Erzählen Sie uns von Nacht und Nebel!
Nacht und Nebel ist wie viele Romane, die seit Ödipus geschrieben wurden, wie ein Labyrinth. Er zeigt dem Leser einen Ausschnitt aus den 1990er Jahren in der Türkei und ist auf drei Ebenen angelegt, die sowohl für die jüngste Vergangenheit als auch für die Zukunft der Türkei stehen können. Im Mittelpunkt steht die Suche des Geheimdienstmitarbeiters Sedat nach seiner verschwundenen Geliebten. Spannungen und Richtungskämpfe innerhalb des türkischen Geheimdienstes werden dabei ebenso geschildert wie gesellschaftliche Probleme der Minderheiten in der Türkei bis hin zu außergerichtlichen Hinrichtungen und Kinderhandel in den Hinterhöfen des Istanbuler Stadtteils Beyoglu. Man begibt sich in ein Labyrinth voller Überraschungen, das ich eingangs erwähnt habe, das in der Vergangenheit wurzelt und weit in die Zukunft hineinreicht.
Nacht und Nebel befasst sich in gewissem Sinne auch mit dem politischen Prozess im Lande. Die Feindschaft zwischen Sedat und Fahr erinnert an die Auseinandersetzungen, die wir in der Türkei erleben.
Man kann keinen Roman schreiben, bloß weil man eine politische Botschaft vermitteln will, aber es gibt auch keinen Roman, der gänzlich unpolitisch ist. Es ist wie im Leben: Politik nimmt im Roman so viel Raum ein wie ihr gebührt. In meinen Romanen ist Politik schwerer gewichtet. Ich denke, so wird es in meinen Romanen auch immer sein. Mehr noch als die jüngere Vergangenheit meines Landes spiegelt sich hier meine eigene persönliche Geschichte. Die Türkei hat in den vergangenen dreißig Jahren schwere politische Erdbeben und große Veränderungen erlebt. Als jemand, der hier in diesem Land lebt, ist es unvermeidbar, dass ich von diesen Ereignissen ebenso beeinflusst werde.
Ich schrieb diesen Roman aus Abscheu vor außergerichtlichen Hinrichtungen. Ich schämte mich dafür, in einem Land zu leben, in dem Hinrichtungen ohne richterliches Urteil, also Selbstjustiz, zur Tagesordnung gehörten. Die Frage nach Demokratie steht auch heute noch zur Diskussion. Wenn man aber diese Problematik in die Sprache eines Romans gießen möchte, sie durch diese Sprache vermitteln möchte, dann muss man authentische Charaktere schaffen. Solche, die gut und böse zugleich sind, die zwischen beruflicher Verpflichtung und Liebe hin- und her gerissen sind. Menschen, die durch Ereignisse von ihren Berufen entfremdet werden. Wie z.B. der Geheimdienstmitarbeiter Sedat. Sedat ist ein Geheimagent. Jemand, der sich seinem Beruf sehr verpflichtet fühlt. Man kann sagen, dass der Beruf sein Leben ist. Daher ist er auch dabei, als es darum geht die Geheimdienststrukturen neu zu organisieren. Allerdings grenzen ihn die Vorgesetzten, die von seinem reformorientierten Ansatz zurückschrecken, aus. Da erfährt Sedat zum ersten Mal eine große innere Leere in seinem Leben. Er hat zwar Frau und Kinder, aber diese standen bisher immer an zweiter Stelle in seinem Leben. Er braucht etwas, was ihn wie sein Beruf ans Leben fesselt. Während er danach sucht, begegnet er Mine, und die Liebe zu seinem Beruf, der bislang den größten Stellenwert in seinem Leben einnahm, wurde von der Liebe zu Mine verdrängt. Die Botschaft des Romans liegt genau an diesem Punkt verborgen. Wenn ein Mensch sein Leben ausschließlich einem Ideal, einer Liebe, einer Organisation, einer Vereinigung widmet, so ist sein Unglück schon vorprogrammiert. Diese Einengung des Lebens, die Vernachlässigung von allem anderen, führt zur Verhärtung des Menschen. Dasselbe kann man über Fahri sagen. Er, der einen Kampf gegen den Staat führt, definiert sein Leben durch eben diese Auseinandersetzungen. Als er erkennt, dass sein Handeln falsch war, entscheidet er sich ebenso wie Sedat, seine innere Leere mit der Liebe zu Mine auszufüllen. Deshalb ähneln sich auch die beiden bis zu einem gewissen Grad.
