In zwei Romanen hat die 1968 geborene ägyptische Schriftstellerin Miral al-Tahawi ein bemerkenswertes, von eigenen Erfahrungen geprägtes Spektrum verarbeitet. Ihre folgende Reflexion über den Raum und die Ursprünge ihres Erzählens zeigt freilich auch auf, welche Distanz zwischen der Realität ihrer Kindheitswelt und dem harschen Szenario ihres Erstlingsromans Das Zelt liegt.
Gibt es einen weiblichen Ort außer dem Mutterleib? Jener leere Raum, der Lebewesen schafft, so wie die weibliche Fantasie – jener ewige Mutterleib der Erzählung, seit Gott Großmütter schuf, die in unserem Gedächtnis hocken, uns über Länder und Menschen und umherziehende Karawanen erzählen.
Ich liebe es, einen Ort zu schaffen, der nur mir gehört. Vielleicht verfolgt mich dort die Last der Einsamkeit, doch erkämpfe ich mir dadurch Raum für meine eigene Existenz; ich spinne mich ein in meine Einsamkeit, um Geschichten zu weben, die nur meiner Erinnerung angehören. Erzählerin nannten sie mich in meiner Kindheit; ich glaubte an das, was ich erzählte, es war, als ergreife etwas Existenzielles von mir Besitz, von dem es keine Erlösung gibt.
In der Schule saßen wir kleinen Mädchen zu jeweils vieren nebeneinander auf der Bank. Immer war eine von uns an der Reihe zu erzählen, und wir hörten der jeweiligen Erzählerin begierig zu. Ich erzählte die Geschichte meiner Großmutter Zada, doch erzählte ich sie jedes Mal auf eine neue Weise. Die Geschichten waren mein einziger Zufluchtsort in unserem Haus, neben dem lediglich eine Bucht aus Sand lag und ein paar Eukalyptusbäume, die das Haus vom benachbarten Feld abgrenzten. Die Mädchen hätten mir geglaubt, wenn ich erzählt hätte, dass unser Haus zwischen Jasminbüschen liege und ich dort wie eine Prinzessin lebte. Doch das Haus unterschied sich nicht von den anderen des Stammes, eine Großmutter saß dort auf einer Matte und sang mir vor, wenn sie mich trösten wollte. Es war ein Lied, das von Hirten und Schafen handelte, doch wenn ich um mich blickte, fand ich weder das eine noch das andere; ich sah nur Höfe und weite Flächen mit Lehmhäusern, in denen der Stamm sich nach langem Umherziehen niedergelassen hatte. Um diese seine letzte Zuflucht hatte er eine hohe Mauer gezogen, die ihn von den umliegenden kleinen Dörfern trennte. Das Tor, das zwischen mir und der Welt draußen stand, lieferte mir den ersten Impuls zum Schreiben.
Die beduinische Architektur hatte die Form von Festungen – um der Wüste um uns herum entgegenzutreten oder auch, um der Verschmelzung und Vermischung mit der ägyptischen Gesellschaft entgegenzuwirken. Dem großen Pferch, der mittlerweile bis auf ein junges Pferd völlig leer war, bürdete man die Last der vergangenen Ruhmestage auf – die Großmutter schwor, dass der Pferch einst mehr als hundert Tiere beherbergt hatte. Er war nun ein leerer Raum, mit Hufeisen an die Leere verpfändet und mit einem einzelnen Eukalyptusbaum, an dessen Trauer eben dieses junge Pferd gebunden war. Daneben einige alte Häuser, in denen Bilder, Kaffeetöpfe aus Messing, Jagdgerät und einige Schwerter das bewahrten – so sagten sie –, dessen die Geschichte überdrüssig geworden war.
Ich habe in Chroniken und Geschichtsbüchern lange nach etwas geforscht, durch das ich die Beduinen Ägyptens in der Geschichte verorten könnte, doch gab es nur wenige Aufzeichnungen – Randnotizen der Historie. Meine Großmutter, wie sie da auf ihrer Matte saß, noch von Kamelen und ihren Treibern berichtete und alte beduinische Lieder sang, gab mir als einzigen Raum für meine Vorstellungskraft eine Wüste jenseits von Geschichte und Geografie; diese Wüste allein gebar Erzählungen. Meine Großmutter, die nur wusste, dass man früher Sklaven aus Java, Leinenstoff aus den Gebieten der Kopten und Seife aus Gaza geholt hatte, schuf mit ihrer Fantasie eine eigene Realität der Erzählung und zeichnete ihre ganz persönliche Landkarte.
