Diese Anthologie möchte eine literarische Rundreise durch die Türkei ermöglichen, auf der die Vielfalt Anatoliens, seiner Regionen und Lebensformen berührt wird. In den Erzählungen steht der Mensch im Mittelpunkt, so wie er durch die spezifischen Lebensbedingungen und Traditionen einer Region und ihrer Geschichte geprägt wurde.
Die Erzählungen wurden zum Teil in den Vierziger- und Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts geschrieben und reichen bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Türkei, die wir bereisen, ist also der moderne türkische Nationalstaat, den der Begründer der Republik, Mustafa Kemal Atatürk (gest. 1938), durch die von ihm initiierten Reformwerke gestaltete. Dazu gehören: eine Verfassung, in der seit 1928 der Islam nicht mehr als Staatsreligion genannt wird und die Gleichberechtigung der Frau garantiert ist, die Kleider- und Kalenderreform sowie die Säkularisierung des Bildungswesens, die Vereinfachung der osmanisch-türkischen Schriftsprache und die Einführung des Lateinalphabets statt der arabischen Schrift. Diese totale Abkehr von der osmanischen Tradition trägt den Charakter einer Kulturrevolution von oben und sollte im Sinne des Republikgründers die Öffnung nach Europa beschleunigen.
Der Prozess der Öffnung nach Westen war schon seit der Proklamation der Tanzimat-Edikte im 19. Jahrhundert im Gange. Dieser erfasste natürlich auch die Literatur. Die osmanisch-türkische Literatur hatte sich allmählich aus der engen poetologischen Gemeinschaft mit der arabischen und persischen Literatur gelöst. Gattungen, wie sie in der europäischen Literatur existierten, wie beispielsweise die fiktionale Prosa, der Roman und die Erzählung, wurden als Ausdrucksformen realistischer Zustandsbeschreibungen verstanden und übernommen, was zu einem Neuanfang in der türkischen Literatur führte. In der Prosa konnte also die gesellschaftliche Realität dargestellt und kritisch beleuchtet werden: eine Funktion, die den klassischen Literaturgattungen fremd war. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts benutzten die reformfreudigen Literaten den Roman und die Erzählung als Medium für ihre Modernisierungsideen. Für die Kommunikation mit breiteren Leserschichten musste aber die Sprache vereinfacht werden. Denn die überaus komplizierte osmanisch-türkische Literatursprache mit ihrem erstarrten Metaphern- und Formenapparat war nur einem kleinen Kreis von Gebildeten verständlich. Die von Atatürk forcierte Sprachreform und der Alphabetwechsel sorgten dann endgültig dafür, die Bildungschancen für das ganze türkische Volk zu erhöhen.
So entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine blühende türkische Prosa, die all die unterschiedlichen literarischen und weltanschaulichen Tendenzen und den gesellschaftlichen Wandel in der Türkei widerspiegelt. Die Auswahl, die Tevfik Turan besorgte, kann nur eine Kostprobe aus der überlieferten Fülle der Erzählungen bieten. Die renommierten Autoren, die das Genre der Erzählung in der türkischen Literatur heimisch gemacht haben, sind vertreten, aber wir wollen bewusst auch hier zu Lande noch unbekannte Talente zu Wort kommen lassen, um zu zeigen, wie Städte und Landschaften der Türkei republikanische Schriftsteller verschiedener Generationen und sozialer Schichten sowie unterschiedlicher literarischer Strömungen inspiriert haben.
Da die Erzählungen aus verschiedenen Phasen der Republikgeschichte stammen, zeigen sie die Türkei im Wandel. Die Autorenbiografien informieren den Leser über Herkunft, Bildung und literarische Ambitionen (Zugehörigkeit zu Gruppen und Strömungen) der einzelnen Autoren und die Entstehungsdaten der Geschichten.
