Bereits vor einiger Zeit veröffentlichte Murathan Mungan das Buch 40 Zimmer mit drei Spiegeln. Damals sorgte nicht nur sein Buch für Diskussionsstoff in der Öffentlichkeit, sondern auch die Art und Weise, wie es auf den Markt gebracht wurde. Einige fanden es offensichtlich falsch, eine so große PR-Kampagne für ein Buch zu starten – auch wenn das nicht immer offen geschrieben oder gesagt worden ist. Aber durch die ganze Aufregung litt auch der literarische Wert des Buches; so kam seine Bedeutung nicht richtig zur Geltung. Wir dachten deshalb, dass jetzt genau der richtige Zeitpunkt ist, um mit Murathan Mungan, über eines der wichtigsten Bücher der vergangenen Jahre zu sprechen: 40 Zimmer mit drei Spiegeln enthält drei lange Erzählungen. Jede von ihnen hat fast den Umfang eines Romans. Ein anderer Autor hätte daraus womöglich drei unterschiedliche Bücher gemacht. Hat es einen besonderen Grund, dass die drei Erzählungen nebeneinander stehen?
Die Antwort darauf findet sich im Buch – hier liegen die Verbindungen, Zusammenhänge und die Beziehungen untereinander... Ich bin wohl ein etwas eingebildeter Autor, einer, der sich seines Talents, seiner Kreativität und seiner Materialfülle sehr bewusst ist; einer, der ganz locker durch das Leben geht, der nicht zurückschaut und seinen Reichtum großzügig einsetzt. Ich vertraue letztlich darauf, dass ich alle nötigen Voraussetzungen habe und dass diese noch wachsen werden bzw. dass ich noch viel davon besitze.
Etwas theoretisch ausgedrückt, bilden die drei langen Erzählungen jeweils einen eigenen Kosmos. Dadurch, dass sie nebeneinander stehen, entsteht aber auch eine gemeinsame Bedeutungsebene. Zwischen ihnen existieren zahlreiche Verbindungen, Durchgänge, Fenster. Gemeinsam ist ihnen aber auch, dass die Märchenarchetypen aus meiner Kurzgeschichtensammlung Die 40 Zimmer, die vor 40 Zimmer mit drei Spiegeln erschienen ist, auftreten. Außerdem verbinden sie Elemente der Popkultur, Thesen zum zeitgenössischen Märchen, eine intensive Auseinandersetzung mit der Frauen- und Männerwelt, mit Sexualität und Identität sowie Zitate aus Märchen.
Faktisch ist das Buch eine dreifache Variation auf Alice im Wunderland. Vielleicht hätte jemand mit geringeren Ansprüchen aus den drei langen Erzählungen drei Bücher gemacht. Ich dagegen verschließe die fertige Alice im Wunderland vier Jahre lang in der Schublade. Denn für mich ist der architektonische Gesamteindruck von Bedeutung, der durch das Nebeneinander der drei Erzählungen entsteht. Mir kommt es darauf an, dem Leser die unterschiedlichen Kosmen und persönlichen Schicksale aus einem umfassenderen Blickwinkel heraus gemeinsam zu präsentieren. Deshalb war es mir auch wichtig, die Handlung im Buch zu zerlegen. Ich wollte es als Autor in der Hand haben, ob ich die Handlung bis zum Ende führe. Tatsächlich beweisen die Reaktionen auf das Buch, dass ich mich nicht geirrt habe. Die Erzählungen schöpfen ihre Kraft sowohl aus sich selbst heraus als auch aus ihrem Nebeneinander.
Auch wenn nicht direkt als Antwort auf Ihre Frage, will ich noch hinzufügen: Ich habe bereits von Anfang an ein Profil entworfen, das zu den langen Erzählungen passt. Bei meinem Erzählen habe ich von Anfang an eine bewusste, theoretisch fundierte Position zwischen der Tradition des verschachtelten Märchenerzählens des Ostens und des inszenierenden Erzählens des Westens vertreten. Bekanntlich wird im Westen die Erzählung konstruiert und im Osten erzählt.
Wenn Sie meine Erzählweise betrachten, werden Sie zwischen der konstruierten und der erzählten Erzählung eine neue Ebene entdecken. Diese war von Anfang an mein persönlicher Stil.
Die beiden Techniken scheinen bei Ihnen ineinander verwoben zu sein.
