Herr Laor, in Ihrem aktuellen Roman lassen Sie einen israelischen General – nach seiner Läuterung zum feinsinnigen Kunst- und Literaturliebhaber – aus Ekel vor seiner „Lebensleistung“ die Auslöschung seiner selbst und der von ihm gegründeten Spezialeinheit betreiben. Seine Selbstauslöschung mißlingt insofern, als er, durch einen Schlaganfall gelähmt, lediglich seine Handlungsfähigkeit einbüßt und sich auf diese Weise ausklinkt aus dem ewigen Kreislauf aus Vergeltung und Wiedervergeltung. Beschreiben Sie einen kollektiven oder einen individuellen Ausweg?
Er möchte seine Einheiten, diese verbrecherischen Spezialeinheiten, auslöschen. Aber sein Plan ist zum Scheitern verurteilt, weil er eine Phantasterei ist, vollkommen unrealistisch. Durch sein Scheitern erkennt er, daß niemand etwas wirklich anstoßen kann, weil er Teil eines größeren Mechanismus ist – und er findet keine Möglichkeit, sich außerhalb dieses Apparats zu stellen, an dem er selbst mitgewirkt hat, dessen Teil er war. Aber als israelischer Autor nach Deutschland zu kommen und zu sagen: niemand ist verantwortlich, weil er Teil einer Maschinerie ist, wäre natürlich nicht akzeptabel für Ihre jüdischen oder deutschen Leser. Wenn Sie das Buch gründlich lesen, werden Sie merken, daß ich sehr wohl einen anderen Ausweg anbiete: Lotem hat nämlich ein Alter Ego, einen sephardischen Juden namens Antebi. Antebi will nicht länger Teil des Systems sein, weil er verstanden hat, daß das für ihn bedeuten kann, zum Mörder zu werden – und er will kein Mörder sein.
Verweigerung, ebenso wie Sabotage, ist in der Regel ein individueller Akt von großem Risiko, der impliziert, daß es auf der anderen Seite einen großen dominierenden gegensätzlichen Konsens gibt. Was muß passieren, daß dieser aufgebrochen werden kann?
Sie meinen aus einem moralischen Blickwinkel, von außerhalb der Literatur? Sehen Sie: ich war leichtsinnig genug, zu glauben, daß niemand mich bestrafen würde, da mein Anliegen – oder das Anliegen der außerparlamentarischen Linken – ja ein gerechtes ist. Wir befinden uns im Recht. Dennoch wurde ich immer wieder bestraft für meine Überzeugungen – nehmen Sie das Verbot meines Stückes über den Libanonkrieg oder die vergebliche Hoffnung auf eine Dozentur. Der Konsens in Israel ist aus bestimmten politischen Gründen sehr einseitig und vor allem emotional geprägt. Es läuft immer darauf hinaus: „Wenn‘s dir hier nicht gefällt, geh doch woanders hin“! In Israel ist das immer die verborgene Triebfeder jeder Debatte. Aber nicht überall: Ich zum Beispiel schreibe für Ha’aretz, Israels angesehenste Tageszeitung. Ich habe zwar eine Rubrik im Literaturteil, aber dank meines sehr liberalen Herausgebers kann ich meine Position jederzeit auch in einem redaktionellen Kommentar veröffentlichen – und allen ist ja bekannt, daß ich kein Zionist bin. Das ist also die andere Seite, daß die wenigen oppositionellen Stimmen trotz des strikten Konsens immer wieder gehört werden können, trotz dieser großen geistigen Krise, in der wir uns befinden. Eine geistige Krise, die aus den vielen Widersprüchen erwächst, unter denen wir in Israel leben müssen. Ich kann das gern präzisieren, wenn Sie wollen...
Dann präzisieren Sie es bitte!