Die Hauptstadt im Vielvölkerstaat des islamisch dominierten Osmanischen Reiches war ein Schmelztiegel der verschiedenen Ethnien, Religionen und der kulturellen Traditionen seiner Untertanen. Hier war auch das Zentrum der höfischen osmanischen Literatur, der Ausgangspunkt der Reformen im 19. Jahrhundert, das Tor zum Westen. Das anatolische Hinterland blieb für viele der Istanbuler Intellektuellen lange eine fremde Welt. Als Mustafa Kemal Atatürk 1923 die Hauptstadt der Türkischen Republik ins Herz Anatoliens, in die kleine Provinzstadt Ankara, verlegte, war das eine Sensation. Die anatolische Landbevölkerung sollte nun zu Bürgern eines westlich geprägten Nationalstaates erzogen werden. Die nahezu unüberwindliche Kluft zwischen den nationalistischen (kemalistischen) Intellektuellen und den in ihren traditionellen Vorstellungen und Bräuchen verhafteten Anatoliern wurde in der Literatur der frühen Republikzeit thematisiert. Dieser »Fremdlings«-Komplex gegenüber der Heimat Anatolien beherrschte lange Zeit das Bewusstsein der türkischen Intellektuellen. Doch die Autorenbiografien zeigen schon einen deutlichen Wandel: Viele Kinder aus der anatolischen Provinz konnten die Bildungschancen nutzen, studieren und sich in der literarischen Szene durchsetzen. Zwar behielt die alte faszinierende Metropole Istanbul immer ihre Anziehungskraft, gerade auch für Literaten, denn die meisten Verlage und Zeitschriften sind hier angesiedelt. Doch die neue Hauptstadt Ankara hat als Sitz der Regierung, des Parlaments, der Bürokratie, der ausländischen Botschaften und vieler Hochschulen verlockende Brotberufe für Literaten zu bieten. Das führte zu einer kreativen Rivalität der beiden türkischen Metropolen.
Die ländliche Türkei mit ihren unterschiedlichen Volksgruppen und Landschaften hat seit der Republikgründung große Wandlungen erfahren, wofür viele Faktoren verantwortlich sind. Zum einen veränderte sich die Bevölkerungsstruktur durch die Kriegswirren: Der armenische Bevölkerungsteil war im Krieg durch Pogrome und Deportation, der griechische durch Flucht, Vertreibung und später durch Bevölkerungsaustausch reduziert worden. Hinzu kamen: Modernisierung der Landwirtschaft, Landflucht, Kurdenaufstände, Ende des Nomadentums, Verbesserung der Infrastruktur, Aufblühen des Tourismus in den Küstenregionen. Vieles davon wird in unseren Geschichten direkt oder am Rande berührt.
Die literarische Rundreise beginnt in Istanbul. Der Schauplatz der frühen osmanisch-türkischen Romane und Erzählungen war fast ausschließlich die Sultansstadt am Bosporus gewesen. Doch die Zeit der Paschas und ihrer großen Stadtpaläste und Sommervillen am Bosporus ist längst vorüber. Statt der mondän herausgeputzten Dandys, die über die Grande Rue de Pera flanierten, um einen Blick auf die verschleierten Damen in den Kutschen zu erhaschen oder den koketten Levantinerinnen nachzustellen, spaziert nun eine bunt gemischte Menschenmenge, Männer, Frauen, junge Mädchen, Kinder, ungezwungen über diesen legendären Boulevard, der in Istiklâl Caddesi (Unabhängigkeitsstraße) umbenannt wurde. Ziya Osman Saba, Poet und melancholischer Flaneur, macht uns in Fotostudio Glück mit dieser neuen kleinbürgerlichen Gesellschaft der frühen Republikzeit und ihren kleinen Freuden bekannt. Aus Einzelschicksalen, wie etwa in den Geschichten von Meister Rüstem, dem Vorarbeiter bei der Istanbuler Müllabfuhr, und seiner kleinen trotzig-stolzen Tochter (Schreibstifte von Yasar Kemal) oder von der letzten Platzanweiserin in einem Kino an der Istiklâl Caddesi, der alternden Levantinerin Madame Krista, und ihrem jugendlichen Schützling und Liebhaber aus einer kleinen Provinzstadt (Die Platzanweiserin von Hulki Aktunç) erfahren wir, wie Zuwanderer aus Anatolien in Istanbul Fuß fassen.