Ganz genau. Letztlich ist die Trennung zwischen östlicher und westlicher Erzählweise natürlich ohnehin nicht so streng. Zum Thema Bühne: Was ich am Theater gelernt habe, kann ich in meinen Erzählungen gut verwenden. Beispielsweise sprechen in meinen Romanen und Erzählungen einige Helden eineinhalb bis zwei Seiten lang durchgehend. Im wirklichen Leben drückt sich kein Mensch über eineinhalb, zwei Seiten so gewählt aus. Wenn ich Wissen und Erfahrung aus dem Theater in das Erzählen übertrage, dann auch mit solchen Dingen. Wenn man bewusst zwischen unterschiedlichen Kunstformen arbeitet, verbindet mandiese stärker miteinander. Es gibt einige Theaterautoren, die wären eigentlich lieber Dichter geworden. Beim Schreiben von Versstücken versuchen sie dann, den Dichter in sich zu befriedigen. Wenn man im Theater eine Replik schreibt, dann schreibt man sie – auch wenn es sich um etwas Poetisches handelt – nicht genauso wie Gedichtverse. Wenn man Theater macht, sollte man poetische Mittel nur als Werkzeug ansehen.
Einige stellen ihre technischen Schwächen so dar, als sei das etwas Postmodernes. Doch dazu braucht man viel Disziplin und Erfahrung, verbunden mit Wissen, Arbeit und Kreativität. Dazu gehört auch eine gute Ausbildung, aber letztendlich schenkt dir die Ausbildung nicht die Empfindsamkeit. Du musst zulassen, dass das Wissen dich durchdringt, dass es dich verwandelt und ein Teil von dir wird. Deshalb lege ich viel Wert auf meine „analphabetische« Ader, wenn ich an etwas arbeite. Ich glaube, dass ich als Dichter auf dieser Welt bin. Meine analphabetische Seite ist dabei sehr wichtig, auch mein Wissen, meine Erfahrung und mein theoretisches Rüstzeug. Aber erst durch die innere Verknüpfung wird meine Kreativität kraftvoll.
Literatur ist letztlich auch eine Form der darstellenden Kunst. Als wichtigste Waffe für gute Leistungen braucht der Autor oder Dichter seine Aufrichtigkeit. Unsere Zeit ist voller fleißiger Autoren und Dichter. Mit Fleiß allein erreicht man zwar eine bestimmte Qualitätsstufe, aber es gibt etwas, das man allein mit Wissen und Kultur nicht erreichen kann, und das ist Aufrichtigkeit.
Zuerst kommt das Analphabetische, sagen Sie.
Ja, das Analphabetische steht an erster Stelle, und es bleibt ein Teil von Dir, wenn Du die übrigen Fertigkeiten einsetzt. Das wichtigste für meinen Erfolg ist meine Ehrlichkeit und dass der Leser mir diese abnimmt. Ich habe einen Vertrag mit dem Leser geschlossen. Wovor ich am meisten Angst habe: Dass ich eines Tages einen Fehler begehe und der vorgestellte Leser Rechenschaft von mir fordert. Das ist meine schärfstes Zensur. Sie hält mich wach und verhilft zu solider Arbeit.
Natürlich mache ich Literatur zuallererst für mich selbst, aber letztlich sind, wie Ursula K. Le Guin sagt, alle Künste darstellenden Künste, und wir sind alle darstellende Künstler. Daneben warnt Ursula K. Le Guin: »Manche Künste sind in der Darstellung tückischer.« Literatur ist die allertückischste Künste. Nicht wie Musik, Theater oder Kino. Ich habe nie über Probleme geschrieben, die nicht meine eigenen waren. Unter Problemen verstehe ich: Selbst wenn es nicht mein persönliches Drama ist, dann doch etwas, das mich beschäftigt...
Die Kunstkritik in der Türkei lässt zu wünschen übrig. Ihr fehlt das Fundament. Das Niveau ist teilweise sehr schlecht. Man weiß nicht so recht, wie man offen und ehrlich an einen literarischen Text herangeht und mit ihm einen Dialog herstellt. Denn lange Zeit wurde Literatur als Politikersatz verstanden. Literatur wurde geliebt und war populär im Dienste der Politik.
Literarische Werke wurde eine Zeitlang an politischen Kriterien gemessen.