Das Wesentliche ist, daß Israel, streng genommen, wenn man den Blickwinkel des Liebhabers verläßt und statt dessen seine Geschichte analysiert, ein Kolonialstaat ist, die vielleicht letzte koloniale Bastion in der Welt. Natürlich nicht in dem Sinn der Abhängigkeit von einer Metropole, so wie die Kolonien in Afrika von Paris oder London abhängig waren. Die Ideologie, die dahinter steht, ist der Glaube an die Überlegenheit über die Umwelt. Aber diese angebliche Überlegenheit stimmt mit vielen Details nicht überein. Wenn man nämlich glaubt, Teil des Westens zu sein, muß man natürlich die Bedingungen dessen erfüllen, was wir „westliche Demokratie“ nennen. Sie können sich also denken, wie angenehm es für viele Israelis ist, in Deutschland, Frankreich oder Holland eine islamfeindliche Stimmung zu registrieren. Sie freuen sich, daß sie nicht allein sind mit diesem Problem. Aber es gibt noch bedeutendere Mißverhältnisse, die mit der christlichen Prägung des Westens zu tun haben, die einen schnell ein Außenseiter sein läßt. Im Roman habe ich versucht, es am Beispiel der Malerei festzumachen: der General steht vor einem Barockgemälde, das Jesus am Kreuz zeigt, und er versteht es nicht – denn diese Bildsprache ist in Europa zu Hause, wir aber sind es nicht. Aus diesem Grund ist es für viele Israelis einfacher, sich mit dem Schmelztiegel Amerika zu identifizieren. Aber dieser Schmelztiegel fordert auch etwas: „Lernt etwas von unseren Bürgerrechten“! - Ich komme also zu meinem Hauptvorwurf: Das Bürgerrecht Israels ist rassistisch: Juden in Deutschland, die um ihren Platz in der deutschen Gesellschaft kämpfen, wären schockiert, wenn sie wüßten, wie etwa russische Immigranten behandelt werden, die ihre jüdische Abstammung nicht hinreichend belegen können, von Moslems ganz zu schweigen, aber das ist die eigentliche Schande: russische Juden, die ihre „reine Abstammung“ nicht hinreichend belegen können, bekommen nicht dieselbe medizinische Grundversorgung. Unsere Vorväter haben natürlich einen falschen Nationalbegriff importiert, der vergleichsweise jung ist und in Mitteleuropa entstanden ist, nicht in Westeuropa – in Deutschland und nicht in Frankreich. Wir haben nie gelernt, wirklich pluralistisch zu denken. Man entgegnet mir immer wieder: „Was wollen Sie eigentlich? Sogar die Holländer hassen Moslems und lassen sie nicht ins Land.“ Ja, sogar die Holländer haben Anne Frank getötet – das ist meine Antwort. Es ist sehr angenehm, sich ins Europa der 30er oder 40er Jahre zu flüchten...
So braucht man sich nicht mit der Gegenwart zu beschäftigen?
In Israel? Ja, natürlich. Man kann sich eine Geschichte aussuchen...
1972 haben Sie den Reservedienst in den besetzten Gebieten verweigert – was damals ein großer Skandal war und auch heute eher die Ausnahme ist. Aufgrund Ihrer Verweigerung mußten Sie eine traumatische Gefängnisstrafe erleiden. Diese Gefängnisstrafe hat Sie in Ihrer fundamentalen Kritik an der israelischen Besatzungspolitik bestärkt. Wie haben Sie auf Shamirs Weigerung reagiert, Ihnen den Preis des Ministerräsidenten persönlich zu überreichen?
