Als der Roman Eine seltsame Frau im Dezember 1971 erschien, erregte er in der türkischen Öffentlichkeit großes Aufsehen. Hatte doch die Autorin zwei aktuelle Themenbereiche aufgegriffen, ohne sich um Tabus zu kümmern. Zum einen die Frauenfrage in ihrer ganzen Komplexität, nämlich die problematisch-widersprüchliche Sozialisation der Mädchen im Elternhaus und im öffentlichen Raum sowie die Sexualität aus weiblicher Warte bis in die Grenzbereiche Inzest und Masturbation. Zum anderen die linke Ideologie, die damals unter den türkischen Intellektuellen sehr populär war und eine reiche, sozialkritisch engagierte Literatur hervorgebracht, aber auch zur militanten, politischen Polarisierung beigetragen hatte.
Man könnte also Eine seltsame Frau heute als historischen Roman lesen, denn die Heldin Nermin ist eng in ihr gesellschaftliches Umfeld eingebunden, und die Zeitspanne, die der Roman umfasst, ist exakt zu datieren. Die junge neunzehnjährige Studentin, deren Tagebuchaufzeichnungen den ersten Teil ausfüllen, betreffen die Jahre 1950/51, und Frau Nermin, von der wir uns im letzten Teil des Buches verabschieden, ist vierzig Jahre alt. Auch die Autorin, Leylâ Erbil, war 1971 eine reife junge Frau von vierzig Jahren. Man darf also zu Recht vermuten, dass autobiografische Elemente im Spiel sind. Das sollte man aber nicht überbewerten. Leylâ Erbils Werk gehört nicht zu den skandalösen, bekenntnishaften Frauenromanen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren überall auf der Welt publiziert wurden. Man denke etwa an Erica Jongs Angst vorm Fliegen (1973) oder Verena Stefans Häutungen (1975). Eine seltsame Frau ist vielmehr ein wohlkalkulierter, artifiziell konstruierter Text, der erste Höhepunkt im Œuvre einer Schriftstellerin, die bereits mit zwei Erzählbänden (Der Baumwollkrempler, 1959, und In der Nacht, 1968) Furore gemacht hatte.
Leylâ Erbil wurde 1931 in Istanbul geboren. Sie gehört zur zweiten Generation der Töchter der Republik, die ein öffentliches Gymnasium und die Universität besuchen konnten. Sie studierte englische Philologie an der Istanbuler Universität. Das ermöglichte ihr die aufgeschlossene Einstellung ihres Vaters Hasan Tahsin Bilgin, den sie sehr verehrte und der als Maschinist bei der Staatlichen Schifffahrtsgesellschaft angestellt war. Er hatte seine Kindheit am Schwarzen Meer verbracht, war dann aber zu seinen älteren Brüdern nach Fatih, Istanbul, gezogen und hatte dort eine Bildung im traditionellen Sinne erworben, zu der klassische türkische Musik und Poesie, auch aus dem reichen Schatz der islamischen Mystik, gehörten. Der Vater war weit in der Welt herumgekommen, hatte sich am Nationalen Befreiungskampf beteiligt, war historisch interessiert, tolerant und weltoffen.
Leylâ Erbils Leben verlief äußerlich unspektakulär. Sie benutzte die während ihres Studiums erworbenen Englischkenntnisse beruflich als Sekretärin und Übersetzerin auch nach ihrer Heirat mit Mehmet Erbil (1955). Aus dieser Ehe stammt eine Tochter. Zeitweise lebte die Familie in Ankara und Izmir. Leylâ Erbil war 1967 am Türkischen Konsulat in Zürich tätig. Doch sie wohnt nun schon seit langem wieder in Istanbul.
Leylâ Erbil ist eine Intellektuelle. Sie sucht stets geistige Abenteuer und Auseinandersetzungen. Von Jugend an ist sie eine eifrige Leserin der türkischen und der Weltliteratur. Aus der intensiven Lektüre speist sie den Vorrat ihrer Bilder, Metaphern, Assoziationen und gewinnt formale Anregungen. Doch sie ist nie den literarischen Modetrends gefolgt, sondern hat ihren eigenen Weg gefunden. Sie bekennt sich zu den Vorbildern, die ihr anfangs wegweisend waren. Dazu gehören: Sait Faik, Fjodor M.Dostojewski, Samuel Beckett, Franz Kafka, James Joyce, Jean-Paul Sartre, aber auch Karl Marx und Sigmund Freud.
