Zhang Jie
Über das Buch »Abschied von meiner Mutter«
Dieses Buch ist eine Erinnerung an meine Mutter. Es ist ein Tatsachenroman, der die letzten Monate unseres gemeinsamen Lebens erzählt. Aus engster Nähe schildert es unsere Kämpfe gegen den Tod. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen Mutter und Tochter.
Das unzertrennliche Band zwischen uns wuchs über ein halbes Jahrhundert hinweg. Eine Tochter wurde hundert Tage nach der Geburt von ihrem Vater verlassen. Eine Frau wurde von ihrem Mann mit einem Neugeborenen sitzengelassen, ohne Geld und Arbeit. Was dann kam: Feuersbrunst, Überschwemmungen, japanische Armeen, Bürgerkriege. Wer kann sich unser Leben ausmalen? Aber wir überlebten.
Erst als ich mit dem Schreiben begann, erkannte ich, wie sich die Haltung meiner Mutter zum Tod in ihren letzten Monaten änderte. Zunächst kämpfte sie, leistete mit all ihren Kräften Widerstand und wollte nicht nachgeben. Sie konnte mich doch nicht verlassen, nach allem, was wir zusammen durchgemacht hatten … Und auch ihre Enkelin liebte sie so sehr! Doch dann begann die Veränderung. Die Rastlosigkeit schwand, sie wurde ruhig. Es war, als ob sie mit dem Tod ein Abkommen geschlossen hätte, sie sah ihn nicht mehr als ein Abreisen, sondern als eine Rückkehr. Als die Stunde kam, ging sie ohne ein Zeichen von Gram, Angst, Klage oder Auflehnung. Ich sehe ihr Gesicht noch jetzt vor mir: friedlich und heiter wie in tiefem Schlaf.
In meinem Leben habe ich die meisten Ziele, die ich mir setzte, erreicht – auch wenn sie zunächst schwierig und unerreichbar schienen. So hatte ich mir auch in den Kopf gesetzt, meine Mutter vor dem Tod zu retten. Aber ich scheiterte. Zuletzt verlor ich sie. Zu sehen, wie ihre Krankheit Tag für Tag voranschritt, war die aufwühlendste Erfahrung meines ganzen Lebens. Es war meine erste bewußte Begegnung mit dem Schicksal. Wie unaufhaltsam, wie unbesiegbar es ist! Ob meine Mutter dies in ihren letzten Tagen auch erkannt hat?
Als Schriftstellerin, als Freundin, Tochter, Ehefrau und Mutter habe ich für die Liebe einen hohen Preis bezahlt. Das Widerwärtige auf dieser Welt und die dunklen Seiten der Menschennatur haben mich so enttäuscht, daß ich in tiefer Niedergeschlagenheit versank. Gescheiterte Ehen haben mich erst recht einsam gemacht. Nur auf die bedingungslose Unterstützung und Liebe meiner Mutter konnte ich immer zählen. Sie verstand alles, sie nahm alles hin, und sie beklagte sich nie. Sie war meine letzte Zuflucht. Ohne sie wäre mein Leben verkrüppelt und unvollständig geworden. Nun realisierte ich, daß alle anderen Formen der Liebe ersetzt werden können, aber die Liebe der Mutter gibt es nur einmal auf der Welt. Wir können unsere Mutter nie so lieben, wie sie uns liebt. Im Glück denken wir selten an sie. Aber wenn Traurigkeit uns erfüllt, kehren wir immer zu ihr zurück.