Lassen Sie uns über Sinan und Fahri sprechen, die einstigen Helden der linken Szene.
Bitte lassen Sie mich das sofort korrigieren. Fahri und Sinan sind keine alten Linken. Sie sind nach wie vor überzeugt von ihrem Engagement für eine bessere Welt und befürworten unbedingt Veränderungen. Allerdings haben sie begriffen, dass man mit Terror nichts erreicht. Mehr noch, sie haben verstanden, dass Terror nur jenen dient, die antidemokratisch sind. Die beiden sind künstlerisch begabt und geben eine Zeitschrift heraus. Damit führen sie einerseits ihr Studium fort, das sie im Gefängnis unterbrechen mussten, und andererseits können sie auf diese Weise weiterhin künstlerisch tätig sein. Aber auch sie sind wie Sedat, den sie für ihren Feind halten, umzingelt. Dieser Zustand eskaliert, als Mine verschwindet. Dabei nehmen sowohl Fahri als auch Sedat Schaden in diesem unausweichlichen Konflikt, denn die Ursache ihrer Auseinandersetzung liegt im System begründet. Fahri erkennt das zwar noch vor Sedat, aber seine Rachegefühle verleiten ihn, voreilig und falsch zu handeln.
Erzählen Sie uns von ihrer Heldin Mine.
Mine wurde im Alter von neun Jahren von ihrem Vater getrennt. Der eigentliche Grund, weshalb sie sich einem wesentlich älteren Mann, also Sedat, zuwendet, ist die Suche nach väterlicher Liebe, die sie in ihrer Kindheit nicht erfahren hat, also eine Art Elektra-Komplex. Außerdem reizt sie offenbar der Gedanke, einer anderen schönen, reifen Frau (Melike) den Mann auszuspannen, weil sie selbst so begehrenswert und klug ist. Sie stillt auf diese Weise ihr Bedürfnis, sich selbst zu verwirklichen. Wenn wir dem noch hinzufügen, dass sie sich von Sedat angezogen fühlt, dann leuchtet auch ein, warum sich Mine auf diese Beziehung einlässt. Später wendet sie sich Fahri zu. Kunst fasziniert eine Studentin eben stärker als das Charisma eines Polizisten. Darüber hinaus steht Mine im Roman für das Ideal, für das Gute. Daher wird sie als eine Person dargestellt, die Glück bringen und Wunder schaffen soll. Als sie verschwindert, entsteht folglich Chaos. Das Verschwinden Mines ist wie der Verlust des Guten, der Schönheit, so als ob der Sinn des Lebens abhanden gekommen wäre.
Inwieweit ist Nacht und Nebel ein klassischer Kriminalroman? Wie sehr gehört dieses Buch zu uns, zur Türkei?
AÜ: Nacht und Nebel ist der Form nach ein klassischer Kriminalroman. Allerdings habe ich diese Form an unsere gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse angepasst. Ist es ein Buch„von uns“? Diese Frage ist im Hinblick auf die Geschichte des türkischen Kriminalromans durchaus von Bedeutung. Obwohl seit nahezu einem Jahrhundert in der Türkei Kriminalromane geschrieben werden, thematisiert doch kaum einer die Frage nach unserer Schuld. Leider sind die meisten Krimis nur eine schlechte Kopie amerikanischer Kriminalromane. Als ich Nacht und Nebel schrieb, hatte ich mir das Ziel gesetzt, diesen Zustand zu überwinden. Ob ich erfolgreich war, wird die Zeit entscheiden.
Das Interview führte Levend Yilmaz.
Aus dem Türkischen von Fatma Sagir.