Endlich sei es mir gestattet, einige Worte über Rhodopis zu sagen. Dass sie ein ganz außergewöhnliches Weib gewesen sein muss, beweisen die in Anmerkung 10 und 14 des ersten Theils angeführten Stellen des Herodot und die Mittheilungen vieler anderer Schriftsteller. Dass sie schön gewesen sei, geht schon aus ihrem Namen hervor, der zu deutsch »Rosenwange« bedeutet. Auch ihre Liebenswürdigkeit wird ausdrücklich von dem Halikarnassier hervorgehoben. In welchem Grade sie mit allen Vorzügen ausgestattet gewesen sein muss, lässt sich am besten daraus entnehmen, dass die Sage und das Märchen bemüht gewesen sind, ihren Namen unsterblich zu machen. Rhodopis soll »wie viele behaupten« die schönste der Pyramiden (die des Mycerinus oder Menkera) erbaut haben; eine Erzählung von ihr, welche Strabo und Aelian bringen, bildet vielleicht die Grundlage zu einem unserer ältesten und schönsten Volksmärchen, dem Aschenbrödel, ja eine Sage von Rhodopis ist nahe verwandt mit unserer Loreleymähre. Nach Aelian raubte ein Adler, nach Strabo der Wind die Schuhe der zu Naukratis im Nile badenden Rhodopis, und legte sie zu Füßen des auf dem Markte Gericht haltenden Königs nieder. Dieser war entzückt über die Zierlichkeit der Sandalen und ruhte nicht eher, bis er die Besitzerin derselben aufgefunden und zu seiner Gemahlin gemacht hatte.
Die Sage erzählt, dass auf einer der Pyramiden ein wunderholdes, nacktes Weib throne, das durch seine Schönheit die Wüstenwandrer um den Verstand bringe (»homines insanire faciat«). Ihr Name sei Rhodopis. Th. Moore, welcher diese Sage dem Zoega'schen Werke entlehnt hat, benutzt sie zu folgenden Versen:
»Fair Rhodope, as story tells
The bright unearthly numph, who dwells
'Mid sunless gold and jewels hid,
The lady of the Pyramid.«
So fabelhaft all' diese Mittheilungen klingen, so schlagend beweisen sie, daß Rhodopis ein Weib von ganz außergewöhnlicher Art gewesen sein muss. Wenn einige Gelehrte die Thracierin mit der schönen und heldenmüthigen Königin Nitokris gleichsetzen, von der Manetho bei Africanus, Eusebius u. A. redet, und deren Namen sich in der That (er bedeutet »siegreiche Neith«) als der einer der sechsten Dynastie angehörenden Königin auf den Denkmälern wiedergefunden hat, so conjiciren sie zu kühn, geben aber neue Belege für die Bedeutsamkeit unserer Heldin. Zweifelsohne sind die auf die Eine bezüglichen Sagen auf die Andere übertragen worden und umgekehrt. Herodot lebte viel zu kurze Zeit nach ihr und erzählt viel zu genaue und realistische Dinge aus ihrem Privatleben, als dass sie eine bloße Sagengestalt gewesen sein könnte. Das Schreiben des Darius am Ende des dritten Bandes soll die hellenische Rhodopis mit der Pyramidenerbauerin der Sage vermitteln. Ich will hier noch erwähnen, daß die erstere von Sappho »Doricha« genannt wurde. So mag man sie gerufen haben, ehe sie den Beinamen der Rosenwangigen erhielt.
Aus: Georg Ebers, Eine ägyptische Königstochter, Historischer Roman, 1879. http://gutenberg.spiegel.de/ebers/aegypt/aegypt.htm