Nicht weit vom Fotostudio Glück und von Madame Kristas Kino in einer Seitengasse der Istiklâl Caddesi stoßen wir auf die »Schenke der Unglückseligen« (Die Märchenfee von Aziz Nesin), eine kleine Stammkneipe, in der sich die Nachbarn allabendlich treffen, über ihre häusliche Misere klagen, über das Glück philosophieren und sich dabei einen Rausch antrinken. Aziz Nesin beschreibt hier eine Enklave der türkischen Männergesellschaft, für die der Durchbruch in eine Traumwelt, wie sie die Erzählung des Fremden vom Märchenmädchen bietet, geradezu typisch ist. Dem jungen Autor Metin Kaçan gelingt in Die Ränder der Finsternis eine fast musikalische Variation des Nachtlebens von Beyoglu im postmodernen Trend, wenn er im Haschischrausch inmitten der Regentropfen langsam den Abhang zum Goldenen Horn hinuntertänzelt.
Auf dieser Reise durch Anatolien begegnen wir immer wieder solchen Männerwelten, sei es im Weinhaus des Juden Adato in Edirne (Adato von Nahit Eruz) oder in Bursa, wenn Elvan und sein Freund nach Bordellbesuch und Sauftour in einem der seit der Antike berühmten Thermalbäder der Stadt landen (Wie Elvan seinen Schlüssel verlor von Orhan Duru). In der heiteren, mediterranen Atmosphäre von Izmir konnten früher die jungen Männer die Nacht über vor den Lokalen auf der Straße sitzen, grillen und trinken (Es gab einmal eine Stadt … von Tarık Dursun K.), den Mädchen ein Ständchen bringen und auf den erfrischenden Wind warten (Imbat von Tarık Dursun K.) In der ostanatolischen Provinzstadt Gaziantep gerät der gestrenge Finanzinspektor in die feuchtfröhliche Männerrunde der Händler und Honoratioren, die sein alter Schulfreund Sevket für ihn zusammengetrommelt hat (Sevket aus Antep von Erhan Bener). Noch weiter im Südosten, in Mardin, hocken die Männer des Ortes am Fuße der alten Festung im Teegarten, in den wider alle örtlichen Sitten eine junge, westlich gekleidete Frau eingedrungen ist (Festungsmauern von Tomris Uyar).
Diese türkische Männergesellschaft mag ein Relikt aus den Zeiten der Geschlechtertrennung sein, doch sie verliert sich immer noch in Extreme und Obsessionen. Dazu könnte man die eher rührende, lebenslange Leidenschaft des Bonbonmachers Asım aus Gaziantep für Sabahat, die Tochter der Istanbuler Blumenverkäuferin – sicher einer Zigeunerin –, zählen, für die er sein kleines Vermögen durchbringt (Asim, der Bonbonmacher von Ülkü Tamer). Ein alter orientalischer Brauch, das Vogelspiel, artet aus in verbissene Rivalität, wobei es um Leben und Tod geht. Der Ehrenmord an seiner entführten Tochter, den sein Sohn begangen hat, berührt den Vogelzüchter Vakkas Emmi anscheinend weniger als der Verlust seines Täuberichs (Der Damaszener von Bekir Yıldız). Ganz bedrückend wirkt die Geschichte des wortkargen Halit von dem Ehrenmord, den er, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, stellvertretend für einen zu langer Haft verurteilten Mitgefangenen an dessen Vater verüben soll, weil der sich mit der Frau seines inhaftierten Sohnes eingelassen hatte (Die Geschichte von Ibrahim, Sohn des Ibrahim von Ferit Edgü).
