Wolfgang Scharlipp:
Nachwort zu »Nacht und Nebel«
Ahmet Ümit gehört zu den Pionieren des modernen türkischen Kriminalromans mit literarischem Anspruch. Er hat keinen Serienhelden geschaffen, mit dem der Leser sich identifizieren könnte, sondern setzt mit variierenden Protagonisten eine literarische Richtung fort, die in der Türkei eine lange Tradition hat und bis in das Osmanische Reich zurückreicht: die Sozialkritik. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich der Untergang des Reiches abzeichnete, und immer mehr Intellektuelle in der Einführung von westlichen Institutionen die Rettung sahen, wurde auch der Roman als literarisches Genre entdeckt, das geeignet war, gesellschaftliche Analysen in künstlerischer Form zu vermitteln.
Eines der ersten Werke war bereits ein Kriminalroman (1878), verfasst von Ahmet Midhat (1844-1912), dem großen Reformer des späten 19. Jahrhunderts. Aber dieses Werk diente ihm, wie alle seine zahlreichen Romane, als Vehikel für neue, d.h. westliche Ideen. Freimütig sagte er später selbst, dass er keinem seiner Romane literarische Qualität zubillige, sondern alle mit pädagogischer Absicht geschrieben habe.
Es erschienen dann lange Zeit keine autochthonen Kriminalromane bzw. Erzählungen, sondern der Markt wurde von Übersetzungen beherrscht, insbesondere nach dem Aufkommen der amerikanischen Dime Novels, die meist übersetzt, teilweise aber auch adaptiert wurden.
Zum Superstar im Kriminalgenre avancierte allerdings um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert Sherlock Holmes, dessen Abenteuer sich Sultan Abdülhamit II. (1876-1909) im Übersetzungsbüro seines Palastes ins Türkische übertragen ließ. Das Büro diente eigentlich dazu, politische und wissenschaftliche Artikel aus europäischen Zeitschriften zu übersetzen. Abdülhamits Verehrung Sir Arthur Conan Doyles ging so weit, dass er diesen im Jahr 1904 nach Istanbul einlud.
In den folgenden Jahrzehnten erschienen einige Kriminalerzählungen und nur wenige Kriminalromane. Diese waren von Autoren verfasst, die sonst Prosa anderer Art schrieben. Als ein Autor, den manche Leser außerhalb der Türkei kennen werden, ist hier z.B. Aziz Nesin zu nennen. Erst in den Fünfzigerjahren widmete sich Ümit Deniz ganz dem Kriminalroman, von denen er etwa ein Dutzend produzierte. Ihre Handlungen sind durchaus spannend, aber der sprachliche Stil eher anspruchslos und die Handlungen so blutig und brutal, dass sie in die Kategorie sex and crime einzuordnen sind. Interessant ist, dass der Detektiv – der erste Serienheld des »modernen« türkischen Kriminalromans – ein Journalist ist, ebenso wie der Autor selbst. Die journalistischen Einblicke in die Unterwelt verleihen seinen Romanen zweifellos Authentizität, was auch die Darstellungen der blutigen Szenen betrifft. Diese Darstellungen werden in der späteren, als seriös einzuschätzenden Kriminalliteratur ja weitgehend tabuisiert, weil sie als zu reißerisch angesehen werden.
Jahrzehnte lang zehrten die Krimi-Fans in der Türkei von den Übersetzungen westlicher Autoren von unterschiedlichster Qualität, von Agatha Christie über Georges Simenon bis hin zu Henning Mankell. In den 1990er Jahren kam es jedoch zu einer wahren Explosion autochthoner türkischer Kriminalliteratur. Wenige Jahre zuvor war die Antwort auf die Frage nach türkischen Krimis in jedem Buchladen: »So etwas schreiben unsere Autoren nicht.« Zu der ganz neuen Situation mögen einerseits die Kinoverfilmungen, insbesondere aber die Fernsehserien beigetragen haben, die letztlich dazu führten, dass das Ansehen der Kriminalliteratur, die bislang als reine Unterhaltungsware verpönt war, sich drastisch verbesserte.
Anfang der Neunzigerjahre veröffentlichten fast gleichzeitig mehrere bisher unbekannte Autoren Kriminalromane: erwähnt seien Osman Aysu, die wie am Fließband Thriller zu schreiben begann, die sich glänzend verkauften, und Celil Oker, der seit 1999 Kriminalgeschichten veröffentlicht. Sein Detektiv Remzi Ünal erinnert mit seinen Untersuchungsmethoden an die »klassischen« Protagonisten des Genres, wie Maigret, Marlowe oder Poirot.
