Anne Leray: Was hat Ihr Interesse an den Indianern des Amazonasbeckens geweckt?
Betty Mindlin: Die Liebe zur Vielfalt, ein grundsätzliches Eintreten gegen den Rassismus, die Freude an der Beschäftigung mit der brasilianischen Geschichte und mit unseren afro-brasilianischen Wurzeln. Ich bin eine Enkelin osteuropäischer Einwanderer. Entwurzelung und Heimischwerden sind mir gleichermaßen vertraut. Ich kämpfe für die Freiheit, die Wurzeln bewahren zu können. Meine Sammlung Moqueca de maridos belegt einen kulturellen Reichtum, der den Brasilianern selbst bisher nicht bekannt war.
Wann sind Sie den brasilianischen Ureinwohnern erstmals begegnet?
Als ich 1978 mit meiner Arbeit in Rondônia begann. Ich habe mit der Suruí-Gemeinschaft während eines Zeitraums von zwei Jahren immer wieder zusammengelebt. 1983 habe ich zusammen mit einer Gruppe von Forschern mit dem Projekt begonnen, die Situation dieser Völker zu erfassen und ihre Forderungen der Regierung zu übermitteln. 1987 gründete ich eine Nichtregierungsorganisation, um unsere Gesundheits- und Bildungsprojekte besser umsetzen zu können. Ich baute ein Programm auf zur Ausbildung indianischer Lehrer für die offiziellen Kultur- und Sprachschulen, die mittlerweile als gleichwertig zu nicht-indianischen Schulen anerkannt werden. Die Indianer können heute ihre eigenen Sprachen schreiben. Bevor die neue Verfassung 1988 in Kraft getreten ist, mussten sie sich vollständig assimilieren und Portugiesisch lernen. Das war ein kultureller Genozid.
Wie viele Indianer leben heute in Brasilien?
Die Bevölkerungszahlen sind nun wieder etwas angestiegen, nachdem sie in den letzten fünfzig Jahren beträchtlich gesunken waren. Heute leben rund 700 000 Indianer in Brasilien. Wir haben Programme zur Gesundheitsförderung und Impfkampagnen durchgeführt, die die Situation verbessert haben. Politisch sind den Indianern ihre Landrechte heute garantiert. Es gab dabei sogar Tote; die Festlegung der Grenzen war ein harter Kampf. Wenn es nicht eine nationale und internationale Unterstützungsbewegung gegeben hätte, wäre das Projekt gescheitert. In einer Region im Mato Grosso lagern exzellente Diamantvorkommen – solche Bodenschätze bergen ein hohes Konfliktpotenzial. Unser Ziel ist, dass die Indianer wirtschaftlich von ihrem Reichtum profitieren können.
Leben die brasilianischen Indianer alle im Amazonasgebiet?
Es gibt rund zweihundert indianische Völker in Brasilien, die 12 % des Landes besitzen. 90 % ihres Landes liegt im Amazonasbecken, aber weniger als die Hälfte der indianischen Bevölkerung lebt dort. Die Großzahl besitzt sehr wenig Land und ist sehr arm.
Waren Sie also bereits politisch aktiv, als Sie die Idee zu diesem Buch entwickelten?
Ich glaube nicht, dass mir die Indianer all diese Geschichten erzählt hätten, wenn ich nicht auf ihrer Seite gewesen wäre. Ich habe bei mir in São Paulo mehr als hundert Indianer empfangen und in politischen oder medizinischen Fragen beraten. Als ich damit begann, sagten sie: Das ist die Frau, die sich für unsere Belange interessiert und unsere Geschichten hören will. Es gibt wenig Anthropologen in Brasilien, die zu den Indianern reisen. Es ist kompliziert, teuer, gefährlich, und häufig wird man Zeuge verzweifelter Szenen, denen man machtlos gegenübersteht.
Woher kommt Ihr Bedürfnis, den Erzählungsschatz der Indianer weiterzugeben?
Die Geschichten faszinieren mich ganz einfach. Sie verwenden wirklich wundersame Bilder. Ich war von der Idee bezaubert, dieses Universum zu vermitteln, der Weltöffentlichkeit diese wunderbare Literatur zugänglich zu machen. Ich möchte verhindern, dass die Indianer ihre Erzählkultur einbüßen, sie besitzen einen mythologischen Reichtum, wie wir ihn nicht mehr kennen. Es war für mich eine Verpflichtung, diesen zu vermitteln. Ich hatte ihre Erlaubnis zur Niederschrift, denn ich habe ihnen erklärt, dass ich ein Buch machen wolle, und habe ihnen die Autorenrechte im Voraus vergütet.
Werden diese Mythen heute noch innerhalb der Gemeinschaften weitergegeben?
Die Indianer konnten mir die Geschichten zwar noch erzählen, aber sie pflegen ihre Erzähltraditionen nicht mehr wie früher. Ihr Leben hat sich verändert. Es gibt immer noch die Rituale, etwa den Schamanismus, um Schutz oder eine reiche Ernte zu erbitten, doch dies wird immer seltener praktiziert. Heute brauchen die Indianer Geld für ihre Pflanzungen und für Reisen in die Stadt.
Sie sagen dies etwas wehmütig …?
Es ist wirklich traurig zu sehen, wie Dinge verloren gehen. Aber ich habe auch Hoffnung, denn ich sehe eine Veränderung; die Jungen suchen nach ihren Wurzeln. Ich habe mit den Ältesten gearbeitet, um von ihnen zu lernen, jetzt gebe ich Kurse in Literatur und Anthropologie für junge Lehrer – das verändert mein Leben, ich bin zu einem Bindeglied geworden. Die Indianer werden ihren Weg weitergehen und ihr Volk und ihr Leben weiterführen.
L’Hérault du jour, 21.5.2005