Er war Priester, Kriegsreporter, Forscher. Ein Gespräch mit dem streitbaren Journalisten Al Imfeld, Afrikakenner, Geschichtenerzähler.
Wo nimmt der Mann die Energie her, mit 70, manchen Gebresten und sechs By-Pässen? Er schreibt, er lehrt, er reist. Was er beobachtet, will er nicht sein:
»Lauter alte Menschen / im Wartezimmer / blind oder am Erblinden / unbeholfen / Wollen alle dem Tod / sehend entgegen gehen / bloss vorher / gingen sie ganz gern / blind durchs Leben.« (»fremde Heimat & tausend Grenzen«)
Al Imfeld hält noch immer die Augen offen – und die Tür an der Konradstrasse im Zürcher Kreis 5, diesem multikulturellen, »wild urbanen« Quartier hinter dem Hauptbahnhof, das im Kleinen die Welt widerspiegelt. Seine Geburtstagsfeste sind berühmt; während dreier Tage gehen über hundert Leute ein und aus. Die grosse Vernetzungsparty. Sein Gästezimmer ist selten leer. Eben hat sich eine Afrikanerin verabschiedet, »sans papiers«; ein Jahr lang lebte sie unter Imfelds Fittichen.
Sein Herz schlägt für Menschen »zwischen Stuhl und Bank«. Im Luzerner Hinterland galt sein Vater aus dem benachbarten Obwalden als Fremder. Auch die Kinder. »Wer fremd ist, versteht nichts. Wer fremd ist, bleibt, was er ist.« Eine prägende Litanei. Vater Imfeld hiess seine Kinder, Pfarrer und Lehrer zu respektieren, ihnen aber nicht mehr als 40 Prozent zu glauben: »Aufmerksam zuhören, lernen und immer wieder vergleichen und abwägen« war sein Rat.
Al Imfeld hört zu. Al Imfeld erzählt. In singendem Luzerner Dialekt. Zwischendurch wird er heftig; Missstände erregen ihn. Nichts von Altersmilde, der »pyknische und dickbäuchige Mann“ (Imfeld) täuscht. Ist er naiv, zu liebenswürdig? Lässt er sich ausnützen? Das fragt er sich manchmal selber – zum Beispiel in der Geschichte »Meine Wohnung – ein Puff?« (Blitz und Liebe). Als Wole Soyinka, der nigerianische Literaturnobelpreisträger, seinen Freund besuchen wollte, öffneten ihm zwei Afrikanerinnen. Al Imfeld hatte ihnen die Wohnung überlassen, nicht ahnend, dass es zwei »Professionelle“ waren. Der Schriftsteller glaubte an einen Irrtum. »Nein, nein, Sie sind hier richtig, Herr Soyinka. Al lässt sie grüssen. Er ist weg.« Und Soyinka überlegte sich, ob Imfeld diesen Damen Kurse in afrikanischer Literatur gab…
Zweite Heimat Afrika
Imfelds zweite Heimat Afrika ist mit Albert Schweitzer verknüpft. Am 14. Januar 1935 kam Alois auf die Welt, »auf Tag und Minute genau“ 60 Jahre nach dem Urwalddoktor. Als ältester Sohn einer Bergbauernfamilie mit 13 Kindern sollte er Priester und Missionar werden. Der Bub träumte am heimatlichen Bach im Luzerner Hinterland von fremden Ländern und verschlang die Bücher Albert Schweitzers. Ein Mann mit drei Studienabschlüssen! »Ich wollte unbedingt ein ganz kritischer Theologe werden, alles andere –,Güselzüüg‘ – interessierte mich nicht.« Als er nach der Matura sein Vorbild besuchte, fand er einen Grandseigneur, einen Patriarchen, der ihm erklärte, der Neger sei noch kein Mensch, sondern höchstens ein Kind. Fluchtartig verliess der junge Imfeld Lambarene.
Er wurde Priester, beim Doktoratsstudium in Rom der Häresie verdächtigt und aus der Gregoriana verwiesen, doktorierte in den USA in evangelischer Theologie, nannte sich nun Al, schlug sich durch als Babysitter, Lehrer, Religionsberater beim Playboy, interessierte sich für vergleichende Religionswissenschaft, schrieb eine zweite Dissertation über die Spaltung im Buddhismus. Studierte weiter: Soziologie und Ethnologie, speziell Entwicklungssoziologie, schliesslich Journalismus an der renommierten Medill School. Dieser Beruf führte ihn um die Welt, zuerst aber in den Krieg.
Die Washington Post sandte ihn 1966 als Kriegsberichterstatter nach Vietnam. »Ich war der Mann für sie, vertraut mit dem Buddhismus, Schweizer dazu, der ohne Visum nach Nordvietnam und China reisen konnte.« Über Nacht bekam Imfeld das amerikanische Bürgerrecht und den notwendigen militärischen Grad. Wo immer er war, wechselte er die Seite (»nur keine einseitige Berichterstattung«!), ein Pazifist, etwas blauäugig, geriet in einen Hinterhalt, wurde gefangen, gefoltert, als Spion und Verräter ausgewiesen. Das traumatische Erlebnis verschwieg er jahrzehntelang.
