Als Kind kam ich zum ersten Mal durch Übersetzungen von Märchen mit fremden Kulturen in Berührung, eine Erfahrung, die wohl mehr oder weniger alle Kinder auf der Welt machen.
Die Märchen von Hans Christian Andersen, den Brüdern Grimm, Charles Perrault und anderen entführten mich aus der Enge meiner kleinen Welt in Welten von dunklem Tannenwald, unendlichem Schnee und verzauberten Prinzen und Prinzessinnen. Es waren Reisen in Traumwelten. Als ich die ausländischen Märchen las, deren Motive sicherlich auf Mythen, Legenden und alte Volksgeschichten zurückgingen, wunderte ich mich immer wieder über die Ähnlichkeiten mit den alten koreanischen Geschichten, die meine Großmutter mir erzählte. Später habe ich begriffen, dass es Produkte von Erfahrungen, universellen Fantasievorstellungen, Weltanschauungen und Träumen der Menschheit sind. Es handelte sich nicht um besondere oder merkwürdige Geschichten, sondern es ging z. B. um das Böse im Menschen oder um die Träume, die allen Menschen eigen sind. Die Motive und ihre Ähnlichkeiten lassen sich vielmehr als kollektives Unbewusstsein oder universale Urformen erklären, die die Menschen über die ethnischen und nationalen Grenzen hinaus miteinander teilen.
Während ich heranwuchs, las ich eine Unmenge von Übersetzungen der Weltliteratur, durch die ich Kultur, Geschichte, Gesellschaft und das Bild der Menschen des jeweiligen Landes kennenlernen konnte. Manche der Werke bewegten mich zutiefst, anderen näherte ich mich aus purer Neugier, oder empfand eine besondere Affinität für sie. Es gab damals kein so großes Angebot an literarischen Übersetzungen wie heute. Meist handelte es sich um deutsche oder russische Literatur. Daher mussten die Jugendlichen zu der Zeit nicht unbedingt große Literatur-Liebhaber sein, um die deutsche oder russische Literatur zu lesen.
Zahlreiche deutsche Schriftsteller, deren Literaturwelt und –anschauung sehr unterschiedlich sind – angefangen von Goethe und Schiller, über Gottfried Keller, Thomas Mann, Siegfrid Lenz, Herman Hesse, Franz Kafka, bis hin zu Günter Grass, Uwe Johnson und Stefan Zweig – erfreuen sich großer Beliebtheit in Korea. Über diese einseitige Resonanz der deutschen Literatur in Korea, welche vielleicht der deutschen Literaturwelt unverständlich vorkommen mag, dürfte es eine Vielzahl von Analysen geben. Ich denke aber, sie könnte auf einen gewissen Gleichklang der Herzen von Deutschen und Koreanern zurückzuführen sein. Beide Länder erlitten ein ähnliches Schicksal, nämlich ideologische Konfrontation und Teilung der Nation, worunter Korea bis zum heutigen Tag noch leidet. Diese Tatsache allein erklärt jedoch nicht die Affinität der Koreaner zur deutschen Literatur, weil es sich dabei lediglich um einen einzigen Bestandteil der Literatur handelt. Vielmehr dürften es der Zeitgeist, für den die deutsche Literatur stand, der ununterbrochene Kampf mit der süßen Illusion, die tiefe Innerlichkeit und der Wille zur Transzendenz gewesen sein, von denen die Koreaner sich mehr als von der Literatur anderer Länder angesprochen fühlten.
Durch die literarischen Werke fremder Länder erwirbt man nicht nur Wissen, man nähert sich dadurch auch den Menschen, und zwar auf der Gefühlsebene. Wenn die Literatur eines Landes die Leserschaft eines anderen Landes anzieht, berührt und zu einem Gefühl der Gemeinsamkeit führt, stellt sie keine ausländische Literatur mehr dar, auch wenn Lebensverhältnisse, Religionen und politische Ideologien der Menschen unterschiedlich sind, oder sie sich gar aus politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Gründen feindselig gegenüberstehen. Sie sind keine Fremden mehr. Man lernt das Leben anderer Menschen kennen und empfindet ihre Schmerzen und ihr Schicksal im Innersten mit. Wir fühlen uns gewöhnlich von dem, was uns »anders« erscheint, angezogen. Wir wollen uns aber im Endeffekt immer davon überzeugen, dass wir doch »nicht anders« sind. Aus diesem gemeinsamen Gefühl und Gedanken des »Nicht-anders-Seins« schöpfen wir Trost und Hoffnung.