Das Gebüsch unterhalb des Hügels von Muzari, die rote Alwaya neben der Bucht von Mahgub, all diese Orte auf ihrer Landkarte verwiesen mit ihren Namen auf einen umfangreichen Stammbaum mit Ahnen, die eben diese Namen trugen. Meine Großmutter schenkte mir eine Bilderwelt, die nicht Teil der realen Geografie oder Geschichte war, sondern ihrer Vorstellungswelt entsprang – sie, die das Haus ihres Vaters nur verlassen hatte, um in das Haus ihres Mannes überzusiedeln, das nun das Haus ihres Sohnes war. Meine Großmutter schuf ihre eigene Geschichte der Menschheit, die auf Herkunft und Verwandtschaftsbeziehungen gründete: Der und der ist der Sohn von dem und dem. Sie errichtete eigene Klassenunterschiede und reduzierte ihr Verhältnis zu den Menschen auf deren Abstammung: Das sind Oberägypter, die stammen aus der Libyschen Wüste, das sind Zigeuner, und jene sind Bauern aus dem Delta, kurz gesagt, sie sind uns teuer und waren schon immer unsere Diener.
Was soll einen Stamm ausmachen, wenn nicht, dass er seine vergangenen Ruhmestaten in einem Ghetto bewahrt. Die Wüste, so wie ich sie verstehe, ist lediglich eine Stammeskultur, die unseren Standort im Dasein bestimmt: Wir haben sie mitgenommen dorthin, wo wir Beduinen uns niedergelassen haben auf der Suche nach Weideland und Futter, nachdem der Nedschd unfruchtbar geworden war und wir von Neuem in die Fremde ziehen mussten. Wir brachten unsere Verse mit und stellten sie am Ufer des Flusses vor unseren Lehmhäusern auf. Beduinen ohne Wüste, Landbesitzer, die die Landwirtschaft hassen und sich für etwas Besseres halten als die Fellachen. Noch immer grenzen wir uns ab und sagen »wir«, denn das Beduinentum ist eine Wertetradition, die man nicht so einfach abschafft oder infrage stellt.
Als ich mich für die Wüste entschied, wählte ich nicht frei meinen eigenen Standort, so als hätte ich mich für etwas Neues oder Fremdes entschieden. Die Wüste war nicht der Boden meiner Erkenntnis, den ich als Erste betrat; sie bot mir lediglich einen leeren Raum für meine Hypothesen über eine Kultur, die uns geprägt hat, viel tiefergehend als nur in Bezug auf Kleidung, Essen oder Folklore. Eine Kultur mit ihrer eigenen Wertehierarchie, deren wir überdrüssig sind oder über die wir uns lustig machen; dennoch treibt uns die Sehnsucht zum Versuch, mit ihr ins Gespräch zu treten, sie zu verstehen mit ihren positiven wie negativen Seiten. So schaffe ich meinen Text durch eine Welt, die sich bewegt zwischen den Werten der Sippe und des Stammes und den Bedrohungen der Stadtkultur, der man mit Hochmut begegnet und von der man sich abschirmt.
Für mich liegt »der Ort« in jenem großen Tiegel, wo sich die Architektur der arabischen Häuser mit den Dörfern im Nildelta und den Lagerstätten der vorbeiziehenden Beduinen vermischte; in den alten Häusern, in denen die Lieder meiner Großmutter ertönten; den Häusern, die Zeugen meiner Kindheit und meiner Ratlosigkeit waren, meiner existenziellen Frage, zu welcher Welt ich gehöre. Ich sagte immer: Mein Großvater, der Beduinenscheich, und mein Vater, der Arzt. Zwischen dem Haus meines Großvaters und dem meines Vaters wandere ich umher zwischen verschiedenen Welten, jene Häuser blitzen auf durch die Details meiner Erzählung.
In meinem ersten Roman Das Zelt war es das Haus meines Großvaters väterlicherseits, die Lagerräume, der Brunnen, der Empfangsraum, der durch eine hohe Mauer und eine dicke Tür vom übrigen Haus getrennt war. Die Hauptperson war das Kind, das aus dieser strengen Abgeschiedenheit hervorging, Fatim, deren Seele nur durch eine Tür eingeschränkt wird. Eine Tür, durch welche die Frauen zu ewig wiederkehrenden Schicksalen eintreten und durch welche sie zu ebendiesen Schicksalen wieder hinausgehen: Auf diese Weise wird die abweisende Architektur der Festungen mit ihren hohen Mauern zum ewigen Sinnbild. Wir würdigen jene Orte der Erinnerung, wo uns die Obsession für das, was vergangen ist, und für den, der uns verlassen hat, befallen hat. Der Ort trägt den Duft der Erinnerung in sich, die Umarmung des Mutterleibs, die Erinnerung des Ungeborenen, aus der die Wehen des Schreibens erwachsen, oder ein Leib, der Erzählungen erschafft – so wie meine Großmutter, die eine Vorstellung von der Welt webte, die nur in ihren Erzählungen Realität erlangte.
Aus dem Arabischen von Michaela Kleinhaus.
© Neue Zürcher Zeitung, 16. Juli 2005