Die meisten Erzählungen berichten von eher unspektakulären Ereignissen. Oft sind es die alltäglichen Lebensbedingungen einer Region, die Menschenschicksale bestimmen, wie die alljährliche Überschwemmung des Flusses Sakarya in Westanatolien (Die Überschwemmung von Sait Faik Abasµyanµk) oder die Unpassierbarkeit der Straße zwischen Tatvan und Bitlis im Winter (Ömer, der Waisenjunge von Muhtar Körükçü), die Ankunft des Güterzugs mit den Schafen, der immer in dem gottverlassenen Nest Çobanbey an der syrischen Grenze für den Weitertransport gesäubert und umgeladen werden muss (Nächtliche Düfte von Nahit Eruz). Die Eintönigkeit des Lebens der Seeleute auf dem Schwarzmeerschiff wird fast nur durch Erinnerungen bewegt (Versammlung auf dem Achterdeck von Zeyyat Selimoglu).
Zu diesen »Männer«-Geschichten, in denen Frauen gar nicht, nur am Rande oder in Träumen vorkommen, gehören auch die beiden Erzählungen, die ein Geschehen aus der jüngsten Vergangenheit aufgreifen: Der Spielkamerad von Ahmet Ümit und Der letzte Beritaner von Erkan Karagöz. Aus ganz verschiedenen Perspektiven werden der Krieg in den ostanatolischen Bergen zwischen den kurdischen Aufständischen und dem türkischen Militär sowie die Auswirkungen für die Bergnomaden behandelt. Der junge türkische Offizier Esref und der Kommandant einer Kurdengruppe, Cemsid, wetteifern ohne Hass, ja fast ritterlich, um die beste Strategie, einander zu fangen und zu besiegen. Beide »Spielkameraden« opfern schließlich ihr junges Leben für ihre jeweilige Überzeugung. Dass solche Kampfhandlungen und die Vertreibungspolitik der Regierung zur weitgehenden Entvölkerung mancher Regionen geführt hat, ist bekannt.Viele Kurden mussten ihre Heimat verlassen und sind bis nach Istanbul gezogen, wo sie am Stadtrand hausen. Der alte Kurde ∂evder vom Stamm der Beritan kann es im Gecekondu in Istanbul nicht mehr aushalten und verabredet sich telefonisch mit seinem etwas jüngeren Stammesgenossen Veysi, der in Izmir vom Handel lebt, das alte nomadische Hirtenleben mit einer kleinen Schafherde noch einmal zu versuchen. Wie die beiden trotz ihrer Geduld und Genügsamkeit kläglich scheitern, wird uns eindrucksvoll in Der letzte Beritaner nahe gebracht.
An den kurdischen Hirten Sevder und seine Sehnsucht nach den Schafen erinnert uns der westanatolische Olivenbauer Süleyman Çavus, der, obwohl er seinen Stall längst zur Garage umfunktioniert hat, sich auf dem Pferdemarkt zum Kauf einer zutraulichen Stute verführen lässt, anstatt die notwendigen Ersatzteile für den Traktor zu
bezahlen (Der Wankelmütige von Kemal Bilbasar).
