Vor einigen Monaten hatte ich die Gelegenheit, an einem literarischen Treffen teilzunehmen, das mir wieder einmal zeigte, in welchem Ausmaß Schriftsteller im Laufe der Jahre aufhören, das zu sein, was sie waren, und so werden, wie wir wünschen, sie seien es gewesen. Organisiert von der Verwaltung der Finca Vigía, konnte die Konferenz keinen anderen Protagonisten haben als Ernest Hemingway, den mythischen Eigentümer der kleinen Villa in San Francisco de Paula, unweit der kubanischen Hauptstadt. An einem Ort, der von seinem eigenen Schöpfer als Museum vorgesehen wurde und der nach seinem Tod zu einer Art literarischem Heiligtum geworden ist.
Die Teilnehmer waren allesamt Liebhaber der Werke des großen nordamerikanischen Schriftstellers und hatten eines gemeinsam: Sie betrachteten sich als »kubanische Hemingwayanos«. So habe ich es im Laufe der Vorträge und Diskussionsrunden zum Leben und Werk Hemingways immer wieder gehört. Das Merkwürdige an dieser Namensgebung ist, dass es sich nicht um eine von außen verliehene Bezeichnung handelt. Schließlich gibt es Schriftsteller, die aufgrund ihrer epigonalen Beziehung beispielsweise zu Lezama Lima oder Alejo Carpentier von der Kritik als Lezamianos oder Carpentarianos betrachtet werden. Hier geht es aber um eine Zugehörigkeit, die freiwillig gewählt wurde. In einem sonderbaren Glauben vertiefen sich diese Leute in ihre biografischen und literaturwissenschaftlichen Studien über Hemingway und erklären offen ihre Zugehörigkeit zu einer »Partei«, deren einziges Statut in der bedingungslosen Verteidigung des Bronzegottes nordamerikanischer Literatur besteht.
Selten kann man in unseren Tagen noch so einen Glauben antreffen, da doch an immer weniger Dinge geglaubt wird. Oder wird man gläubig, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht? Als besonders bezeichnend erweist sich, dass diese kubanischen Hemingwayanos ihre Positionen unerschütterlich aufrechterhalten, obwohl sie den schlechten Ruf kennen, den ihr Idol in letzter Zeit erhalten hat. Auch wenn einige von ihnen bereits gemerkt haben, dass der Autor von Der alte Mann und das Meer nicht genau das war, was man als vollkommen akzeptabel bezeichnen kann. Diese Nähe zum Mythos Hemingway ist unter Professoren, Kritikern und Museumsleuten genauso wie unter gewöhnlichen Lesern und Angestellten im Tourismusbereich zu beobachten und auf Kuba ziemlich verbreitet. Denn hier, wo die Literatur eine lange Liste an Namen spanischsprachiger und vielleicht gar universaler Literatur hervorgebracht hat, betrachtet das kollektive Unterbewusstsein Hemingway als eine Art Personifizierung des Schriftstellers an sich. Er wird als Maßstab benutzt, wenn über Literatur gesprochen wird.
Von größter Bedeutung ist Hemingway über diese ungeteilte Anerkennung hinaus als literarische Referenz für die vielen kubanischen Schriftsteller, die sich von ihm beeinflusst fühlen. Dabei spielt überhaupt keine Rolle, dass sie dem knappen Stil des Autors so unvergesslicher Erzählungen wie Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber oder Die Killer völlig fern stehen oder keineswegs Anhänger bestimmter hemingwayscher Theorien wie die des »Iceberg« sind.
Nicht weniger offensichtlich ist das »touristische« Schicksal des Schriftstellers. Sein zugkräftiger Name hat ihn zur Hauptattraktion der Bar Floridita gemacht, wo – zu Preisen, die Hemingway niemals bezahlt hätte – Daiquiris verkauft werden, wie er sie einst dort getrunken hat, mit einer doppelten Menge an Rum und ohne Zucker. Im Osten der Hauptstadt gibt es zudem die Marina Hemingway. Sie ist dem internationalen Tourismus vorbehalten – und bleibt den nacionales folglich versperrt. Dort sind der Name des Autors und die Titel seiner Werke zu Werbeslogans geworden.