Also als erstes: Bis 1990 habe ich keinen einzigen Literaturpreis zugesprochen bekommen. Ich war sehr frustriert, denn in Israel bekommt jeder mittelmäßige Briefeschreiber den Preis des Ministerpräsidenten, jeder Hund. Und das hat mich zerbrochen. Auch mein Vater tat mir leid, denn er hat mich immer in meiner Position bestärkt und hätte nie von mir verlangt, meinen Standpunkt zu ändern, um nominiert zu werden. Letztendlich fehlte ja nur Shamirs Unterschrift auf der Urkunde, mein Stipendium blieb davon unberührt. Aber das schlimme ist, daß ich bei bedeutenden Literturpreisen grundsätzlich nicht berücksichtigt werde, sogar bei „Ecce Homo“, für das ich von allen Seiten glänzende Kritiken bekam. Natürlich ist es sehr schwer für mich, ich wünschte ich könnte ein Stipendium bekommen, das mich in die Lage versetzte, einen neuen Roman zu schreiben – aber egal. Ich habe einmal ein neues Sprichwort erfunden: „Geh nicht zu weit, wenn du nicht zurück kriechen willst“. Naja, ich bin sicherlich zu weit gegangen, aber ich werde auf keinen Fall zurück kriechen. Mein Held ist Michael Kohlhaas, ich habe sogar ein Gedicht darüber geschrieben...
So ähnlich wie die Heldin in Batya Gur’s Roman „Stein um Stein“...
...den ich nicht gelesen habe – deshalb möchte ich nicht darüber sprechen. Nur eins: Übersetzungen aus dem Hebräischen sind eine hochpolitische Angelegenheit, denn nahezu alle Übersetzungen werden zuerst vom Staat subventioniert, dann erst kauft sie der Verlag. Verstehen Sie: der Staat Israel finanziert nahezu alle Übersetzungen ins Deutsche oder in andere Fremdsprachen, nicht der Verlag!
Oh, das wußte ich nicht...
Aber ja! Nennen Sie mir die Namen: Zeruya Shalev – subventioniert vom Staat! Etgar Keret – subventioniert vom Staat! Eine Übersetzung kostet ungefähr 10.000 – 15.000 €, da wird kaum ein Verlag von sich aus auf einen israelischen Autor zukommen, höchstens er ist so mutig wie meiner. Verstehen Sie jetzt? Die Frage der Übersetzung ist eine politische – und Fakt ist: ich werde nicht übersetzt.
Sie sind von jeher ein politisch engagierter Dichter, der keinen Unterschied zwischen seinem Werk und seinem Handeln macht. Stört es Sie, wenn Sie in der breiten Öffentlichkeit vor allem für Ihr politisches Engagement wahrgenommen werden und nicht für Ihr Werk?
Wo? In Israel? Oder im Ausland?
Sowohl als auch...
In Israel verhält es sich ganz und gar nicht so. Natürlich werde ich manchmal als grausam wahrgenommen oder als Unruhestifter, aber da sich das alles auf literarischer oder intellektueller Ebene bewegt, werde ich nicht so rezipiert, wie Sie es beschreiben. Im Ausland ist das natürlich anders, da man mich dort als Fremden betrachtet. Einen Europäer par excellence, einen russischen, polnischen oder italienischen Autor würde man doch in einem Interview niemals bitten, seine Sicht der politischen Realität seines Landes zu reflektieren. Denn er nimmt Teil am europäischen Diskurs, am humanistischen Diskurs, der in Rußland und Italien nahezu derselbe ist. Als Fremder hingegen ist man einem kolonialistischen Lesestil ausgesetzt, meine Literatur wird dann ausschließlich nach dem Kriterium der „falschen“ oder „richtigen“ politischen Anschauungen des Autors beurteilt...
Also nach ähnlichen Kriterien, wie in den letzten Jahren der Nobelpreis vergeben wurde?