Seit der Publikation ihrer Erzählbände galt Leylâ Erbil unter den türkischen Kritikern und Literaten als Avantgardistin. Sie lehnte literarische Konventionen ab und experimentierte mit formalen Neuerungen, die bis dahin in der türkischen Literatur kaum praktiziert worden waren: der innere Monolog als Bewusstseinsstrom, Rückblenden mit historischer Tiefendimension, häufiger Perspektivwechsel, Montagetechnik unter Einbeziehung nichtliterarischer Elemente wie Bilder und Dokumente, Verwischung der Grenzen zwischen Traum und Realität, plötzliches Abgleiten ins Surreale u.a. Zu ihren Themen gehörten zunächst menschliche Befindlichkeiten, wie Entfremdung, Depressionen, Isolation, Sexualität, Angst, Ekel. Hier spürt man Einflüsse des Nihilismus, Existenzialismus und Surrealismus. Ihre Figuren sind Menschen, die gegen die erstarrten Normen, Bräuche und Gewohnheiten der Gesellschaft rebellieren; die Hass hegen gegen die bestehende Ordnung, die sie nicht ändern können, durch die sie sich in ihrer Entwicklung zum Individuum gehemmt fühlen. Sie sind nicht nur arm und werden ausgebeutet, sondern auch krank, kaputt und psychisch gestört aufgrund religiöser Zwänge und unterdrückter Sexualität.
In der Sprache verstößt Leylâ Erbil bewusst gegen festgesetzte Normen. Ihr Wortschatz enthält alte osmanische Begriffe, ungebräuchliche moderne türkische Wortschöpfungen, Fremdwörter aus europäischen Sprachen, aber vor allem auch Wörter aus der Umgangssprache und aus Dialekten. Ihre Syntax entspricht nicht den Regeln der Grammatik für die türkische Schriftsprache, sie folgt lieber dem Fluss der gesprochenen Sprache ihrer Figuren. Ähnlich subjektiv verwendet sie auch die Zeichensetzung und die Großschreibung. Das alles ist nicht etwa interessante Pose, es sind notwendige Ausdrucksmittel einer Schriftstellerin, die immer danach strebt, sie selbst zu sein, für die Leben Schreiben bedeutet, wie sie in einem Interview verrät.
Auch in ihrem ersten Roman Eine seltsame Frau begegnen wir den typischen Wesenszügen ihrer Erzähltechnik, die sie inzwischen souverän beherrscht. Der Text besteht aus vier ungleichartigen und ungleichförmigen Teilen. Jedes Kapitel wirkt in sich geschlossen und originell. Verschiedene Textsorten und Stilebenen stehen nebeneinander. Doch es gibt zahlreiche Verknüpfungen, überleitende Motive und Anspielungen; erst ineinander gespiegelt entsteht ein faszinierendes, facettenreiches, multiperspektivisches Ganzes. Die Titel der vier Kapitel, »Die Tochter«, »Der Vater«, »Die Mutter«, »Die Frau«, verweisen in ihrer familiären Konfiguration auf ein wichtiges Thema des Romans: die Sozialisation der Heldin.
Kapitel 1. »Die Tochter« ist das Tagebuch einer neunzehnjährigen Istanbuler Studentin: spontane Aufzeichnungen alltäglicher Erlebnisse und Begegnungen zu Hause sowie im öffentlichen Raum. Es endet mit den Vorbereitungen für die Hochzeit mit Bedri. Das Ich bleibt für den Leser anonym.
Kapitel 2. »Der Vater« liegt auf dem Sterbebett und erinnert sich in einem inneren Monolog als unendlichem Bewusstseinsstrom des Ich an verschiedene Phasen und einzelne Ereignisse seines Lebens als Seemann. Die Häfen, das Wunderwerk der Schiffe, das Gewimmel der Fische am Grund des Meeres – wie soll man diese schillernde Welt des Vaters mit ihren weiten Horizonten ins Wort bannen? Leylâ Erbil, die in der Sprache lebt, versucht es mit dem Klangreiz der Wörter, mit Wörterreigen, die der Musikalität des Vaters angemessen sind. Zwischendurch taucht er ab in noch tiefere historische Schichten oder nimmt die unmittelbare Umgebung seines Krankenzimmers wahr, die Besucher und vor allem seine Tochter Nermin und seine Frau. Die Vermischung verschiedener Textsorten und die Diskrepanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit sind auf die Spitze getrieben. Dieses Kapitel ist zudem in mehrere Teile untergliedert.
