-Mart / Februar-März 2003
(9) s. Pelin Aslan