Kürzlich aß ich in meinem Lieblingsrestaurant zu Mittag, dem ›Philippe the Original‹ (Home of the French-Dipped Sandwich) im Stadtzentrum, und als ich um mich sah, bemerkte ich plötzlich, dass Mabel Stark mich anstarrte. Mabel Stark, die einzige Tiger-Dompteuse der Welt – seit siebenundzwanzig Jahren ist sie tot. Miss Stark liebkoste einen bengalischen Tiger auf einem der Fotos, das im »Paul Eagles Circus Club« genannten Teil des Restaurants hing – einem Bereich, in dem legendäre Zirkusleute ihre regelmäßigen Zusammenkünfte abhielten. Ich erstarrte mitten in meinem Bissen.
Das letzte Mal hatte ich Mabel Stark gesehen, als ich elf Jahre alt war. Sie war die Hauptattraktion im JungleLand, einem Vergnügungspark in Thousand Oaks, Kalifornien, der unrühmlich Schlagzeilen machte, als ein Löwe ein Kind von Jayne Mansfield anfiel. Doch lange bevor Jayne Mansfield ihren Fuß in unsere Heimatstadt gesetzt hatte, fuhren meine Kumpel und ich jeweils mit dem Fahrrad ins JungleLand. Der Höhepunkt eines jeden unserer Besuche war zweifellos Mabel Starks Auftritt mit ihren Raubkatzen.
Für uns Knaben war Miss Stark das seltsamste Wesen, das wir je gesehen hatten. Sie war eine zierliche, ältere, ernste Dame mit einer Art Harpo-Marx-Frisur und einem glitzernden Zirkuskostüm. Sie befahl ihren gestreiften Schützlingen zu springen, zu knurren, zu paradieren, sich um sich selbst zu drehen und im Kreise zu rennen. Jedes dieser Kunststücke akzentuierte sie mit einer übertrieben schwungvollen Geste der rechten Hand. Nur schon nach dieser schwungvollen Gebärde zu urteilen – ohne überhaupt den Sprung in eine Manege voller großer sabbernder Katzentieren in Betracht zu ziehen – kamen meine Kumpel und ich zum Schluss, dass die Dame betrunken war. Wir kicherten, wie Knaben dies eben so tun, und machten ihre Gesten nach, bis wir uns vor Lachen krümmten. Dies ging so bis zu jenem Tag, als Miss Stark uns mit einem so empörten Blick strafte, dass wir auf der Stelle still wurden. Diesen Blick habe ich nie vergessen.
Als ich dort im ›Philippe’s‹ saß und nachdenklich das Foto betrachtete, kam mir wieder in den Sinn, dass ich eines Abends im Jahre 1968 ihren Nachruf im Thousand Oaks News-Chronicle gelesen hatte. Anscheinend hatte sich Miss Stark von der Manege zurückgezogen, nachdem sie nicht mehr so gut auf den Beinen war und sie kurz zuvor ihren Lieblingstiger Raja verloren hatte. Als sie glaubte, nichts mehr zu haben, wofür es sich zu leben lohnte, schrieb sie ein Testament und einen Abschiedsbrief, wandte sich von der Welt ab, drehte den Gashahn auf und legte sich auf den Küchentisch. Sie war vierundsiebzig oder achtzig, je nach der Quelle, der man Glauben schenkte.
Mit diesen längst vergessenen Erinnerungen kehrte ich am nächsten Tag nach Thousand Oaks zurück, um zu sehen was ich über diese Frau herausfinden konnte – und was sie dazu gebracht hatte, ihr Leben in Gesellschaft solch überdimensionierter Kätzchen zu verbringen … Das JungleLand existierte schon lange nicht mehr, es war nach dem Mansfield-Vorfall und anderen PR-Problemen 1968 Bankrott gegangen. Einzig ein Restaurant in einem kleinen Shoppingcenter in der Nähe mit dem Namen The New JungleLand Cafe und eine romantische Gruppe von Eichen, die früher die Grenze des Tierparks angezeigt hatten, wiesen auf seine frühere Existenz hin. Die einzige Bestie, die hier noch übrig war, war der einschüchternde Monolith des Thousand Oaks Performing Art Center, der genau da stand, wo Miss Stark einst ihre Tiger alle Gangarten machen ließ. Ich ging beim News-Chronicle vorbei – mittlerweile keine Kleinstadtzeitung mehr, sondern zu einer Gruppe gehörend, die The Star heißt – um alle Artikel, die ich überhaupt über die Dame finden konnte, mitzunehmen. Auch der Nachruf, an den ich mich noch erinnert hatte, war im Archiv – und er war fast auf den Tag genau vor siebenundzwanzig Jahren erschienen! Ich hielt inne und fragte mich ob es nur Neugier oder doch etwas Geheimnisvolleres war, das mich zu dieser kleinen Forschungsreise veranlasst hatte. Vielleicht war Miss Starks Geist immer noch präsent und sehnte sich nach noch etwas mehr Druckerschwärze, nach noch einer Schlagzeile.
