Leylâ Erbil gehört zu den eher unauffälligen Autoren im türkischen Literaturbetrieb. Sie hielt es noch nie für notwendig, sich in den Vordergrund zu spielen, wie viele medienpräsente Autoren. Ganz im Gegenteil: Sie hielt sich stets fern von jenen, die sie ins Rampenlicht stellen wollten. Manchmal war sie sogar wütend auf diese Leute. Ein außergewöhnlicher Mensch, eine außergewöhnliche Schriftstellerin. Sie hat ein anderes Verständnis von Ethik als ihre Schriftstellerkollegen. Aufmerksame Leser finden in ihren Werken den Vermerk: »Dieses Buch war an keinem Wettbewerb, an keiner Preisverleihung beteiligt.«
Bis zum Erscheinen von Eine seltsame Frau im Jahr 1971 galten Sie als Autorin von Erzählungen. Im Allgemeinen herrscht in unserer Literatur die fixe Idee vor, dass vor einem Roman zuerst eine Erzählung geschrieben wird. Eine seit Jahren etablierte irrige Annahme. Ich vermute, dass Sie dieser Kategorisierung nicht zustimmen. Der Roman ist das eine, die Erzählung etwas anderes. Aber warum haben Sie sich so plötzlich für die Form des Romans entschieden?
Das kann ich nicht sagen. Wenn man an einem bestimmten Punkt angelangt ist, wird man von seinen Erkenntnissen geleitet. Da passiert etwas Unausweichliches. Offenbar war ich an solch einem Punkt angekommen. Ich glaube, ich war schon über vierzig. Möglicherweise wollte ich mich, meine Erfahrungen und Erkenntnisse in eine allgemeingültige Aussage packen. Ich schrieb diesen Roman nicht, weil ich der Meinung bin, dass die Erzählung schwächer sei als der Roman. Eine Erzählung zu schreiben erfordert meines Erachtens größere Kunstfertigkeit. Ich wollte gegen die Formen, die in der türkischen Literatur für den Roman gelten, angehen, wollte insbesondere in die Tiefen der Liebe dringen, die sogar von den großen Literaten wie beispielsweise Tanpinar mit ihren heimlichen Gefühlen im Bereich der Sexualität die Liebe versteckten. Und ich wollte die Diskriminierung von Frauen thematisieren.
Das war das erste Mal in der türkischen Literatur.
Ja, ein Roman in Kapiteln, vielleicht über eine Frau, die in vier Teile zerfallen war …
In jedem Ihrer Romane haben Sie etwas Neues geschaffen, das sich stets den konventionellen Richtlinien widersetzte. Hatten Sie keine Angst, dass sie damit eine Mauer zwischen sich und ihren Lesern errichten?
Nein, der Autor beschreibt in der Regel seine Einsamkeit. Wenn diese Einsamkeit mit der Einsamkeit des Lesers übereinstimmt, dann ist das gut. Als ich den Roman schrieb, wusste ich, dass er nicht sofort akzeptiert werden würde, aber ich wollte nicht von meinem Vorhaben ablassen. Ob die Gesellschaft bereit ist, für das, was ich geschrieben habe – da bin ich mir nicht sicher.
In Ihren Erzählungen und auch in Ihren Romanen ist der Zeitbegriff unendlich, nicht fassbar. Man kann sagen, dass Sie von der Gegenwart weit in die Vergangenheit, ja sogar in die Geschichte zurückgehen. Wollen Sie den klassischen Zeitbegriff aufbrechen?
Die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod ist kurz. Menschen waren zu allen Zeiten von dem Wunsch nach Leben und nach Unendlichkeit beseelt. Der klassische Zeitbegriff, die lineare Wahrnehmung der Zeit, wurde bereits während der Moderne aufgelöst. In der Mythologie herrschte eine andere Vorstellung von Zeit, es gab nicht etwa vier Jahreszeiten, sondern Frühling, Winter, Sommer. Ich wollte, dass der Mensch von den bewussten und unbewussten sinnlichen Möglichkeiten des Bewusstseins und Unterbewusstseins Gebrauch macht und die Zeit über das, was naturgegeben ist, als unendlich erfasst. Man kann diese Haltung ganz gut in dem Kapitel »Vater« in Eine seltsame Frau erkennen. Der Vater auf dem Sterbebett erzählt von der Vergangenheit, indem er auch von der Zeit erzählt, die er nicht erlebt hat. Man könnte dies als die »fließende-verrinnende-Zeit« bezeichnen. Es existiert bewusst oder außerhalb der Wahrnehmung, jetzt oder später, alles geht ineinander über. Vielleicht wandelt der Mensch auf dieser Erde wie ein unheimlicher Schatten auf der Suche nach seinen Wurzeln, seinem Glück.
aus: Adam Sanat, Nr. 221, Juni 2004.
Aus dem Türkischen von Fatma Sagir