Kapitel 3. »Die Mutter«; dieses kurze Kapitel trägt den Untertitel »Mevlût« (Totenfeier, Seelenmesse). Nach islamischem Brauch wird vierzig Tage nach dem Tod für den Verstorbenen das berühmte türkische Epos Mevlût über die Geburt des Propheten Muhammad von Süleyman Çelebi (gest. 1422) rezitiert. Zu diesem Anlass kommt die Trauergemeinde in einer Moschee zusammen. Im Anschluss daran erfolgt eine Einladung der Gäste zum Tee. Der Text des Kapitels ist, obwohl dieser Teil der Mutter gewidmet ist, als Traum der Tochter Nermin (Ich-Erzählerin) konzipiert. Die Mutter hat als fromme Muslimin diese Veranstaltung initiiert. Die Gastgeberin ist die verheiratete Tochter Nermin in ihrer Wohnung in Osmanbey, Istanbul.
Kapitel 4. »Die Frau«, die vierzigjährige Nermin, soll sich nach gescheiterter Ehe und der Desillusionierung ihres gesellschaftlichen Engagements auf Anraten des Arztes von ihrer psychischen Krise erholen. Im Hotelzimmer eines Skikurorts erinnert sie sich an die Ehejahre mit Bedri und das Leben als linke Propagandistin ihrer Partei in einem Gecekondu inmitten ihres »geliebten Volkes«. Die Rückblenden sind realistisch beschrieben und werden intensiv reflektiert. In diesem Kapitel gibt es einen personalen Erzähler. Aber es handelt sich um Nermins Alter Ego, das sie ganz dicht, fast distanzlos, an sich heranlässt, um ihm die Ironisierung ihrer Situation und den intimsten Voyeurismus zu ermöglichen.
Die formalen Kontraste zwischen den verschiedenen Teilen des Romans sind abgestimmt auf die Figuren, denen sie jeweils gewidmet sind. Das verleiht dem Werk einen ästhetischen Reiz. Wie schon angedeutet, ist Nermins Lebensgeschichte eng mit der Zeitgeschichte verknüpft und geht damit über das Individuelle hinaus. Diese historische Dimension trägt eben auch zur Aktualität des Romans bei. Weil man aber manches zwischen den Zeilen lesen muss, mag es für deutsche Leser nützlich sein, auf diesen Aspekt kurz einzugehen.
Aus den Tagebuchaufzeichnungen der jungen Studentin erfahren wir viel über das Milieu der Künstlerkneipen in Beyoglu und das Leben der türkischen Studenten zu Anfang der Fünzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts an der Istanbuler Universität. Auch die Autorin studierte damals dort, wie ihre Protagonistin Nermin, und auch Leylâ Erbil suchte Zugang zur literarischen Szene. Doch Eine seltsame Frau ist kein Schlüsselroman. Es würde dem Leser wenig bringen, wenn er die nur mit Initialen bezeichneten Dichter und Schriftsteller identifizieren könnte. Es geht vielmehr um die Situation der jungen Türkinnen, die ihre Bildungschancen nutzen konnten und sich auch ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechend an den politischen und literarischen Auseinandersetzungen beteiligen wollten. Die junge Nermin mit ihrem Kampf gegen die erstarrten Moralvorstellungen, für die Emanzipation der Frau und mit ihrem Engagement für eine gerechte Gesellschaft ist eigentlich der Typus des »neuen Menschen«, wie er Mustafa Kemal Atatürk in seinem Modernisierungsprojekt vorschwebte. Zu Mustafa Kemals politischen Idealen gehörte nicht nur die Gleichstellung der Frau, sondern auch eine klassenlose Gesellschaft. In einem Interview bedauert Leylâ Erbil, dass der Republikgründer wegen seines frühen Todes sein Projekt nur halb verwirklichen konnte. Diejenigen, die nach ihm an die Macht kamen, nannten sich zwar meistens Kemalisten, aber sie errichteten ein »System«, das sich vom Reformwerk Atatürks immer weiter entfernte. Die Rebellion gegen dieses »System« gehört zu den zentralen Themen des Romans.
