Ahmet Ümit:
Warum ich ausgerechnet den Kriminalroman als Genre gewählt habe?
Auszüge aus Interviews
Warum ich ausgerechnet den Kriminalroman als Genre gewählt habe? Roland Barthes hat einmal gesagt, was ein Autor erlebt, schlägt sich in seinem Stil nieder. In unserem Land gibt es eine 78er- Generation. Sie unterscheidet sich von der 68er-Generation. Weil wir in der Geschichte unserer Republik häufig Militärputsche erlebt haben, entstehen regelrechte Generationen. Zwischen den Generationen – auch wenn nur zehn Jahre dazwischenliegen – besteht ein großer Unterschied.
Ich gehöre zu dieser 78er-Generation. Mit vierzehn Jahren habe ich mich bereits für Politik interessiert und mich politisch engagiert. Dies blieb so bis zu meinem 29. Lebensjahr. Als aktiver Militanter war ich für die Türkische Kommunistische Partei tätig, musste aber während des Putsches untertauchen. Dann habe ich gemerkt, dass die Politik nur geringe Handlungsspielräume bietet. Obwohl ich nach wie vor davon überzeugt bin, dass die Linke Wesentliches zur Lösung der Menschheitsprobleme beitragen kann, habe ich auch erkannt, dass unsere Herangehensweise einen ausgesprochen autoritären Zug hatte. Wir waren davon überzeugt, die Welt richtig erkannt zu haben. Und alle anderen waren im Irrtum. Das ist natürlich unhaltbar. Und dann habe ich angefangen zu schreiben, mich allmählich aus der Politik zurückgezogen. Ich habe mir gesagt, dass ich als Schriftsteller mehr leisten könnte, und begann Erzählungen zu schreiben. »Das sind ja Krimigeschichten, die du da schreibst«, sagten eines Tages Freunde zu mir. Da habe ich überhaupt erst angefangen, mir über mein Schreiben Gedanken zu machen. Als ich noch politisch aktiv war, konnte ich nicht schreiben. Ich konnte nur Slogans hervorbringen. So etwas will ich nicht mehr. Es gehört einfach zu meinem Stil, beim Schreiben einen Spannungsbogen, eine Intrige aufzubauen. Es war also keine bewusste Entscheidung, sondern eine Entwicklung. Aber gleichzeitig merke ich, wie mich das Schreiben erregt. Wenn man diese Erregung nicht spürt, kann man auch nicht schreiben, das glaube ich zumindest. Aber leichte, unterhaltende Kriminalromane, die nur auf Unterhaltung aus sind, passen auch nicht zu mir.
Andererseits kann man auch keinen Roman schreiben, bloß weil man eine politische Botschaft vermitteln will, aber es gibt auch keinen Roman, der gänzlich unpolitisch ist. Es ist wie im Leben: Politik nimmt im Roman so viel Raum ein wie ihr gebührt. In meinen Romanen ist Politik schwerer gewichtet. Ich denke, so wird es in meinen Romanen auch immer sein. Mehr noch als die jüngere Vergangenheit meines Landes spiegelt sich hier meine eigene persönliche Geschichte.
Der Grund, weshalb ich Nacht und Nebel geschrieben habe, war meine Abscheu vor außergerichtlichen Hinrichtungen. Ich schämte mich dafür, in einem Land zu leben, in dem Hinrichtungen ohne richterliches Urteil, also Selbstjustiz, zur Tagesordnung gehörten. Die Frage nach Demokratie steht auch heute noch zur Diskussion. Wenn man aber diese Problematik in einem Roman vermitteln möchte, dann muss man authentische Charaktere schaffen. Solche, die gut und böse zugleich sind, die zwischen beruflicher Verpflichtung und Liebe hin- und her gerissen sind. Wie beispielsweise der Geheimdienstmitarbeiter Sedat, der sich seinem Beruf sehr verpflichtet fühlt. Der Beruf ist sein Leben. Daher ist er auch dabei, als es darum geht, die Geheimdienststrukturen neu zu organisieren. Allerdings grenzen ihn die Vorgesetzten, die von seinem reformorientierten Ansatz zurückschrecken, aus. Da erfährt Sedat zum ersten Mal eine große innere Leere in seinem Leben. Er hat zwar Frau und Kinder, aber diese standen bisher immer an zweiter Stelle in seinem Leben. Er braucht etwas, was ihn wie sein Beruf ans Leben fesselt. Während er danach sucht, begegnet er Mine, und die Liebe zu seinem Beruf, der bislang den größten Stellenwert in seinem Leben einnahm, wurde von der Liebe zu Mine verdrängt. Die Botschaft des Romans liegt genau an diesem Punkt verborgen. Wenn ein Mensch sein Leben ausschließlich einem Ideal, einer Liebe, einer Organisation widmet, so ist sein Unglück schon vorprogrammiert. Diese Einengung des Lebens, die Vernachlässigung von allem anderen, führt zur Verhärtung des Menschen. Dasselbe kann man über Fahri sagen. Er, der einen Kampf gegen den Staat führt, definiert sein Leben durch eben diese Auseinandersetzungen. Als er erkennt, dass sein Handeln falsch war, entscheidet er sich ebenso wie Sedat, seine innere Leere mit der Liebe zu Mine auszufüllen. Deshalb ähneln sich auch die beiden bis zu einem gewissen Grad.
Die Türkei spielt in all meinen Büchern eine wichtige Rolle, und in jedem Text greife ich die universelle Frage nach dem Menschen auf, setze mich mit Schuld und Gewalt auseinander. Das ist auch im Roman Patasana der Fall, thematisiert wird die Tradition, die »Anderen« zu vernichten. Das ist nicht nur eine Frage der Türkei bzw. dessen, was in der Türkei mit den Armeniern gemacht wurde. Es ist gleichzeitig eine Angelegenheit, die historisch verwurzelt ist. Es handelt sich um Gewalt, die an Unschuldigen verübt wurde – so wie die Gewalt der Amerikaner gegen die Indianer, die Gewalt der Nazis gegen die Juden oder Gewalt, die von Katholiken gegen Protestanten ausgeübt wird. Oder die Ereignisse in Afghanistan. Wenn ich davon in meinen Romanen erzählen will und gleichzeitig hier in der Türkei lebe, greife ich diese universellen Probleme vor dem Hintergrund der Erfahrungen in diesem Land auf und beschreibe sie. Schließlich haben wir Schriftsteller ein kritisches Verhältnis zur Welt. Das ist auch unsere Verantwortung als Schriftsteller, denn weil wir kritisieren, wünschen wir uns Veränderungen, eine bessere Welt. Auch wenn wir das nicht als Botschaft in unseren Werken artikulieren, so sehnen wir uns doch unbewusst alle, jedenfalls alle Intellektuelle danach, dass die Welt besser wird, dass es weniger Gewalt gibt. In jedem existiert diese Sehnsucht nach einer brüderlicheren Welt.
Ob Nacht und Nebel ein Buch über die Türkei ist? Diese Frage ist im Hinblick auf die Geschichte des türkischen Kriminalromans durchaus von Bedeutung. Obwohl seit nahezu einem Jahrhundert in der Türkei Kriminalromane geschrieben werden, thematisiert doch kaum einer die Frage nach unserer Schuld. Als ich Nacht und Nebel schrieb, hatte ich mir das Ziel gesetzt, dies zu ändern. Ob ich damit erfolgreich war, wird die Zeit entscheiden.
Auszug aus einem Interview mit der Istanbul Post.
Mit freundlicher Genehmigung von Stefan Hibbeler, Istanbul Post.