Die Frage, warum sollten die Deutschen koreanische Literatur lesen, ist nichts anderes als die Frage, warum die Koreaner die deutsche Literatur lesen sollten, was sich auf die Frage erweitern lässt: Warum müssen wir Literatur schaffen und lesen? Die Literatur ist ein »Fenster«, welches das »Ich« zum »Anderen« hin öffnet. Sie ist der Weg, der das »Ich« zu den »Anderen« führt und umgekehrt. Die Literatur eines Landes zu verstehen, geht weit über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Nation, Staat, Religion und Ideologie hinaus. Es ist das Bemühen, einander näherzukommen. Angesichts der heutigen, von Gefahren und Unsicherheit geprägten Zeit ist diese Anstrengung eine besonders schöne und wertvolle Arbeit.
Die Romane, die nach den 50er Jahren entstanden, wurden von Schriftstellern geschrieben, die ihre Jugendjahre inmitten der Kriegswirren verbrachten und unmittelbare Opfer des Krieges waren. Daher sprachen sie von Wut, Verlust und Trauer, und ihr Stil war dementsprechend heftig und verzweifelt. Die Nachkriegsschriftsteller, die Tod und Trennung der Familien erfahren hatten, deren Lebensgrundlagen über Nacht zerstört wurden und die Verwüstung von Körper und Geist am eigenen Leib erlebten, vertraten einen tiefen Nihilismus und eine tragische Weltanschauung. Sie haben das Elend des Krieges, die Verrohung der Menschlichkeit, den Verlust jeglicher Hoffnung und die Verwirrung der Wertvorstellungen aufgedeckt und kritisiert. Dadurch thematisierten sie die existenzielle Frage: Was ist der Mensch? Was für eine Bedeutung hat das menschliche Dasein?
In den 60er Jahren, in die auch die »Revolution des 19. April1« fällt, trat die Generation der Schriftsteller auf die literarische Bühne, die in der Muttersprache erzogen wurde und in der Muttersprache denken und schreiben gelernt hatte. Sie wiesen eine neue literarische Empfindsamkeit auf. In ihren Werken thematisierten sie – mit vom Westen beeinflusster Empfindsamkeit – Freiheit und Illusion, beschäftigten sich mit dem wahren Gesicht von Gewalt und Unterdrückung, oder legten Zeugnis ab von der fehlgeschlagenenen Revolution.
In den 60er und 70er Jahren erfuhr die koreanische Gesellschaft dramatische Veränderungen. Die landwirtschaftlich geprägte Wirtschaft entwickelte sich im schnellen Tempo zur Industriewirtschaft, was Landflucht, Urbanisierung und eine neue städtische Armut zur Folge hatte. Dies steht einerseits für die rasante kapitalistische Entwicklung des Landes, aber andererseits auch für die Vertiefung des inneren Widerspruchs der koreanischen Gesellschaft. Die Änderung der gesellschaftlichen Realitäten spiegelte sich auch in den Stoffen und Themen der Literatur wider und brachte eine Menge literarischer Werke hervor. Behandelt werden die Isolation des Menschen in der industrialisierten Gesellschaft, das elende Dasein entwurzelter Menschen, das aufkeimende Klassenbewusstsein der Arbeiter sowie die moralisch-ethische Frage der Verteilungsprinzipien, also die Frage von Ausbeutung und ausgebeutet werden. Durch die Teilnahme Koreas am Vietnamkrieg wurde man sich der Tatsache bewusst, dass Korea quasi als ein Land der Dritten Welt den USA angehört. Zum Thema Vietnamkrieg aber auch zum Koreakrieg entstanden viele Werke.