Die Tagebuchschreiberin ist ein kommunikatives Wesen. Ihre Aufzeichnungen enthalten selten tief schürfende Reflexionen, sondern sie notiert und kommentiert ihre Begegnungen mit Literaten, mit Freunden, ihre gemeinsamen Unternehmungen, wie Kino- und Kunstausstellungsbesuche, Kneipentreffen, immer wieder bei Lambo, Gespräche über Lektüre, Tanztees, Intrigen. Zu ihren Freunden gehört nicht nur die vertraute Clique aus den bürgerlichen Kreisen, sondern Nermin begegnet jungen Männern, (kurdischen) Studenten aus Anatolien, die sich linken Gruppen angeschlossen haben, von der Geheimpolizei beobachtet werden, ja sogar ins Gefängnis kommen. Nermins geistige Neugier erstreckt sich bald auch auf linkes Schrifttum, das ihr von diesen neuen Freunden empfohlen wird. Ihre Kontakte zu Halûk und Genossen führen dazu, dass sie selbst einmal brutal von der Geheimpolizei verhört wird.
Die Beziehungen zwischen den Jugendlichen beiderlei Geschlechts an der Universität sind relativ ungezwungen. Atatürk hatte besonderen Wert darauf gelegt, die Geschlechtertrennung aufzuheben, und die neue Kleiderordnung verbot die Verhüllung der Frauen. Ja, er hatte in den ersten Jahren nach der Republikgründung öffentliche Bälle geradezu angeordnet. Daran erinnern die Tanztees an den Fakultäten, die Nermin besucht. All die Freundschaften, Flirts und Intrigen erscheinen harmlos, sie haben aber oft etwas Verklemmtes. Man hält beim Tanz körperlichen Abstand. Selbst in der Beziehung zwischen Meral und Necat, die sich täglich allein treffen, ist es nie zu einem Kuss gekommen. Doch es gibt auch unter den Studenten aufdringliche Typen, von denen sich Nermin belästigt fühlt. Die Tagebuchschreiberin beobachtet sich und die anderen genau. Nermin bemüht sich, den Geschwistern Meral und Bedri über die Scham, die sie über ihre einmalige inzestuöse Beziehung, die ihr Gewissen belastet, empfinden, durch Verständnis hinwegzuhelfen. Sie selbst geht jungfräulich in die Ehe mit Bedri, in die sie – nach einem missglückten Fluchtversuch mit Halit – einwilligt, um der Bevormundung durch ihre Mutter zu entkommen. Nermin bleibt lange verkrampft, und Sexualität ist für sie etwas Schmutziges. Sie erlebt sexuelle Befriedigung erst nach ihrer Heirat. Das wird im vierten Kapitel thematisiert.
Das Recht der Frau, sich im öffentlichen Raum frei zu bewegen, war gesetzlich verbrieft, doch die Bräuche und Gewohnheiten einer jahrhundertealten islamischen Gesellschaft waren unter den älteren Generationen noch lebendig. Für viele Männer galten Frauen, die sich ihnen ohne Scheu in der Öffentlichkeit näherten, immer noch als Huren oder leicht zu erobernde Sexualobjekte. Das erlebt Nermin besonders krass, als sie sich aus literarischem Interesse mit den etablierten Dichtern und Schriftstellern in den Künstlerkneipen trifft. Sie nehmen die junge Lyrikerin nicht ernst, sondern sehen in ihr nur die Frau, mit der man leicht ein sexuelles Abenteuer haben kann. In einem Wutanfall hält sie ihnen, den Intellektuellen, die eigentlich doch die gesellschaftlichen Reformen Atatürks unterstützen sollten, aber noch in »osmanischen« Kategorien befangen sind, den Spiegel vor die geilen, feixenden Gesichter. Doch später im Gecekondu muss sie erfahren, dass auch eine engagierte Kommunistin, die sich für die Arbeiter einsetzt, von diesen als Hure angesehen wird, vor der man ausspucken kann.
Nermins Beziehung zu ihrer Mutter ist gestört. Der Titel des Tagebuch-Kapitels »Die Tochter« zeigt, welches Gewicht der familiären Sozialisation beigemessen wird. Die Mutter fühlt sich verpflichtet, ihre Tochter im Sinne der islamischen Vorschriften zu ermahnen. Es geht in diesen Moralpredigten immer nur um die Frauen, denen Höllenstrafen drohen, wenn sie die Verhüllung vernachlässigen. Das steht im Widerspruch zu der Erziehung an den republikanischen Schulen. Die Mutter misstraut der Tochter, hält den freien Umgang der Geschlechter miteinander für gefährlich. Sie kann sich mit der Kleiderreform nicht abfinden. Sie fürchtet für die Familienehre, die an dem unverletzten Jungfernhäutchen des Mädchens hängt. Das wird Mutter und Tochter zur fixen Idee. Dazu muss man wissen, dass in der frühen Republikzeit der islamische Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen ganz abgeschafft worden war. Bis 1949 gab es keine Ausbildungsstätten für Religionslehrer mehr. Das führte zu einem Mangel an qualifizierten Religionsgelehrten in der Türkei und öffnete den selbst ernannten Scheichen Tür und Tor. Die religiöse Unterweisung blieb den Eltern überlassen. Im Sinne des Republikgründers sollte der Islam zu einer Gesinnungsreligion werden. Das gehörte zum kemalistischen Laizismus-Verständnis. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn unter den Jugendlichen in Nermins Bekanntenkreis niemand Interesse an religiösen Dingen zu haben scheint.