Vielleicht. Aber was ich zu sagen versuche ist, daß ich ein anderer Mensch sein müßte, um über die Dinge schreiben zu können, die sie von mir hören wollen. Ich sage nicht, daß es für einen israelischen Schriftsteller falsch ist, die westlichen Klischees zu erfüllen, aber es gibt wirklich bedeutende israelischen Autoren, die keine Chance haben, jemals in andere Sprachen übersetzt zu werden, weil sie dem westlichen oder dem israelischen Wunschbild nicht entsprechen. Natürlich bin ich ein politischer Autor. Aber wissen Sie was mich ärgert? Jedesmal, wenn ich eine Kritik meines Romans lese, heißt es darin „Satire“ oder „Parodie auf das Militär“ – Schwachsinn! Mein Roman handelt vom Zusammenbruch eines Mannes. Aber als israelischer Autor kann ich über seinen Zusammenbruch nicht schreiben, ohne die Rolle des Militärs zu berücksichtigen, denn das Militär ist die vorherrschende Ideologie in Israel. Vor allem aber erzähle ich eine Geschichte über einen Mann in Israel, über die Liebe zu Europa und die Liebe zur Schönheit und den Versuch, die Schönheit zu zerstören. Gut, Sie behaupten, ich schriebe über Palästinenser oder über die israelische Besatzung, aber meine Intention war es am ehesten, über geradezu „faustische“ Fragen zu schreiben und möchte natürlich, das mein Roman unter diesem Aspekt gelesen wird. Aber diese Mauer einzureißen ist nahezu unmöglich...
In Deutschland finden vor allem jene israelischen Autoren eine große Leserschaft, die den Palästina-Konflikt mit keinem Wort erwähnen oder Israel lediglich als Opfer arabischer Aggression darstellen. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Ich habe darüber einen Vortrag an der Universität Potsdam gehalten: „Der faustische Pakt in den deutsch-israelischen Beziehungen“ – was ich damit sagen will: es gibt keine Gegenwart in den Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Es ist das einfachste für beide, die Gegenwart zu ignorieren und sich in die Vergangenheit zu flüchten, die, wenn wir ehrlich sind, weder die Ihre ist noch die meine. Was dadurch noch paradoxer wird, daß diese Vergangenheit Sie mehr bedrückt als mich, denn moralisch ist es einfacher, ein Gefühl von Schuld zu bewirken als jedes andere Gefühl. Diese einseitige Art von Geschichtsverständnis finde ich ekelhaft, weil sie bewußt Einfluß nehmen will. Besonders als Juden in Israel sind wir in der Gewißheit erzogen, Opfer zu sein. Als politisch und moralisch denkender Mensch, muß man sich aber hin und wieder selbst in den Arm zwicken und erkennen: Nicht ich bin das Opfer, sondern jemand anders! Man darf Auschwitz nicht zur Metapher degradieren – Auschwitz als Metapher ist sehr gefährlich, denn es ist keine Metapher sondern Geschichte! Und wir sollten uns nicht zu eigen machen, was die Nazis gemacht haben, nämlich zu sagen: es ist dort, im Osten, nicht hier – als ob hier, in Deutschland, gar nichts passiert wäre. Denn hier ist es passiert und zwar demjenigen, der anders war, anders aussah. Nehmen Sie nur die Kopftuch-Debatte – ich war zu dieser Zeit in Deutschland und war entsetzt: den ich mußte ständig an meinen Großvater denken, mit seiner Kippah und den Schläfenlocken. Aber es ist vollkommen sinnlos, über die Vergangenheit zu sprechen, wenn man die Gegenwart nicht zur Kenntnis nehmen will: daß „fortschrittlich“ nicht bedeutet „sieht aus wie wir“. Daß „menschlich“ nicht bedeutet „sieht aus wie wir“, daß „barbarisch“ nicht bedeutet „sieht anders aus als wir“. Genau das ist der Pakt in unseren Beziehungen: daß wir nicht über diese Dinge sprechen, uns nicht einmischen in die Angelegenheiten des anderen. Als ich letztes Jahr in der Schweiz arbeitete, habe ich viel Radio gehört, klassische Musik, Bayern 4, ein guter Sender. Aber in den Nachrichten wurde immer nur über die Ergebnisse der PISA Studie berichtet: über den ersten Platz für Bayern, und daß Berlin – in den Nachrichten – aufgrund des hohen moslemischen Bevölkerungsanteils den letzten Platz belege – unglaublich! Und ein Bischof ruft die Moslems in Deutschland zu mehr Toleranz und Offenheit auf. Und ich höre dazu keinerlei Kommentar von jüdischen Intellektuellen! Das ist, als ob man den Bus gerade so erreicht hat, und es ist einem egal, ob der Fahrer die Tür schließt, noch bevor andere einsteigen können – Hauptsache man selbst ist drin. So sieht es für mich aus: Gut, wir haben versucht dazuzugehören – sie haben uns nicht gelassen. Sie haben uns ermordet und verbrannt, aber nun, endlich, gehören wir dazu, also laßt uns den Mund halten. Es ist wie eine Komödie, aber natürlich ist es eine schlechte Komödie...