Ein Autor hob sich aus der Menge ab: Ahmet Ümit. Seine Bücher erfüllen alle Anforderungen des Genres: die Entdeckung des Verbrechens, die Schilderung der Aufklärungsarbeit, einschließlich des Legens falscher Fährten zum Erzeugen von Spannung, schließlich die oft überraschende, völlig unerwartete Aufklärung.
Die Verbrechen geschehen an den Schwachstellen der Gesellschaft, an denen die Starken und Mächtigen sitzen. So geht es um die Verzahnung von Politik und Verbrechen, Machtmissbrauch, staatlichen, islamistischen und kurdischen Terror und um die Missachtung von Minoritäten.
In »Nacht und Nebel« finden wir keine Jahreszahl, die uns einen Anhalt dafür gibt, um welche polizeilichen Aktionen es sich handelt. In Anbetracht der Heftigkeit der Auseinandersetzungen dürfen wir aber davon ausgehen, dass sich das Geschehen auf die Zeit der Machtübernahme des Militärs am 12. September 1980 bezieht. Damals beeinträchtigten bewaffnete Kämpfe zwischen Rechten und Linken das gesamte Leben: Polizeikontrollen, Razzien, willkürliche Verhaftungen etc. griffen tief in die öffentliche und private Sphäre in der Türkei ein.
Wer es nicht miterlebt hat, kann sich nur schwer vorstellen, mit welcher Verbissenheit diese Kämpfe ausgetragen wurden: In dieser Zeit war es lebensgefährlich, sich mit einer bestimmten Zeitung in der Öffentlichkeit zu zeigen. Unser Roman lässt keinen Zweifel daran, auf welcher Seite dabei die Sicherheitskräfte standen.
Die realistische Behandlung solcher Themen führt dazu, dass Brutalität in all ihrer grausamen Wahrheit dem Leser nicht erspart bleibt: da wird ihm kein Tomatenketchup als Blut verkauft. Selbst dem Übersetzer fallen bei seiner Tätigkeit manche Stellen nicht leicht, zumal er sich aus Sympathie mit der türkischen Kultur beschäftigt, in deren Rahmen diese Literatur entstanden ist. Man darf vielleicht hoffen, dass auf Grund der politischen Entwicklungen der letzten Jahre solche Darstellungen allenfalls historischen Wert haben.
Aber der Wert der Darstellung liegt tiefer: Ahmet Ümit gelingt es, seinen Helden ein glaubwürdiges Profil zu geben, in dem Menschlichkeit und Unmenschlichkeit nicht zu trennen sind. Ein türkischer Kritiker machte dem Autor den Vorwurf, dass seine Figur des Sedat unglaubwürdig sei, da ein solch „eiskalter Folterer« und »Killer« nicht gleichzeitig ein guter Ehemann und liebevoller Vater sein könne. Gerade um diese »Ausgewogenheit« geht es jedoch. Folter und Verfolgung Andersdenkender sind aus der Geschichte der Menschheit nicht zu streichen. Wie viele der Schergen des Dritten Reiches, der Folterer im Chile Pinochets oder im irakischen Gefängnis Abu Ghraib werden in ihrem Privatleben genau das gewesen sein: liebevolle Ehemänner und Väter.
Sedat tötet und foltert in der Überzeugung, hiermit seiner Pflicht nachzukommen und sein Vaterland vor wirklichen oder eingebildeten Feinden zu beschützen.Die Zerrissenheit der Figur Sedat wird jedoch darin deutlich, daß er nicht mehr wie sein Chef und Onkel vollen Herzens mit der Überzeugung lebt,
dass nur seine rabiaten Methoden das Heimatland, dieses höchste Ideal seit der Zeit Atatürks, beschützen können. Insbesondere die Liebesbeziehung zur Studentin Mine und seine damit von neuem erwachende Emotionalität setzt der Autor hierbei geschickt als Motiv ein. Hinzu kommt, daß Sedat sich aktiv an einer Auseinandersetzung innerhalb des Geheimdienstes beteiligt und sich dabei für eine Neustrukturierung und Modernisierung einsetzt.
Ahmet Ümits schriftstellerisches Wirken steht ganz im Zeichen der Ablehnung von Gewalt, aber auch der Erklärung, wie es zu ihr kommt. Als ehemaliger Untergrundkämpfer hat er in dieser Hinsicht wohl so manche Erfahrung sammeln können.
