Was bedeutet es, eine moderne Frau in Istanbul zu sein? Gerät sie in heftigen Konflikt mit gesellschaftlichen Stereotypen? Stellt sie eine Herausforderung dar für tabuisierte Gegensätze zwischen öffentlichem und privatem Raum? Oder steht sie für die Befreiung von natürlichen und familiären Fesseln? Diese schwierigen und hochaktuellen Fragen verhandelt die türkische Autorin Leylâ Erbil in ihrem Roman Eine Seltsame Frau (1971) und beschreibt aus der Perspektive der Protagonistin Nermin die Stadt als Laboratorium für kulturelle Auseinandersetzungen.
Leylâ Erbil (geboren 1931), eine der bedeutendsten Autoren der modernen türkischen Literatur, setzt sich mit politischen und feministischen Themen auseinander. In Eine Seltsame Frau beschreibt sie den Kampf einer Frau, der jungen Dichterin und Sozialistin Nermin, um ihre eigene Identität. Vor dem Leser entfaltet sich das politische, gesellschaftliche und literarische Leben Istanbuls von den Fünfziger- bis in die Siebzigerjahre. Der Autorin geht es dabei weniger um die Schilderung der üblichen Gegensätze zwischen Land und Stadt, zwischen Natur und Zivilisation oder Mann und Frau, sondern vielmehr um die Beziehungen der Menschen generell. Das Leben von Nermin dient der Autorin, Gegensätze und Normen spielerisch miteinander in Bezug zu setzen.
Nermin profitiert von den kulturellen Verheißungen der Stadt und erfährt dennoch schmerzhaft am eigenen Leib die psychologischen Unterdrückungsmechanismen ihrer Umgebung. Ihre individuelle Veränderung geht einher mit der Entdeckung von der »anderen Seite« der Stadt, die bislang für sie Terra Incognita war. Zu Hause regiert ihre Mutter auf autoritäre Weise und verlangt von Nermin, bis zur Hochzeit keusch zu bleiben und später die Rolle der getreuen Gattin und guten Mutter zu spielen. Für die Mutter stellt die Stadt eine Bedrohung für die Keuschheit ihrer Tochter dar. Zu Hause hat Nermin ein eigenes Zimmer, eine Art Reservat, wo sie ihre Bücher lesen und Briefe schreiben kann. Doch letzten Endes ist sie auch hier ihrer Mutter ausgesetzt, weil diese sich immer wieder unangekündigt Eingang zu ihrem privaten Refugium erzwingt.
Schließlich gelingt es Nermin doch, dieser traditionellen Familienordnung Widerstand zu leisten. Ihre Rebellion gegen die Unterdrückung von Seiten der Familie formt auch ihre Wahrnehmung von der Stadt. Auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben findet sie in Istanbul Inspiration und Offenheit, was ihr wiederum einen Ausweg aus ihrem derzeitigen Dasein ermöglicht, das bislang von restriktiven, ethischen Normen der Mittelschicht bestimmt war. Im Gegensatz zu ihrer Mutter sieht Nermin gerade in der Stadt eine Chance für sich und für die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Sie schüttelt ihre familiären und traditionellen Fesseln ab und strebt nach intellektueller Stimulation, die ihr das Milieu der Istanbuler Bohemiens in diesen Jahren gewährt.
In Eine Seltsame Frau, ähnlich wie auch in anderen Werken von Leylâ Erbil, nimmt ein Ort eine ganz spezielle Funktion ein. Indem sie diesen Ort und den Kult um diesen Ort auch textlich verankert, weist sie Nermins urbanen Erfahrungen konkrete Ort der Istanbuler Szene zu. Lambo, eine Kneipe beim Fischmarkt, ist solch ein zentraler Schauplatz. Nermin geht häufig dorthin, wo auch Poeten und Schriftsteller verkehren. Ihre Freunde trifft sie in Baylan, in einem Café, und in Czardas sowie in Dégustation, zwei weiteren Kneipen. Diese Lokale waren zu jener Zeit beliebte Treffpunkte für junge Leute und berühmte Künstler, und hier hatte Nermin Gelegenheit, über Literatur zu diskutieren und an sozialen Aktivitäten teilzunehmen. Für sie ist die Atmosphäre an diesen Orten wichtiger als die Universität. Die Dozenten hinterfragt sie, in den Kneipen hingegen buhlt sie bedenkenlos um die Anerkennung der »öffentlichen Autoritäten«.
Doch Nermin trifft hier nur auf männliche Dichter und Autoren. Im Laufe des Erwachsenwerdens kommt Nermin allmählich darauf, was hinter dem »sozialen« Ambiente steckt, das sie zuvor so idealisiert hatte. Als sie scheitert, als »Schwester« akzeptiert zu werden, zerbröckelt ihre Illusion, und sie beginnt, die männlichen Gäste zu kritisieren. Doch bei ihrem Kampf um die Befreiung der Frau machen ihr die männlichen Intellektuellen einen Strich durch die Rechnung. Nermin wird konfrontiert mit dem gefürchteten, doch allzu vertrauten »männlichen Bann«, der den »mütterlichen Bann« ablöst, dem sie doch gerade entfliehen wollte.
Trotz dieser ernüchternden Erkenntnis verliert sie dennoch nicht ihre Hoffnung auf eine utopische, bessere Gemeinschaft. Sie löst sich von der intellektuellen Kneipenszene und sucht nach einer anderen Umgebung, wo sie für ihre Vorstellung kämpfen kann: die Vororte. Auch in ihrem neuen Leben an der urbanen Peripherie stellt die Stadt sie vor ungeahnte Herausforderungen. Doch Erbil schließt ihren Roman lieber mit einer Frage als mit einer affirmativen Aussage ab. Nermin fragt sich und auch die Stadt ganz am Ende, ob sie das Volk wirklich jemals aufrichtig geliebt hat.
Die Stadt Istanbul ist in Eine Seltsame Frau in der Tat ein seltsamer Ort, angesichts des Hasses und der Liebe, die dieser Ort für seine Frauen bereit hält. In der Stadt fordert Nermin die gesellschaftlich auferlegten Geschlechterrollen bewusst und entschieden heraus. Ob sie wirklich die Befreiung erfährt, nach der sie sich sehnt, ist eine andere Frage, doch wir können mit Bestimmtheit sagen, dass sie gefunden, was sie gesucht hat: Abenteuer, intellektuelle Erfolge und eine autonome Identität.
aus: Women and Environment (Spring/Summer 2004)
Aus dem Englischen von Fatma Sagir.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.