Warum lassen Sie Ihren Roman mit einem eher hoffnungsvollen Bild ausgerechnet in Deutschland enden?
Darauf habe ich keine befriedigende Antwort, aber ich will es versuchen. Nach einer Lesung in Israel stellte mir eine alte Frau, eine Überlebende, dieselbe Frage. Sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Mir selbst ging es ja ähnlich, ich habe deswegen sogar viele Nächte lang nicht geschlafen, denn eigentlich sollte alles in Schweden enden. Um ehrlich zu sein: ich glaube es hat mit meinem Vater zu tun – es ist ja seine letzte Adresse in Bielefeld vor dem Krieg. Das Haus existiert nicht mehr, aber die Straße gibt es noch. Es war für mich eine Art von Trauerarbeit, das Buch hier enden zu lassen. Antebi arbeitet am Schluß für Paz Judaica, was ja mittlerweile bestenfalls ein Wirtschaftsunternehmen ist. Meinem Verleger hat dieses Detail überhaupt nicht behagt, aber ich wollte den Schmerz zulassen. Ich habe „Ecce Homo“ während der Zweiten Intifada geschrieben, so daß es keinen Grund gab, optimistisch zu sein. Ich bin nicht sehr optimistisch, was die Zukunft meines Sohnes betrifft...
Aber Antebi findet immerhin eine gewisse Hoffnung darin, seinem Sohn seine Geschichte erzählen zu können...
Aber sein Sohn versteht seine Sprache nicht. Antebi selbst hat seine eigene Geschichte nie akzeptiert, weil er anderen Geschichten ausgesetzt war, denen er sich fügen mußte. Deshalb ist er Offizier geworden, das ist der Grund für seine Flucht. Als seine Eltern starben, identifizierte er sich mit ihrer Geschichte – was mir beim Schreiben nicht fremd war, denn ich habe mir die Geschichte meines Vaters selbst vor vielen Jahren zu eigen gemacht: seine persönliche Version vom Holocaust, seine eigene Sicht auf Weimar, die sehr dezidiert war, obwohl er kein Intellektueller war. Das alles habe ich mir zu eigen gemacht, seine Schlußfolgerungen natürlich nicht, aber von seinen Erzählungen habe ich viel gelernt. Ja, Antebi identifiziert sich mit der Geschichte seiner Eltern, die ja einfache und unbedeutende Leute waren und dem Spott der anderen ausgesetzt waren, Opfer also. Wenn man so will, ist er ein typischer Vertreter der zweiten Generation. Und vielleicht ist Deutschland der einzige Platz, wo jemand wie er leben kann. Denn in Israel muß er Soldat sein. Das aber will er nicht. Vielleicht ist das die Erklärung...
Aber er hat jemanden, der ihm zuhört, auch wenn sein Sohn seine Sprache nicht versteht. Anders als Lotem, hat er jemanden, der ihm zuhört...
Genau.
