Die Schattenlosen (türk. Gölgesizler) ist ein Roman, in dem Träume die Wirklichkeit selbst sind, in dem sich die Grenzen zwischen Fiktion und Realität auflösen. Ein einzigartiges Werk, eine sorgfältig entwickelte Struktur und eine meisterhafte Sprache treffen hier aufeinander, um von verlorenen Menschen und verlorenen Leben zu erzählen. Diese Elemente verbinden sich zu einem exzellenten Roman, der unzählige Fragen an unser Dasein stellt.
Am Anfang des Romans steht ein Mann, der sich in einem Dorf eingeengt fühlt, ein anderer mit einem Ziegenbart sowie ein weiterer Mann, der die pechschwarzen Steine seiner Gebetskette durch die Finger gleiten lässt. Zu ihnen gesellt sich der Autor im Roman. Der Roman nimmt in einem Frisörsalon seinen Anfang mit einem Frisör und seinem Lehrling. Wir begreifen bereits zu Beginn des Romans, dass wir in einen Tanz hineingezogen werden. Auf zum nächsten Tanz. Diesmal scheint es ein blutiger Tanz zu werden. Es ist der Autor, der auf die Aussage des Frisörs: »Hauptsache Sie erzählen uns was. Ob Sie einen Roman schreiben zum Beispiel« mit Ja antwortet. Dann verstummt der Autor. Er schaut lange auf das Bild einer Taube (türk. Güvercin), das über dem Spiegel hängt.
Danach werden wir Zeugen, wie ein fiktiver Text entsteht, den sich der Autor vorstellt. Für diesen Roman, der noch unvollendet ist, hat der Autor keinen Titel. Die möglichen Welten, die von einem Autor präsentiert werden, von dem wir nicht wissen, ob er sich selbst oder nach einer Geschichte sucht, führen uns zur Diskussion postmoderner Fragestellungen.
Die Ereignisse (im Text) finden im Salon eines Dorffrisörs statt, also an einem »normalen« Ort, an dem sich jeder von uns in der realen Welt befinden könnte, sowie in einem Dorf, das als Schauplatz »außergewöhnlicher« Geschehnisse konzipiert ist. Es dauert nicht lange, da wird die normale Welt immer surrealer. Der Frisör schaut mit großen Henkersaugen auf die Straße, und der Autor im Text spricht: »Es war, als erhebe sich sein Blick über sämtliche Straßen der Stadt und ginge ganz weit in die Ferne, hinter die Berge, an irgendeinen Ort. Vielleicht war dort der Teil des Frisörs, der nicht mehr in ihn hineinpasste, und er saß nun in irgendeinem Dorf, in seiner Frisörskluft, in genauso einem Laden, wandte hin und wieder den Kopf und schaute zu uns herüber.« Im darauf folgenden Kapitel führt er weiter aus: »Dann sah er zum Bürgermeister hinüber, der gerade über den Dorfplatz ging. Die beiden winkten sich aus der Ferne zu. »Du gehst jetzt auch zu diesem Dorf, dachte der Bürgermeister.«
Schließlich bewegen sich die Charaktere stets zwischen diesen beiden Welten. Dadurch werden die feststehenden Grenzen und Normen sowohl des alltäglichen als auch des fiktiven Realismus gänzlich aufgehoben. So ist der Roman nicht ein Spiegel, der die Außenwelt reflektiert, sondern er bleibt auf sich selbst gerichtet.
Der Dorffrisör hat den Platz des früheren Frisörs Cingil Nuri eingenommen, der eines Tages »mir schnürt sich die Seele zusammen« sagt und das Haus verlässt. Obwohl überall nach ihm gesucht wird, bleibt er verschwunden. Das Zeitgefühl ist im Dorf ein anderes, Zeit fließt frei dahin. Der Bürgermeister macht sich auf den Weg in die Stadt, um Cingil Nuri zu suchen, und kehrt erst nach einer langen Zeit, die so lange scheint »wie tausend Jahre«, zurück.
Während sich die Ereignisse in diesem Dorf nicht mit der normalen Zeit messen lassen, finden die Geschehnisse in der Stadt innerhalb von vierundzwanzig Stunden statt. Hier werden also räumliche und zeitliche Grenzen überwunden.
Jeder einzelne (Schatten = Charakter) ist der Autor selbst, es sind seine eigenen Schatten, die Dank seiner Sprache und Literatur auf Namen reduziert sind. Diese Schatten fallen vom Spiegel auf den Text. Die Symbolik der Spiegel-Reflexion wird in postmodernen Texten zur Schaffung eines vielschichtigen Bildes häufig verwendet. Der Andere, den wir im Spiegel erblicken, ist uns vertraut und fremd zugleich.
