Was es bedeutet, im gesellschaftlichen Umfeld der damaligen Zeit eine moderne Frau zu sein, veranschaulicht die Autorin mit der 19-jährigen Protagonistin, der jungen Studentin Nermin. Sie fühlt sich durch die von der Mutter auferlegten Zwänge eingeengt. Die Mutter ist religiös, bewahrt ergeben die Tradition und trägt zu ihrer Aufrechterhaltung bei. Zwischen der Mutter und der Tochter haben sich Traditionen und Sitten gedrängt, sodass die eigene Tochter zum Feind geworden ist. (Dies ist ein bekanntes Phänomen: Die männlich dominierte Gesellschaft sichert den Fortbestand der patriarchalen Herrschaft dadurch, dass sie die Vernetzung der Frauen untereinander und die Entwicklung eines gemeinsamen Bewusstseins für die Marginalisierung, unter der alle leiden, verhindert. Dies geschieht, indem sie den Frauen, denen geschlechterspezifische Rollen innerhalb von Familienzellen zugewiesen werden, mit einer Teile-und-Herrsche-Politik begegnet.)
Es ist schwierig für Nermin, ihr Dasein als Familientochter und als moderne Frau zu vereinbaren. Sie muss entweder die Erwartungen, die man an sie als Frau stellt, verinnerlichen oder sich dagegen auflehnen. Vielleicht sieht sie in der Lyrik ein Mittel des Widerstandes und sucht daher Zuflucht in der Dichtkunst. Sie legt ihre Gedichte einem männlichen Kritiker vor, wird aber nicht weiter beachtet, weil sie in ihren Gedichten aus ihrer eigenen Sicht, der weiblichen, schreibt. Dennoch gibt sie sich nicht geschlagen. Ihr Ziel ist, nicht ein Mannweib zu werden oder eine Frau, die nur aufgrund ihrer Weiblichkeit von den Männern gefördert wird, sondern sie möchte als moderne Frau in der Gesellschaft anerkannt werden.
Mit einem sensiblen Instinkt für dergleichen kann sie sich den Männern gegenüber behaupten. Ihre relative Unabhängigkeit, die ihr eine andere Position verschafft, nutzt sie vollständig bis an ihre Grenzen aus. Die Männer, die, wenn sie in die Kneipe geht, dreckig grinsen, zu ihrem Wohl das Glas erheben, die mit ihren Verleumdungen sie als Mädchen, das in Jungesellenwohnungen geführt wurde, denunzieren, diese Männer lehrt sie bei jeder Gelegenheit eines besseren: »Meine Herren, möchte irgendeiner von Ihnen mit mir schlafen?«, fragt sie und schleudert ihnen ihr eigenes Frauenbild entgegen.
Gibt es denn gar keinen aufrichtigen Mann unter diesen Männern, für die die weibliche Sexualität mehr ist als nur eine zu konsumierende Ware? Halil, dem sie anfänglich freundschaftliche Briefe schrieb, ohne ein sexuelles Versprechen in Aussicht zu stellen, Halil würde ihre Rettung sein, falls »jene Sache« klappte.
Die fliegende Ameise oder der kriechende Vogel? Wie kann sich Nermin retten? Ungleichheit ist einer der Grundpfeiler der Gesellschaft, in der sie lebt. Aber sie versteht unter Ungleichheit lediglich die Ungleichheit der Klassen. Während sie als Frau ihre Marginalisierung ganz konkret erlebt, ist ihr diese Tatsache im Kampf gegen die Unterdrückung der Frau nicht wirklich bewusst.