Das Leben in Anatolien hat sich verändert, die Uhren lassen sich nicht zurückdrehen. Doch seit den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ist eine neue Wertschätzung der osmanischen Geschichte zu beobachten, wobei auch der multikulturelle Charakter des Großreiches ins Blickfeld gerückt wird. Spuren des friedlichen Miteinanders der verschiedenen Volksgruppen finden sich nicht nur in Geschichten, in denen Figuren wie die levantinische Platzanweiserin Madame Krista in Beyoglu (Die Platzanweiserin von Hulki Aktunç) oder der jüdische Wirt des Weinlokals Adato (Adato von Nahit Eruz) in Edirne die Hauptrolle spielen oder die plötzliche Auswanderung des jüdischen Kneipenwirts aus Izmir nach Israel, die von seinen Stammgästen bedauert wird und ihnen den Abend verdirbt (Es gab einmal eine Stadt … von Tarık Dursun K.), sondern auch Texte von Schriftstellern, die selbst zu den Minderheiten gehören und heute im Rahmen der türkischen Literatur ihren Platz haben. Roni Margulies – ein anerkannter türkischer Lyriker – spürt in Kindheit in Bostancµ jüdischen Wurzeln nach und beschreibt die Karriere seines polnischen Großvaters im türkischen Großhändlermilieu. Der Armenier Mµgµrdiç Margosyan erzählt in Das Heidenviertel nostalgisch vom nachbarlichen Miteinander der armenischen Christen und der Muslime seiner Heimatstadt Diyarbakır. Fast zu einer mythischen Figur stilisiert Halikarnas Balıkçısı, der mit seinen Freunden, den türkischen Humanisten, immer für die Bewahrung der ethnischen und kulturellen Vielfalt Anatoliens eingetreten ist, die Zigeunerin Kancay in der gleichnamigen Erzählung. Sie verkörpert für ihn die Freiheit, Toleranz und natürliche Schönheit Anatoliens.
Und die Frauen Anatoliens? Auf einer realen Reise wird man immer noch viele Männer in Teehäusern sitzen sehen, während sich überall auf den Äckern und in den Plantagen Frauen abrackern, wie etwa die Mütter von Fatos (Saubohnenpaste von Feyza Hepçilingirler) und Ayse (Ayse Perlchen von Fakir Baykurt) beim Olivensammeln und Bohnenpflücken. Wobei diese kleinen Mädchen wahrscheinlich später ein ähnliches Schicksal erwartet. Es ist eine eigenartige Koinzidenz, dass in diesen beiden Geschichten aus dem Alltag der Frauen eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel der türkischen Küche, die Bohnen, eine so große Rolle spielen, ja sogar titelgebend sind.
Ein Phänomen, das in der Türkei mehr und mehr zu einem Wirtschaftsfaktor geworden ist und zunächst in den Küstenregionen zur Veränderung der Lebensverhältnisse geführt hat, ist der Tourismus. Dazu tragen nicht nur die Ausländer bei, die in den Luxushotels an den Stränden ihren Urlaub genießen, sondern vor allem auch die
türkischen Touristen. Die Kluft zwischen den sonnenhungrigen Großstädtern aus Istanbul und Ankara und der einheimischen Bevölkerung hat noch viel von dem »Fremdlings«-Komplex bewahrt. Feyza Hepçilingirler, die selbst aus Ayvalık stammt, hat in Saubohnenpaste diesen Kontrast zwischen der Sommer- und der Winterwelt eines Badeorts kritisch reflektiert. Manche der Badeorte an der Ägäis – vor allem Bodrum – sind seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts sommerlicher Treffpunkt der türkischen Künstlerszene und aller, die dazugehören wollen. Die Flasche von Orhan Duru bringt einen realistischen Ansatz mit den Reflexionen eines alten Fischers über die sozialen Auswirkungen des Fremdenverkehrs und einen übermütigen, fast unheimlichen Durchbruch ins Grotesk-Surreale. Die türkischen Frauen aus den Großstädten, der sozialen Kontrolle von Familie und Nachbarschaft entronnen, erlauben sich hier im Sommer alle Freiheiten.
Anatolien ist inzwischen auch zum Ziel der soziologischen Feldforschung geworden. Die junge Ethnologin aus Ankara, die beruflich die urwüchsige Gesellschaft von Harran bei Urfa kennen gelernt hatte, sucht Jahre später als Aussteigerin hier ihren inneren Frieden im einfachen Leben im Einklang mit der Natur. Die aufkeimende Zuneigung des jungen Haydar gehört zu den Naturgewalten, die sie nicht einschätzen kann, die aber zu einer verzehrenden Liebesleidenschaft zu werden droht, wie sie in der türkischen Volksliteratur oft besungen wird (Vollmond über Harran von Yesim Dorman).