In Die Schattenlosen wechseln sich diese Motive – Abenteuer und Spiegel-Symbolik – immer wieder ab. Nach dem Abenteuer von Cingil Nuri erleben wir ein weiteres. Resits Tochter Güvercin (dt. Taube) ist verschwunden. Der Bürgermeister glaubt, dass sie von einem der jungen Männer des Dorfes entführt worden sein könnte, sein Verdacht fällt auf Cennets Sohn. Der Autor, der von sich behauptet, er fühle sich wie der Sohn von Cennet, begibt sich in die Geschichte dieser Figur hinein und stellt dabei existenzielle Fragen: Was ist Wahrheit? Was ist Existenz?
Cennets Sohn verliert den Verstand; eine Weile schien er wie vom Erdboden verschluckt, dann taucht er plötzlich wieder auf und wiederholt ständig die Frage: Warum fällt der Schnee? Da der Autor diese Frage stellt, die banal klingt und auf die jeder von uns die naturwissenschaftliche Antwort kennt, wird sie zu einem nur schwer zu entschlüsselnden Gleichnis, zu einem Rätsel über das Leben.
Cennets Sohn findet Güvercin in den Bergen. Er packt sie und trägt sie auf seinen Schultern ins Dorf. Güvercin ist schwanger, doch die Frage nach dem Vater des Kindes lässt sie unbeantwortet. Ihr Vater sperrt sie daraufhin in den Stall. Er hält vor der Tür Wache und lässt niemanden zu seiner Tochter. In dieser Zeit bemerkt er einen Bären, der um das Dorf herumstreicht. Die Dörfler machen sich auf die Jagd nach dem Bären, und der Frisör, der schon jahrelang im Dorf lebt und sich dennoch nicht von den Döflern angenommen fühlt, erschießt den Bären. In diesem Moment setzen bei Güvercin die Wehen ein. Die Frauen des Dorfes beginnen bei dem Anblick, der sich ihnen schließlich bietet, zu schreien. Güvercin hat offenbar einen Bären zur Welt gebracht!
Der Tag bricht an, die Umgebung ist durch die Anwesenheit der Müllwagen von einem Geruch »wie auf dem Dorfplatz« erfüllt. Der Erzähler-Autor geht in seine Wohnung in der Karadüs-Straße. »Wie üblich stand ein Fensterflügel offen. Gut so, dachte ich, als ich müde die Treppe hinaufstieg; trotz all der Hindernisse, die sich mir in den Weg stellen, scheine ich immer noch zu schreiben.«
Auf den letzten Seiten des Romans erfahren wir, dass der Autor gerade im Begriff ist, sich zu rasieren. Weil er keine Rasierklingen mehr vorrätig hat, schickt er seinen Sohn los, um welche zu besorgen. Der Sohn kehrt erst nach einer Weile zurück. Er erzählt, dass er, da der Supermarkt geschlossen war, bis zum Ende der Straße laufen musste. »Du hast dir ja den Rasierschaum schon abgewaschen«, sagt der Sohn verwundert. Der Autor hat sein Gesicht gewaschen und sich im Spiegel verloren. Von diesem Spiegel aus geht er zu einem Frisörsalon, in ein Dorf und kehrt zurück. Der Sohn des Autors überrascht uns mit der Zeitungsmeldung: »Ein Mädchen ist von einem Bären entführt worden!«
Wir begegnen also einem Autor, der in die Welt des Textes geflüchtet ist. Damit mögliche Welten auch wirklich werden können, muss das menschliche Wesen an diese Welten glauben, sie in der Fantasie zum Leben erwecken und herbeisehnen. Hasan Ali Toptas ist es gelungen. Er hat eine Welt erschaffen, in der es möglich ist, die Grenzen zwischen Realismus und Fantasie aufzuheben. Aber warum? Sucht der Autor sich selbst, oder sucht er eine Geschichte, die er schreiben kann? Offenbar begibt sich Toptas beim Schreiben sehr wohl auf die Suche nach sich selbst, und in den Spiegeln hat er nach dem anderen gesucht, in dem er sich spiegeln kann. ie Protagonisten des Romans sind »schattenlos«, es gibt nichts, was sie vor ihrem bewussten Gedächtnis verbergen könnten. Sie haben keine verborgenen Seiten, und sie sind so durchsichtig wie ein Spiegel.
Arslan, Pelin: Kendini arayan bir yazarsn postmodern öyküsü. In: Varlsk. Ekim 2005. S, 60-67.
Aus dem Türkischen (Auszüge), übersetzt von Fatma Sagir