Als ob das noch nicht genug wäre, wird jedes Jahr auf Kuba der Torneo Hemingway, ein Fischfangturnier, veranstaltet. Und auf den Cayos nördlich von Camagüey wurde ein Touristen-Resort mit seinem Namen aufgebaut, ganz zu schweigen von dem Restaurant La Terraza, das zu Hemingways Zeiten eine Fischerkneipe war und damit prahlt, dass er häufig hier zu Gast war.
Die Aura seines Namens ist also beträchtlich, und Hemingway hat sie mit mythischen Geschichten, die er im Laufe seines Lebens selbst in Umlauf brachte, zusätzlich gewürzt. Kein Wunder, dass es die kubanischen Hemingwayanos gibt und dass sie stolz sind auf ihre geistige Verwandtschaft mit ihm. Das Kuriose an dieser kulturell-touristisch-mystischen Vereinnahmung des Schriftstellers ist, wie selten die dunklen Züge von Ernest Miller Hemingway ans Licht kommen, und das waren – wie man weiß – nicht wenige.
Als Erstes könnte einem auffallen, wie eingeschränkt die Beziehung war, die der Autor von Inseln im Strom zu Kuba und den Kubanern unterhielt. Trotz der langen Zeit, die er in dem Land verbrachte (seit den Dreißigerjahren bis einige Monate vor seinem Tod), lebte Hemingway nie wie die Kubaner, noch lebte er mit ihnen zusammen. Zudem beging Hemingway in seinem Leben Gemeinheiten, die bei einem anderen Schriftsteller, sogar einem kubanischen, unverzeihlich gewesen wären. Angefangen bei den Attacken auf seine einstigen Mentoren – Sherwood Anderson und Gertrude Stein – bis hin zu den Beleidigungen seiner Schriftstellerkollegen: dem »armen« Scott Fitzgerald und vor allem John Dos Passos, den er mitten im Spanischen Bürgerkrieg dem Stalinismus ausgeliefert hatte. Man ergänze dies mit seiner Affinität zur Gewalt, seiner Liebe zu Waffen und dem Talent, seine eigene Biografie zu mythifizieren und zu modellieren, und heraus kommt eine Persönlichkeit, die nicht wirklich als liebenswert im Gedächtnis bleibt.
Zwei Aspekte sind es vielleicht, die viele der dunklen Seiten dieser Persönlichkeit vergessen lassen: seine Literatur und sein Tod. Über die hemingwaysche Fähigkeit, Schönheit, herausragende Figuren oder Momente der Rebellion zu gestalten, ist bereits genug gesagt worden: Er ist zweifellos einer der wirkmächtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, und sein Werk gehört zu jener Literatur, die am stärksten vom Leser verinnerlicht wurde. Sein Tod am 2. Juli 1961, als er sich das Gehirn wegpustete, hat ihn menschlicher gemacht. Jener Hemingway, der in seinen letzten Lebensjahren am Rand einer Neurose schweres Leid durchlebte, der nicht mehr trinken, lieben, jagen und kaum mehr schreiben konnte, gewann neues Ansehen. Ein trauriger Hemingway, am Ende einsam Aug in Auge mit seinem Schicksal, ohne die vielen schützenden Masken, mit denen er sich im Laufe der Jahre geschmückt hatte: die des Jägers, des Boxers, des Guerilleros, des Experten für Stier- und Hahnenkampf.
Dieser Hemingway, alt, abgemagert, nackt ins Leben geworfen, ist der Echteste aller Hemingways, die man kennt. Und der Schuss an jenem 2. Juli war eine der menschlichsten und dramatischsten Taten in seiner so kurzen wie unglücklichen Existenz.
10. August 2001.