Israel und Deutschland sind wahrscheinlich die beiden Länder auf der Welt, in denen im öffentlichen und politischen Leben am häufigsten Nazi- und Hitler-Vergleiche gezogen werden. Auch die Hauptperson in Ihrem Roman, General Lotem, wird von seinen Rekruten heimlich Adolf genannt. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie anders die Metaphern in unseren beiden Ländern funktionieren. Während des deutschen Wahlkampfs war ich in der Schweiz und sah im Fernsehen die Talkshow von Sabine Christiansen: „Brauchen wir eine neue Linke“ war das Thema der Sendung. Immer wieder wurden Beispiele wie Weimar und die Machtübernahme der Nazis benutzt, um die Diskussion zu ersticken oder in eine bestimmte Richtung zu lenken. Immer wenn jemand die Politik einer Partei kritisierte, hieß es da zum Beispiel „Wie die Nazis“. In Israel werden die Metaphern anders gebraucht. Seit den 50er hat sich ein Diskurs herausgebildet, der die Palästinenser oder die Araber ganz offiziell – und nicht etwa nur im Volksmund – als Hitlers Erben apostrophiert. Wenn man aber jeden Terroristen zum Hitler erklärt, minimiert man einerseits den Schrecken Hitlers und erklärt andererseits Hitler zum Terroristen. Aber Hitler war kein Terrorist, sondern eine politische Gestalt ohne jede Parallele. Das Gute an einer Biographie wie der von Ian Kershaw ist die tiefgründige Analyse von Hitlers Persönlichkeit. Ich hätte nie für möglich gehalten, daß Charlie Chaplin mit seinem Film so nah an Hitler dran war. Es ist ja geradezu lächerlich. Aber all das sollte gelernt und verstanden werden – jedoch nicht als Metapher. In Deutschland ist in dieser Hinsicht viel versäumt worden, da man die Vergangenheit in den 50ern und 60ern nicht thematisiert hat. Mir begegnen heute viele Deutsche, die für die Vergangenheit keine Sprache haben. Die Metapher lautet doch: das Gedenken und die Trauermärsche finden nicht in Bergen-Belsen statt, wir fahren dafür weit weg, nach Polen. Und die israelischen Schulen kollaborieren damit, sie marschieren nicht in Bergen-Belsen oder Dachau, wo alles angefangen hat, sie marschieren nicht in Deutschland, sondern in Polen. Diese auffälligen Übereinstimmungen ärgern mich maßlos – ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich würde dem Thema gern zwei oder drei Jahre widmen, aber mir fehlt die Zeit.
Wie ernst nehmen Sie die derzeitigen massiven Drohungen des Iran gegenüber Israel? Stellt der Iran tatsächlich eine Bedrohung für Israels Existenz dar?
Also, ich habe diese Rede natürlich gelesen – aber ich bin kein Politiker, ich kann sie nicht deuten. Bemerkenswert ist, daß drei der wichtigsten Posten in Israel von Männern bekleidet werden, die im Iran geboren wurden: der Präsident, der Verteidigungsminister und der Generalstabschef. Zwei von ihnen haben dem Iran im Verlauf der letzten vier Jahre wiederholt explizit gedroht, ihn zu bombardieren. Sie haben aber – und das ist der Unterschied – nicht wirklich die Existenz des Iran bedroht. Wahrscheinlich spiegelt diese Erklärung gewisse Widersprüche oder Machtkämpfe im Iran zwischen den sogenannten moderaten Kräften und den sogenannten Fundamentalisten wider. Wenn man im Nahen Osten leben will und nicht in Europa – und wir möchten nicht Teil von Europa sein – müssen wir eine Lösung für unsere Probleme finden und dürfen nicht Fremde bleiben. Denn wir können nicht gleichzeitig Fremde sein und erwarten, daß man uns hier als Fremde akzeptiert.
Sie sind ein bedeutender Lyriker. Besteht die Hoffnung, neben Ihren Romanen in Zukunft auch einen Band mit Lyrik in deutscher Sprache lesen zu können?
Das hängt von meinem Verlag ab. Mein Übersetzer Markus Lemke möchte nur zu gern meine Gedichte übersetzen. Aber noch einmal: Israel würde diese Übersetzung nicht finanzieren. Das „Institut für die Übersetzung hebräischer Literatur“ fördert nur „apolitische Friedensschriftsteller“, wie es Sigrid Brinkmann vom Deutschlandradio Kultur einmal genannt hat. Aber so kann ich nicht schreiben, so bin ich nicht...
Herr Laor, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Das Gespräch führte Florian Hunger.