Es gab andere bittere Erfahrungen. Sein Engagement für den Aufbau der Presse in Rhodesien (heute Zimbabwe) endete nach zwei Jahren mit Landesverweis; seine Art passte weder der weissen Minderheitsregierung noch dem vorgesetzten Bischof. Ob in der Kirche oder in Afrikas jungen Nationalstaaten: Imfelds Forderung, den Kolonialismus in den eigenen Reihen, den eigenen Köpfen zu bekämpfen, wurde belächelt und verwünscht. Sein Einsatz für qualifizierten Journalismus, für ein Bewusstsein in Entwicklungsfragen war den Auftraggebern (privaten Schweizer Hilfswerken) zu unkonventionell. Im Gottlieb Duttweiler Institut mussten er wie Hans A. Pestalozzi das Büro räumen.
Der Geruch des Bratens
Anderes erzählt er vergnügt. Wie er mit Martin Luther King in der Bürgerrechtsbewegung arbeitete und ihm versprach, »den Rest meines Lebens für Afrika einzusetzen«. Wie er darum vom New Yorker Kardinal Spellmann exkommuniziert wurde. Wie er zehn Jahre in einem Forschungsteam der Novartis Stiftung wirkte. Wie er in den 70er Jahren die kontinuierliche Übersetzung moderner afrikanischer Literatur in die Wege leitete, zusammen mit den Verlagen Walter und Peter Hammer, dann dem Zürcher Unionsverlag, wo auch Imfelds Buch zum Thema erschien: Vision und Waffe. Afrikanische Autoren, Themen, Traditionen. Wie aus den anfänglich enttäuschenden Bemühungen schliesslich die renommierte Gesellschaft zur Förderung der Literatur in Afrika, Asien und Lateinamerika (Frankfurt) wuchs. Wie er nach der Literatur zeitgenössische afrikanische Kunst förderte.
Selber ein passionierter Koch, vermittelt er auch afrikanische Kochkünste. Afrika. Fair gekocht und heiss gegessen erscheint im September. Die Forderung nach rigider Selbstversorgung findet er schlicht dumm: Afrikanische Bauern wollen einkaufen und tauschen, »über Gott und die Welt, die Nachbarn und ihre Chiefs palavern«. Notwendig sei ein fairer inner- und ausserafrikanischer Agrarhandel. »Handel und Markt gehören zum Herzen afrikanischer Befindlichkeit, sind Teil der Esskultur.«
Markenzeichen von Imfelds Kochbüchern sind Kontexte und kulturelle Zusammenhänge: »Zu einem guten Essen gehört mehr als ein Rezept.« Ein Gericht müsse so etwas »wie eine Totenerweckung von Geschichten« bewirken. Zum Beispiel der Sonntagsbraten mit Härdöpfelstock und Stausee. „Je näher der Sonntag kam, desto mehr begann der Braten zu riechen. Und als dann noch eine Sauce mitzuriechen begann, verwandelte sich wöchentlich die Welt.« (Al Dente. Geschichten aus den Küchen der Welt)
Geschichten erzählen
Vier publizierte Erzählbände, 200 unveröffentlichte Kurzgeschichten. Obwohl Al Imfeld spät auf den Geschmack gekommen ist, im Winter 1990/91, als Geschichtenerzähler auf Tournee durch Namibia und Zimbabwe mit dem Schweizer Circus-Theater Federlos. So skeptisch wie neugierig liess er sich ein auf das Abenteuer, im Gepäck eine schweizerische und eine afrikanische Geschichte. Der Zulauf war enttäuschend, die Ausbeute erfreulich: 20 neue Storys.
Im jüngsten Band Blitz und Liebe führt er in 39 Geschichten durch sein bewegtes Leben auf vier Kontinenten; wir begegnen der charismatischen Mutter, den Präfekten der Gymnasialzeit, Originalen wie dem Missionar Walter K., dem der Zeitbegriff abhanden kam. Parallel dazu folgt Lotta Suters Biografie In aller Welt zu Hause den Fäden seines weitverzweigten Lebens.
Al Imfeld jüngstes Sachbuch, Mehr geben, weniger nehmen, rapportiert die Geschichte der Schweizer Entwicklungspolitik. Dass der streitbare Journalist Gedichte schreibt, mag erstaunen. Eine Form von Gebet, sagt er. Engagierte, ungenierte, freche, lakonische, sarkastische Gebete. Nachzulesen in der jüngsten Anthologie 101 Gedichte aus zwanzig Jahren mit Holzschnitten seines langjährigen Künstlerfreunds Gerhard S. Schürch. »Lauter alte Leute / da fällt mir ein / dass ich einer davon bin (…) du siehst alles andere / nur nicht dich / Alles zerfällt / du aber frönst dem Wahn / eine Ausnahme zu sein.«
Buchjournal