Doch Nermin ist ja auch die Tochter ihres Vaters. Im Tagebuch wird er selten erwähnt. Erst in seinem langen Monolog auf dem Sterbebett erfährt man etwas von der innigen Vater-Tochter-Beziehung. Im Gegensatz zu der Mutter, die den Islam als Gesetzesreligion begreift und den strafenden Gott fürchtet, ist der Vater Hasan von der islamischen Mystik des Mevlâna Celâleddin Rûmî geprägt. Er hat ein eigenes Gottesbild, worüber er mit seiner Tochter, der atheistischen Kommunistin, die nur Ausbeuter und Ausgebeutete kennt, heftig diskutiert. Der Gott der Mystiker ist der Gott der Liebe und der Toleranz. Er ist nicht im Himmel, sondern in allen Elementen und auch im Menschen. Der Vater sagt zu Nermin: »Du bist ein Gott.« Sie erwidert: »Ich will nur Mensch sein.« Das ist auch ein Credo der Autorin. Diese beiden Richtungen des islamischen Glaubens waren im Osmanischen Reich lebendig. Nermins Eltern gehören noch zu der Generation, die an dem Glauben, in dem sie aufgewachsen waren, festhalten. Dagegen waren viele Jugendliche aus den ersten Republikgenerationen zu Atheisten geworden. Der türkische Nationalismus sollte zwar eine Art Ersatzreligion bieten, doch unter den meisten Intellektuellen waren bald die linken Ideen populärer. Eine linke Partei hatte sich in der Türkei nie fest etablieren können. Die linken Gruppen, mit denen Nermin in Berührung kommt, sind illegal. Besonders in der Zeit des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg war die Furcht vor Kommunisten fast krankhaft. Da die Religion, auch unter dem Einfluss der verbündeten Amerikaner, als Bollwerk gegen den Kommunismus angesehen wurde, kam es allmählich wieder zu einer Reislamisierung der türkischen Gesellschaft. Gegen die Kommunistengefahr wurde ein engmaschiges Spitzelsystem aufgebaut, in dem auch Nermins Freunde gefangen wurden. Erst nach der Machtübernahme durch das Militär am 27. März 1960 durfte wieder eine sozialistische Partei gegründet werden. Nermin zählt zu den Gründungsmitgliedern der Türkischen Arbeiterpartei (Juli 1961) und gehört ihr zehn Jahre, bis zu ihrer Auflösung, an. Sie bleibt also während ihrer Ehe mit dem Röntgenarzt Bedri, der ihr ein wohl situiertes Leben bieten kann, ihren linken Ideen treu. Wie im dritten Kapitel angedeutet, hängen in der bürgerlichen Wohnung in Osmanbey über dem von der tatarischen Tante ererbten Flügel, dem Statussymbol der verwestlichten Oberschicht, auch Porträts der internationalen Kommunistenführer. Bedri ist lange ein verständnisvoller Ehemann, der die Initiativen seiner Frau bewundert, ohne ihre politischen Auffassungen zu teilen. Ja, er zieht sogar mit ihr ins Gecekondu, wo die Parteipropagandistin Nermin das geliebte Volk aufklären und aus der geistigen Unmündigkeit erlösen möchte. Nermins Scheitern macht die große Kluft zwischen den türkischen Intellektuellen und dem Volk sichtbar, und es wird einfühlsam, aber auch mit distanzierter Ironie und komischen Effekten geschildert. Nach dem Militärputsch im Jahre 1971 wird die Partei verboten. Nermins psychische Krise ist also politisch und privat motiviert.