Sie nimmt es wie selbstverständlich hin, dass Männer das Wissensmonopol inne haben. Was sie gelernt hat, hat sie von ihnen gelernt und auch nicht hinterfragt. ( »Ich lese die Bücher, die mir Haluk geliehen hat ... Ich erzählte ihm, dass ich mit dem Kapital angefangen habe. Daraufhin nannte er mir einige Titel, die man vor dem Kapital lesen sollte.«) Und wie soll sie sich als Frau verwirklichen? Hatte sie nicht selbst in ihren Beziehungen mit ihren revolutionären Freunden die Unterscheidung von Mann und Frau erlebt und auch das Gefühl erfahren, als Frau nicht ernst genommen zu werden? Hatte sie nicht erleben müssen, dass ihre Aufopferungsbereitschaft nicht geschätzt wurde?
Nermin heiratet; wie sie selbst zu sagen pflegt, tritt sie in den »heiligen Stand der Ehe« ein. Sie hat sich zwar aus ihrem Elternhaus befreit, sich aber von ihren Eltern nicht emotional gelöst. Die Liebe, die sie für den Vater empfindet, hat nichts mit Freud’schen Definitionen zu tun. Tatsächlich liebt sie ihren Vater, weil er ein unterdrückter, ausgebeuteter Arbeiter ist. Und der Vater liebt sie wiederum wie einen Sohn. Das geht sogar soweit, dass er, beeindruckt von den revolutionären Ideen, sich selbst zu Rechenschaft zieht. (Das »Vater«-Kapitel im Roman zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass feministische Positionen kunstfertig in die Beschreibungen von innerfamiliären und Vater-Tochter-Beziehungen eingeflochten werden, sondern es ist eine Hommage an die Frauen generell. Wie ist es möglich, dass eine Schriftstellerin zu solch einer Kennerin der Außenwelt geworden ist? Dieses Wissen, das weder abstrakt noch rhetorisch verbrämt vermittelt wird, verleiht dem Roman eine ungeheure Dynamik.)
Die Ehe hat Nermin nicht verändert. Wieder ist sie pflichtbewusst. Auch wenn sie in der Frage der gesellschaftlichen Befreiung wie die Männer denkt, so ist sie doch viel sensibler, viel romantischer veranlagt. Um ihrem Volk näher zu sein, lässt sie sich mit ihrem Ehemann in Taşl2tarla nieder. Mit dieser Entscheidung hat sie sich bis zu einem gewissen Grad selbst definiert. Doch die Bewohner Taşl2arlas sind nicht so, wie Nermin sie sich wünscht, sondern das Volk ist wie es ist. Die Liebe, die sie für ihr Volk empfindet, ist genauso abstrakt und trügerisch wie die Traumwelt Taşl2tarlas.
Bald zerbricht auch die Beziehung zu ihrem Mann, denn während ihrer Ehe hat sie nie ihre überlegene Rolle aufgegeben. Die Liebe steht in ihrem Leben nicht im Mittelpunkt, sie ist sekundär, etwas, auf das sie herabschaut. Aber ihr ist durchaus bewusst, dass auch Frauen sexuelle Bedürfnisse haben, und wenn es notwendig ist, weiß sie diese auch zu befriedigen. Selbst wenn es nur in der Fantasie geschieht.
»Konnte all das sie abschrecken? Konnte es sie daran hindern, erneut zu ihrem Volk zu gehen? Sie begriff, dass sie all die Streitereien und Schimpftiraden für die völlige Unabhängigkeit der Frau nicht für sich selbst getan hatte. Sie wollte gegen die Ungerechtigkeit kämpfen, sie wollte darlegen, was in der Familie, was in der Gesellschaft verändert werden musste, wollte Wegbereiterin sein, aber die Rechnung ging nicht auf, und sie wollte wissen warum.«
Lernen wir nicht alle aus unseren Fehlern?
Das wichtigste ist es, Widerstand zu leisten. Der Widerstand Nermins lässt nicht nur die Hoffnung zu, dass es immer mehr Frauen wie Nermin geben wird, sondern er ist auch ein Aufruf, über das Motto der Feministinnen im Westen »Das Private ist das Politische« nachzudenken.
aus: Birikim Dergisi,14. Juni 1990, 69-70.
Aus dem Türkischen von Fatma Sagir