Ja, überhaupt bewertete man sie mit fremden Kategorien. Jedes schöpferische Werk trägt ja ohnehin im Kern auch eine politische Haltung. Aber das ist zweitrangig. Jetzt geht der Trend wieder in die falsche Richtung, dieses Mal im Namen des Individualismus. Was während der Militärputsche vom 12. März [1971] und 12. September [1980] eine anonyme politische Handschrift trug, bekommt nun eine persönliche Note. Den meisten Autoren fällt dabei gar nicht auf, welch anonymen Texte sie im Namen des Individualismus verfassen.
Es geht um einen zweifachen Prozess: Wenn du bereit bist, dich mit dir selbst auseinander zu setzen, dann sprießen aus deiner Phantasie auch die richtigen Ideen. Ich habe immer ganz offen gesagt: Wenn ich spüre, dass der Dichter in mir tot ist, lasse ich das Dichten. Niemand zwingt mich, Gedichte zu schreiben. Literatur ist Luxus: Um besser zu schreiben, füttere ich mich laufend und stelle mich selbst in Frage.
Meisterschaft hat ein dramatisches Element. Legt mir ein Kochbuch hin, ich mache ein Gedicht daraus, legt mir ein Telefonbuch hin, ich mache eine Geschichte daraus. Das ist Meisterschaft.
Hat die Meisterschaft auch Schwächen und Fallstricke?
Ja, wenn man sich auf seiner Meisterschaft ausruht, droht Konfektionierung. Wer sich auf seiner Meisterschaft ausruht, setzt sich der Gefahr aus, sich selbst zu kopieren und sich selbst zu reproduzieren. Ich habe von den schlechtesten Beispielen in der Türkei gelernt. Die vielen schlechten Beispiele in meiner Umgebung, waren mir eine gute Warnung. Die schlechten Beispiel waren – ich hoffe, man versteht mich nicht falsch – mehr noch als die guten Beispiele meine großen Erzieher und Lehrmeister.
Namen werden bei uns schon nach kurzer Zeit zu Institutionen. Deshalb genieße ich nun den Luxus, auch schlechte Bücher schreiben zu können. Aber darauf musste ich 20 Jahre lang warten. Niemand zwingt uns zur Kunst. Wenn wir etwas machen, sollten wir uns zuallererst nicht vor der Literaturgeschichte rechtfertigen, sondern vor uns selbst.
Es gibt zwei Typen: Diejenigen, die ich Techniker nenne, die mit Kultur, Fleiß und Hartnäckigkeit ihr Handwerk betreiben. Und solche, die nur mit Hilfe ihres Talents groß herauskommen und tolle Produkte abliefern, dann aber nicht daran arbeiten und so wieder verschwinden. Talent braucht Pflege. Der Mensch wird nicht durch Kultur zum Dichter, Kultur ist lediglich die Nahrung des Dichters.
Phasen, in denen ich Gedichte schrieb, und in denen ich mich sehr auf Gedichte konzentrierte, waren Phasen, in denen meine Prosa schwach war. Ich durchlebe ständige Wechsel. Bei mir sind diese Übergangsphasen vielleicht schneller, stürmischer und flüchtiger. Wenn ich mich in ein Gedicht vertiefe, entfernt sich meine Grammatik und meine ganze Welt von der Prosa.
Zurück zum Buch: Alice im Wunderland beginnt wie eine gewöhnliche Geschichte. Aber im weiteren Verlauf überrascht sie den Leser zweimal. Plötzlich befindet man sich in einer Science-Fiction-Welt. Aber die eigentliche Überraschung passiert, als die Geschichte auf eine tiefsinnige Weise die heutigen und künftigen gesellschaftlichen Beziehungen und die so genannte virtuelle Realität der Kritik unterzieht.
Ich baue als Erzähler Fallen ein. Die Leserfalle dient aber nicht der Leserjagd, sondern ich stelle sie, um den Leser mit seinen ideologischen Schwächen zu konfrontieren. Zum Beispiel in einem bestimmten Text. Wenn du den Leser dazu bringst, seine Schwäche zu erkennen, wird er dich anders lesen. Wenn der Leser die Falle erkennt, in die er geraten ist, bleibt er nicht mehr der Alte. Er muss etwas unternehmen.
Alice im Wunderland ist eine Liebesgeschichte, aber es geht um eine aussichtlose Liebe. Wollen Sie sagen, in dieser von uns als real empfundenen Welt ist wahre Liebe nicht möglich...