Leylâ Erbil zeigt mit Nermins Schicksal auch die Misere der türkischen Linken. Die türkischen Sozialisten bzw. Kommunisten konnten sich weder in der Jungtürkenzeit (1908–1918) noch in der Republik frei entfalten. Die Unterdrückung der linken Bewegung trug zur Mythisierung ihrer Führungspersönlichkeiten bei, die entweder im Gefängnis saßen oder im Exil lebten, wie der Dichter Nâzım Hikmet (1901–1963), oder zu Märtyrern wurden, wie Mustafa Suphi, der zu den großen historischen Gestalten der linken Bewegung gehörte. Geboren 1883 in Giresun, studierte er Jura, Ökonomie und Soziologie in Istanbul und Paris. Er war Dozent und oppositioneller Journalist unter den Jungtürken, die ihn 1913 nach Sinop verbannten. Er floh übers Schwarze Meer nach Jalta. Nach der Oktoberrevolution gründete er im Mai 1920 in Baku eine neue Türkische Kommunistische Partei, die sich am »antiimperialistischen« Befreiungskampf in Anatolien beteiligen wollte. Man nahm mit Mustafa Kemal und der Türkischen Nationalversammlung in Ankara Verbindung auf und erhielt eine zustimmende Antwort. Die Gruppe um den Vorsitzenden Mustafa Suphi bestand aus vierzehn Genossen, die im Januar 1921 bei Kars die Grenze überschritten. Da die Bevölkerung ihnen feindselig begegnete, zogen sie weiter nach Trabzon, wo man sie auf ein Boot setzte, um sie außer Landes zu bringen. Auf dem offenen Meer wurden sie ermordet. Wer für ihre Ermordung verantwortlich war, ist bis heute ungeklärt. Leylâ Erbil hat die Figur des Mustafa Suphi als Wiedergänger der Linken in ihren Roman eingebaut. Da das Schwarze Meer zu seinem geheimnisvollen Grab wurde, konnte sie eine Verbindung zu Nermins Vater Hasan herstellen, der, wie sein Bruder Kapitän Ahmet, zur Zeit der Ermordung Mustafa Suphis auf dem Schwarzen Meer unterwegs war. Die entsprechenden Passagen sind authentische historische Dokumente, dienen der Autorin aber als Elemente einer literarischen Montagetechnik, die sie auch in anderen Werken praktiziert.
Leylâ Erbil ist sich stets treu geblieben. Sie hat beim Schreiben nie an die Leser gedacht. Ihre drei Erzählbände und vier Romane sind unerschöpflich komplexe Texte, die im Laufe der Jahre immer wieder aufgelegt und unter neuen Aspekten interpretiert und untersucht werden. Sie gilt innerhalb der türkischen Literatur als Klassikerin der Moderne, und das Türkische PEN-Zentrum hat sie als Kandidatin für den Nobelpreis vorgeschlagen. Ihr Essayband Vögel des Geistes (1998) zeugt von kritischem Intellekt und politischem Kampfgeist. Sie lässt sich nicht einengen und in Kategorien pressen. Sie ist weder eine entschiedene
Feministin noch eine dogmatische Kommunistin. Leylâ Erbil ist ganz sie selbst, eine humane, literarische Instanz.
Im Jahre 2004 in einem Interview gefragt, was sie der jungen Generation raten würde, sagt sie: »Hinzusitzen und den Kopf hängen zu lassen bringt nichts. Es gibt doch so etwas wie Rebellion und Freiheit. An sich arbeiten, sich zum Menschen entwickeln, ein Individuum werden, das ist wichtig.« Sie selbst hatte die Verpflichtung auf sich genommen, die den ersten Republikgenerationen aufgebürdet wurde, den Weg des neuen Menschen zwischen den Trümmern der Tradition und den Werten des Westens zu suchen. Da fand sie den kaputten, verrückten, beschädigten Menschen, zerstückelt, entfremdet in der Realität des
Kapitalismus. Die Türkei komme ihr vor wie ein Narrenschiff, sagte sie einmal im Hinblick auf die Mächtigen, die sich selbst so ernst nehmen. Doch sie gibt die Hoffnung auf Veränderung nie auf. Zur Rettung dienen ihr oft die Ironie und der schwarze Humor mit surrealistischen Elementen. Die Ironie in ihren Werken rühre daher, dass sie sich über sich selbst lustig machen könne, sagt sie. Denn sie kam zu der Überzeugung: Der Mensch ist ein komisches Wesen. Unter diesem Motto sollte man auch ihren Roman Eine seltsame Frau lesen.
Erika Glassen