NORDERSTEDT - Als die unvermeidlichen Fragen nach Frieden mit einem Staat Palästina, Erfolg oder Mißerfolg des Abzugs der Siedler aus Gaza, und obendrein noch nach der innerisraelischen Befindlichkeit kommen, zieht Yitzhak Laor sichtlich und spürbar den Vorhang runter. Der israelische Autor will nicht über sein Land diskutieren. Obwohl seine Romane "Steine, Gitter, Stimmen" und "Ecce homo" genau die angefragten Probleme thematisieren: Dauerkrise in Nahost, Israels Reaktionen auf arabische Selbstmord-Attentäter und der Zustand der israelischen Gesellschaft auf Grund dieses für Israelis wie Palästinenser unerträglichen Lebenssituation. Laor stellt lakonisch fest: "Wer den Konflikt verstehen will, muß die israelischen Zeitungen lesen." Und dann noch: "Mich interessiert das Verhältnis aller Menschen zueinander." Yitzhak Laor ist auf Lesereise durch Deutschland und machte auf Einladung des Vereins "Chaverim - Freundschaft mit Israel" und der Buchhandlung am Rathaus in Norderstedt Station.
Laor steht in Israels Literaturszene linksaußen und ist zudem weniger als Romancier denn als Lyriker bekannt. Er gibt eine anerkannte Literatur-Zeitschrift heraus und hat in Israel die politische Lyrik populär gemacht. Ohnehin hat die Lyrik in dem kleinen Land in Nahost mit knapp sieben Millionen Einwohnern einen weitaus höheren Stellenwert als in Deutschland. Der Feuilletonist und Essayist einer der wichtigsten Tageszeitungen, der Ha'aretz, wurde vielfach ausgezeichnet. Den Militärdienst verweigerte er nach dreiviertel der Gesamtzeit und ging dafür in den Bau. "Das war ein Fanal für sein weiteres Leben", sagt Markus Lemke. Der kongeniale Übersetzer von Laors Romanen wurde von Chaverim und der Buchhandlung ebenfalls zur Lesung gebeten. Lemke weiter: "Yitzhak Laor nimmt Stellung zu den unfeinen Begleiterscheinungen des täglichen Nahost-Konflikts, er ist ein ständiger Mahner und ein schrecklich, schrecklich gebildeter Essayist."
Lemke machte auch den Unterschied zwischen Laors erstem und zweitem Roman klar: "'Ecce homo' ist ein Buch, das es vermag, den Leser wie im Sog ins Geschehen hineinzuziehen. Es ist wie im Rausch entstanden und verschafft einen grundsätzlichen Zugang zu Israel, zum Leben, zu den Befindlichkeiten der Menschen, wie ich es in keinem anderen Buch erfahren habe." 'Ecce homo', entstanden zwischen 1990 und 2001, sei beschwingter und auf faszinierende Weise anders. Über dem ganzen Roman liege ein Gitterwerk von literarischen Anspielungen, Seitenhieben und Anmerkungen, die eine ungeheure Belesenheit und ein noch tieferes Wissen über Kunst und Kultur des Autors verrieten. Die Übersetzung zu "Steine, Gitter, Stimmen" dagegen habe er nach vier Tagen ablehnen wollen, weil ihn der Roman über alle Maßen irritierte. Lemke nahm die Herausforderung aber an: "Es war eine unglaublich harte Arbeit, und ich war die ganze Zeit nicht ansprechbar." Wie er in einem Gespräch mit Laor in diesem Frühjahr in Tel Aviv feststellte, ging es dem Autor beim Schreiben seines ersten Romans ebenso. "Beide Bücher sind Wahnsinn", bekennt Lemke, nachdem er im Wechsel mit Laor einige Passagen aus "Ecce homo" gelesen hatte.
Yitzhak Laor blühte sichtlich auf, nachdem Gastgeber Wilfried Dellke von der Buchhandlung klar literarisch definierte Fragen nach der Hauptfigur aus "Ecce homo" und dessen Aufgabe in dem Roman stellte. Laors Erläuterung seiner Hauptfigur Adam Lotem - auf Hebräisch heißt der Roman "Hine Adam", auf Deutsch "Wohin gehst du Mensch" - beantwortete denn doch noch die zuvor gestellten Fragen nach der politischen Dimension des Buches: "Adam Lotem erfand die Liquidierung von Terroristen und befehligte eine Spezialeinheit zur Liquidierung dieser Terroranführer." Laor schildert in seinem Roman eindringlich Lotems Zerfall, als ihn sein Auftrag und seine Vergangenheit auf der Suche nach der Schönheit, symbolisiert durch eine Frau, und der Sehnsucht nach einem Maler aus der Renaissance einholt. Lotem ist ein Macho, der nach Zärtlichkeit und emotionalen Halt sucht, während seine angebetete Shulamit aber nur ihre Sicht der Dinge verbreiten will. Aus dem desaströsen Dialog in einer der schönsten Gegenden Israels, so recht geschaffen für Sex im Freien, wird - nicht zuletzt auf Grund Lotems Inpotenz - eine Katastrophe, stellvertretend für Lotems ganzes Leben, aber auch stellvertretend für die innerisraelische Gesellschaft mit ihrem rund 200 Nationalitäten. Auch der Verweis auf Lotem als Macho ist zugleich eine Replik auf die israelische Gesellschaft, in der Männer fast bis zur Selbstironie dominant sind. Laor löst die Katastrophe in Lotems Aktion "Die göttliche Komödie". Doch auch das geht - wen wundert's noch - gründlich und im wahrsten Wortsinn in die Hose.
"Gibt es Lotem, oder wie kann man so eine Figur erfinden", lautete die nächste Frage, und der Autor lief zur Höchstform auf. "Ich liebe alle meine Figuren, ich liebe alle Menschen, ihre guten und ihre schlechten Seiten, die wir schließlich alle haben", gesteht Laor, fügt aber verschmitzt hinzu: "Ich habe aber auch das Glück, das ich sie als Autor jederzeit beenden kann, wenn sie stören." Der bei aller Sprödigkeit faszinierende Autor steht für eine Figur ein, deren Existenz er in seinem Land verurteilt: "Ich wollte nicht über einen General schreiben, ich schwöre, aber Lotem will in dem ganzen Buch Faust verstehen, das war ein unglaublicher Reiz für mich." Eines gab Laor den Zuhörerinnen und Zuhörern noch mit: Sein Entsetzen über die Unwissenheit der Deutschen über die Vergangenheit: "Niemand weiß heute noch, was SS-Reichsführer Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 vor 92 Generälen der SS im Goldenen Saal des Schlosses in Posen sagte." Laor sieht ein Hindernis im Verständnis zwischen Israel und Deutschland in den Schuldzuweisungen auf Grund des Holocausts, sagt aber auch, daß eine Zukunft ohne das Wissen um die Vergangenheit nicht gestaltbar ist." Yitzhak Laor, Schriftsteller der israelischen Linken, arbeitet am nächsten Roman.
CHAVERIM - Freundschaft mit Israel e.V.
November 2005