1960 in der südostanatolischen Provinzstadt Gaziantep geboren, war der junge Mann, als er zum Studium nach Istanbul ging, bereits von Entbehrung und der Suche nach Gerechtigkeit geprägt. Diesen Erfahrungen und Gefühlen gab er zuerst Ausdruck in einem Gedichtband und einem Band Erzählungen, die von illegaler politischer Tätigkeit, Verfolgung und Zusammenstößen mit der Polizei erzählen. Überraschenderweise handelt sein erster Roman »Eine Stimme teilt die Nacht« (Bir ses böler geceyi, 1994) scheinbar von etwas ganz Anderem. Hier geht es um den Autoritätsverlust der alevitischen Gemeindevorsteher, der »Dedes«, unter den jüngeren Mitgliedern der Gemeinde. Düstere Stimmung und Spannung werden dadurch erzeugt, dass ein junger Mensch nach einem Autounfall unfreiwillig in düsterer Nacht durch ein Fenster Zeuge eines bizarren Zwischenfalls wird: Eltern heben ihren toten Sohn aus seinem Grab, in dem er ohne die alevitischen Riten begraben worden war, weil er seiner kritischen Meinung zur Religion Ausdruck gegeben hatte. Auch hier geht es also schon um Macht und Machtmissbrauch: in den späteren Werken Ümits ein immer wiederkehrendes Thema.
Ahmet Ümit hat einmal von sich selbst gesagt, er schreibe »türkische« Kriminalromane. Es stimmt, dass manche Handlungen und Ereignisse in seinen Büchern ohne gewisse Kenntnisse des Lebens in der Türkei nicht auf Anhieb zu verstehen sind. Aber als begabtem Erzähler gelingt es dem Autor leicht, den Leser mit der jeweiligen Problematik vertraut zu machen. So wird mit seinem, nach »Eine Stimme teilt die Nacht« (1994) und »Nacht und Nebel« (Sis ve Gece, 1996) dritten Roman »Patasana« (2000) niemand Schwierigkeiten haben, dem die Hethiter nicht ganz unbekannt sind und der vom Kampf gegen die kurdische PKK und von der Vertreibung der Armenier gehört hat. Die Titelfigur »Patasana« ist ein fiktiver hethitischer Kanzleischreiber, der den ersten der Fachwelt bekannten privaten Text geschrieben hat: dieser Text wird von einem internationalen Archäologenteam ausgegraben und übersetzt. Im Umkreis dieses Teams geschehen mehrere Morde, die reichlich Möglichkeiten zu Spekulationen geben; in Verdacht geraten islamistische Fundamentalisten, kurdische Separatisten, sowie Armenier, die Rache für ihre früheren Verfolgungen nehmen wollen.
Literarisch interessant ist der parallel verlaufende Handlungsstrang, einmal auf der zeitlichen Ebene des Patasana, dann in der Gegenwart. Auf beiden Ebenen gibt es Probleme mit der Liebe und mit Auseinandersetzungen zwischen Völkerschaften, wobei die Ereignisse auf den verschiedenen Ebenen manchmal ineinander überzugehen scheinen. Sein bislang letztes Werk »Beyoglu Rapsodisi« (2003) ist gleichzeitig ein Kriminalroman und eine Liebeserklärung an das bunte, wunderschöne, verdorbene Istanbul, besonders den alten europäischen Stadtteil Beyoglu und dessen gegenwärtige Lebenswelt.
Ganz anders meistert Ahmet Ümit das schwierige Genre der Kriminalerzählung: hier muss ja auf wenigen Seiten ein Verbrechen aufgeklärt werden. Die Helden dieser Erzählungen sind nicht die Mafiabosse, weder die, die sich selbst hochgearbeitet haben, noch die demokratisch Gewählten, und auch keine anderen einflussreichen Gestalten. Vielmehr sind es die kleinen Leute und kleinen Gauner, die in Schwierigkeiten geraten. In den Erzählungen, die meist überraschende Auflösungen bieten, herrschen statt hinterhältiger Intrigen Komik, Zufälligkeiten und knappe Dialoge vor. Viele dieser Erzählungen sind inzwischen zu Fernsehserien verfilmt worden.
Ahmet Ümit greift in allen seinen Romanen heikle aktuelle Affären und Themen auf, plaziert die Handlung in eine unverkennbare historische Situation und gibt das türkische Milieu facettenreich und realistisch wieder. Auch »Nacht und Nebel« spielt auf mehreren, geschickt verzahnten Ebenen: Zum einen wird die Welt des türkischen Geheimdienstes aus mehreren Perspektiven dargestellt, zum anderen gibt der Roman wichtige und spannende Informationen zum Leben der griechischen Minderheit im heutigen Istanbul, zur Homosexuellen- und Päderastenszene der Stadt, zu politischen und literarischen Bewegungen der Türkei der 80er Jahre und zum traditionellen anatolischen Ehrenkodex.
Sicher können seine Kriminalromane zukünftig als Zeugnis unserer Epoche dienen.