Daraus müsste man eine große Lebensphilosophie ableiten und zeigen, was meine Meinung über die Liebe ist. Was Sie sagen, ist nicht ganz falsch. Ich stelle das zur Diskussion. Ich erzähle zwar eine Geschichte, die in Amerika handelt, aber ein aufmerksamer Leser könnte meinen, dass er eine Geschichte von jemandem in Mesopotamien liest, der die mystischen Bedeutungen der Liebe erörtert. Ich beschäftige mich nicht deshalb mit Science-Fiction, weil sie zurzeit im Trend ist. Ich habe vielmehr meine eigenen Stoffe mit Science-Fiction verknüpft. Sie können sich das wie ein Theaterstück vorstellen. Der Erzähler ist jemand, der Chomski und Baudrillard gelesen hat. Der Einsatz von Medien, Visuellem, Technologie... da ich das nicht als politischen Text geschrieben habe, verbinde ich es mit Momenten und Situationen.
Wenn wir noch einmal zurückgehen zu meinen persönlichen Beitrag zum Erzählen: Er besteht darin, dass ich weiß, wie man für die Bühne schreibt. Ich kann Ideen und Ansichten in meine Stücke einbinden. Durch die Lektüre von Carl Sagan habe ich viel gelernt. Während der Lektüre habe ich wegen des Schlusses von Alice im Wunderland diese Geschichte vier Jahre lange nicht weitergeschrieben. Mein erster Schluss hatte mir nicht zugesagt. Ich war selbst in eine Falle getappt. Was der Geschichte ihre Wucht gab, war, dass ich auf immer wieder auf etwas Neues stieß, je mehr ich mich in Science-Fiction vertiefte.
Das Buch, das ich heute gekauft und gelesen habe, ist ein Physikbuch. Ich lese und schreibe nicht nur Gedichte. Ich studiere auch ernsthaft Physik. Aus Neugierde. Physik zu lernen, kann einen in vielerlei Hinsicht weiterbringen. Ich finde das toll. Ich interessiere mich zwar auch für Geschichte, aber ich studiere Physik. Ich interessiere mich sehr für Steine, Metalle und Mineralien. Ich nennen sie die Kindheit der Welt.
Außer Ihrer Leseerfahrung verfügen Sie auch über eine unglaubliche Beobachtungsgabe. Besonders in Die verspiegelte Konditorei scheint es, als sei Murathan in diese Konditorei gegangen, habe sich tagelang hingesetzt, die Konditorei beobachtet und sich sogar Notizen gemacht.
Soviel Aufwand habe ich gar nicht betrieben. Aber: Ich habe jede Menge Bücher über Beyoÿlu gelesen. Ich liebe es ja, über Istanbul zu lesen. Ich hab alles ganz genau gelesen, was auch immer von wem geschrieben wurde, habe es durcheinander gemischt und mich bemüht, jeden Ort seiner Zeit zuzuordnen. Aber die verspiegelte Konditorei, der ganze Schauplatz ist erfunden. Genau das macht Literatur doch aus. Wer will, dass der Hauptschauplatz der Geschichte Die verspiegelte Konditorei ist, kann das so lesen. Aber meiner Meinung ist es Beyoglu. Beyoglu ist seit 1453 [Eroberung Istanbuls durch Mehmet II.] ein Ort, der sich nicht erobern lässt; das finde ich interessant. Vielleicht werde ich eines Tages schreiben: Von der äußersten Rechten bis zu äußersten Linken – Beyoglu als Nest der Prostitution und Ausschweifung, ein metaphorischer Ort des moralischen Verfalls.
Ich muss noch etwas hinzufügen: Ich bin ein schauspielender Autor, ich verkörpere die Charaktere, über die ich schreibe. Wenn man in meinem Haus eine versteckte Kamera installierte und Sie mich beobachteten, wenn ich eine Geschichte schreibe, würden Sie mich wirklich für einen Geisteskranken halten. Der Akzent, die Klangfarbe, ob am Satzanfang das Subjekt oder etwas anderes stehen soll – das ist mir alles sehr wichtig, ich überlasse hier nichts dem Zufall. Deshalb sehe ich einen Text sehr genau durch, überarbeite ihn, lasse ihn lange liegen.
Leicht gekürzt aus: E Aylik Kültür ve Edebiyat Dergisi, Oktober 1999
Übersetzung: Eric Czotscher