Die 80er Jahre waren die Zeit der Ideologien. Aufgrund der Ansprüche der Leserschaft, aber auch des Verantwortungsbewusstseins als Schriftsteller sprach man von sozialem Engagement, Widerstand und vom kritischen Geist der Literatur wie noch nie zuvor. In diesem Zusammenhang schrieben die Schriftsteller über die Tyrannei der Militärdiktatur, den Missbrauch der Menschenrechte, die ungerechte Verteilung, die elende Situation der Arbeiter sowie das Gwangju-Massaker vom 18. Mai 1980. Diese Themen wurden oft metaphorisch behandelt, gelegentlich aber auch in einem sehr direkten Stil. In diese Zeit fällt auch der mutige und kühne Ansatz einiger Schriftsteller, das große gesellschaftliche und gleichzeitig literarische Tabu, die ideologische Spaltung, die zur Teilung des Landes geführt hatte, literarisch zu verarbeiten, wobei man bemüht war, Nord- und Südkorea aus unbefangener Sicht darzustellen. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks Ende der 80er Jahre zeigten sich neue Tendenzen in der koreanischen Literatur. Die »großen Erzählungen« verloren an Bedeutung, das Individuum, seine Gefühle und seine Gedankenwelt traten in den Vordergrund.
Bezeichnet man die 80er Jahre als Ära der »Literatur des großen, öffentlichen Raumes«, so könnte man die 90er Jahre als Ära der »Literatur hinter verschlossenen Türen« bezeichnen. Das gesellschaftliche Gebot, das das individuelle Leben immer im Kontext des gesellschaftlichen Lebens zu beschreiben sei, verlor immer mehr an Überzeugungskraft. Die innere Welt und die alltäglichen Belange rückten in den Mittelpunkt des schriftstellerischen Interesses. Die Zerstörung literarischer Formen, die Verwischung der Grenzen zwischen hoher und Populär-Literatur, aber auch die Emanzipation der Frau waren Themen dieser Jahre. Das Individuum verweigerte sich nun einem Dasein, das es zwischen Ideologien einzwängte, und begann von seinem verborgenen Leben und persönlichen Verlangen zu sprechen.
Zurzeit sind in Korea viele Schriftstellerinnen aktiv. Die Tradition der koreanischen Frauenliteratur hat eine lange Geschichte und brachte hervorragende Literaturwerke hervor. Trotzdem führte sie ein Schattendasein in einer von Männern dominierten Literaturwelt. Seit Mitte der 80er Jahre erfreuen sich aber die Schriftstellerinnen einer breiten Leserschaft und rücken allmählich in das Zentrum der literarischen Szene. Natürlich vertreten die Schriftstellerinnen jeweils unterschiedliche Belange und Sichtweisen über das Leben. Aber sie stimmen doch darin überein, dass man sich ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frauenfrage auch nicht der Frage nach einem ganzheitlichen Wesen nähern kann. In dieser gemeinsamen Einsicht beschreiten sie verschiedene literarische Wege. Mal erzählen sie von ihren schmerzhaften Erinnerungen an die 80er Jahre oder von ihrem eigenen Leben. Themen wie Spannungen und Unsicherheiten im Familienleben, unterschiedliche Arten der Beziehungen zwischen Frau und Mann, die verwirrende innere Welt voll von absurdem und irrationalem Verlangen, Reflexion und Auseinandersetzung mit dem Thema Mutterschaft und weiblichem Geschlecht werden aus verschiedenen Blickwinkeln in der Literatur zum Ausdruck gebracht.
Das Bild der Welt, das sich atemberaubend schnell verändert und immer schwerer nachvollziehbar wird, verlangt von uns eine Änderung des Lebens und Bewusstseins. Die Literatur ist das Ergebnis von Leben, Sitten und Gebräuchen ihrer Zeit. Die neu auf die koreanische Literaturbühne getretenen jungen Schriftsteller kennen keine strengen Grenzen von Gattung, Realität und Fantasie mehr, sie scheuen keine Experimente und Abenteuer wie beispielsweise die Zerstörung der Formen in der Literatur. Einige Experten nennen sie Schriftsteller, die in einem »schwerelosen Raum« ihren Platz zum Schreiben gefunden haben, einem Raum, der Gewicht und Schwere des politischen Schuldbewusstseins oder der historischen Realität nicht kennt.