Die in unserem Band vertretenen Schriftstellerinnen legen besonderen Wert darauf, »wie« etwas erzählt wird. Sie gehen über die nüchterne Beschreibung und kritische Wertung der sozialen Wirklichkeit hinaus, wie sie in den literarischen Richtungen des »sozialen Realismus« und der »Dorfliteratur« gepflegt werden. Diese Autorinnen machen historische Schichten sichtbar und gewinnen damit der Realität und den konkreten Dingen überraschende Aspekte ab, provozieren Ich-Spiegelungen, erleiden Ich-Spaltungen. Das Topografische wird in Metaphorisches umgemünzt, wie etwa in Festungsmauern von Tomris Uyar: Die »Festungsmauern« von Mardin stehen für den Schutzwall, den die Frau um sich errichten muss, um der Realität mit den Versuchungen der Liebe und ihren Enttäuschungen widerstehen zu können. Müge ¥plikçi erfindet in Dort irgendwo war der Wind die vielschichtige Topographie der Lebensgeschichte ihrer Ich-Erzählerin und benennt sie mit fantasievollen Namen, um Erinnerungen zu kultivieren und zu verorten. Geschichte und Gegenwart sind für das Individuum kontemporär erlebbar.
Mit Nazli Erays Erzählung Drinnen kommen wir an das Ziel unserer Reise, nach Ankara. Nazli Eray ist wie die meisten der Frauen, die sich seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts in der literarischen Szene der Türkei durchgesetzt haben, eine weltläufige Autorin, die viele ihrer Erzählungen in fremden Ländern angesiedelt hat. Das schärft den Blick für das Eigene. Die Ich-Erzählerin bummelt durch das vorwinterliche Ankara und betrachtet neugierig die Gebäude, Passagen, Geschäfte, Straßen, Denkmäler, »als würde ich sie kaufen wollen«. Heimgekehrt in ihr Appartement in einem Wohnblock, begegnet sie dort einem »Forscher«, der heimlich in die Wohnungen eindringt, um das soziale Milieu der Menschen kennen zu lernen und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Sanchos Monolog in Sanchos Morgengang von Haldun Taner beim Morgenspaziergang durch das Diplomatenviertel Ankaras zeigt, dass auch er ein großer Psychologe und Sozialforscher ist und viel von der Welt versteht, wenngleich er sie aus der Hundeperspektive betrachtet. Die chaotischen Verkehrsverhältnisse und die überfüllten Busse in der Hauptstadt Ankara Ende der 1940er Jahre, die Bekir Sıtkı Kunt in Moderne Alte beschreibt, dürften sich bis heute kaum wesentlich geändert haben.
Viel bequemer sind die Überlandbusse, die zwischen den großen Städten verkehren und unterwegs an den Raststätten Halt machen. Hier muss jeder einen festen Sitzplatz buchen, und Frauen werden neben Frauen platziert. In der Erzählung Die Heimreisenden von ¥lknur Özdemir, die unseren Band beschließt, lernen sich auf der Fahrt zwischen Istanbul und Ankara zwei Frauen verschiedener Generationen kennen. Im Gespräch finden sie heraus, dass sie beide vor einer Lebenskrise auf der Flucht sind. Der Ausbruch aus der Isolation verhilft ihnen zu einem solidarischen Entschluss: Sobald sie in Ankara angekommen sind, buchen sie die gemeinsame Rückreise nach Istanbul.
Wenn wir nun auf unsere Reise zurückblicken, müssen wir feststellen, dass weniger die Sehenswürdigkeiten und landschaftlichen Reize der Türkei im Mittelpunkt standen, sondern uns vielmehr das Hintergründige, das alltägliche Leben mit den Nöten und Freuden der Menschen, nahe gebracht wurde. Wir durften hinter die Kulissen schauen und sehen, was den Touristen sonst verborgen bleibt.
Erika Glassen