Der erste Abschnitt des Nachrufes, der von der schrecklichen News-Chronicle-Schreiberin Carol Bidwell verfasst worden war, zielte ins Poetische ab: »Mabel Stark Trees«, hieß es da »die in den letzten fünfzig Jahren fast jeden Tag im Tigerkäfig einem knurrenden Tod mit blitzenden Krallen ins Gesicht sah, ist tot.« Ich erfuhr, dass Miss Stark für einige Jahre mit einem »Tierpark-Direktor« namens Eddie Trees, der 1953 starb, verheiratet war. Es wurde erwähnt, dass sie die Welt mit dem Zirkus bereiste, dass sie achtzehn Mal von den Tigern angegriffen und verletzt worden war und dass sie, obwohl schon fast im Ruhestand, eine Artisten-Karriere im JungleLand machte. Seit 1938 war Thousand Oaks ihr Zuhause; die Stadt wählte sie im Jahr 1957 sogar zur ersten Ehrenbürgermeisterin. Der Tod ihres geliebten fünfzehnjährigen Tigers gab offensichtlich den Ausschlag für Mabel Stark, sich zurückzuziehen, und führte wohl schlussendlich zu ihrem Tod. Zu meiner Freude erwähnte der Nachruf auch, dass Miss Stark »sich an der Schreibmaschine zu Hause gefühlt« und eine Autobiografie geschrieben hatte. Der Titel lautete, was nicht überrascht, Hold That Tiger (von Mabel Stark, aufgezeichnet von Gertrude Orr, veröffentlicht 1938).
Ich legte den Nachruf zur Seite und ging unverzüglich zur Thousand Oaks Bibliothek. Dort verschaffte ich mir mit all meinen Überredungskünsten Zugang zum einzigen Exemplar des Buches, das sorgfältig verwahrt war und zu dem man beschränkt Zugang hat – es war von Mabel eigenhändig signiert! Ein wichtiges Stück der Lokalgeschichtesammlung der Bibliothek. Mit gebührender Ehrfurcht schlug ich das Buch auf … Das Umschlagsbild sah eher nach Winnie The Pooh als nach Frank Buck aus. Abgebildet war die junge, strahlende Mabel Stark, die hinter einem großen, flaumigen (und möglicherweise lächelnden) Tiger stand und ihre Arme liebevoll um den Hals des Tieres schlang. Die Bestie sah mindestens so bedrohlich wie Garfield aus und Miss Stark so stolz wie eine Mutter. Der Inhalt des Buches war weniger süß: »Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren richte ich Tiger ab, arbeite mit ihnen und trainiere sie«, begann sie. »Ich bin so oft zerkratzt, aufgeschlitzt und angeknabbert worden, dass kaum ein Zentimeter meines Körpers von Zähnen oder Krallen verschont geblieben ist. Doch ich liebe diese großen Katzen wie eine Mutter ihre Kinder, auch wenn sie widerspenstig sind. Nur weil sie um ihre eigene Stärke wissen, werden sie zu Killerbestien. Sie können unterworfen, aber niemals besiegt werden, außer mit Liebe. Und genau das ist das Geheimnis jeder erfolgreichen Tierdressur. Ich bin zu dieser Erkenntnis gekommen, indem ich mein Leben riskiert habe …«
»Mein Beruf mag ungewöhnlich für eine Frau scheinen, doch im großen Käfig zählt nicht die physische Kraft … Für mich gibt es keinen größeren Nervenkitzel als in einen Käfig voll dieser prächtigen Bestien einzutreten und mich mit ihnen zu messen … Eine unvergleichliche Schönheit liegt in ihren lohfarbenen Körpern mit den mitternachts-schwarzen Streifen. Ihre verstohlene Gangart und der lange, beim Springen gekrümmte Bogen ihrer Körper besitzen eine rhythmische Anmut. Ich liebe sogar ihr Fauchen, wenn sie, zum Zubeißen bereit, ihre mächtigen Fänge zeigen … Wenn ich heutzutage Männer und Frauen treffe, die ihr Leben eingeschlossen in Häusern und Büros verbracht haben und derer Gesichter von der Eintönigkeit des Alltags grau geworden sind, realisiere ich, wie glücklich meine Berufswahl war.«
Diese Wahl geschah, wie ich erfuhr, sehr früh. Während andere Kinder in ihrer Heimatstadt Princeton, Kentucky sich nach der Schule mit den üblichen gesellschaftlichen Betätigungen abgaben, ging die junge Mabel immer schnurgerade in den Zoo um stundenlang die Tiere zu beobachten. Eine (kaum begonnene) Krankenschwesterkarriere wurde im Keim erstickt, als sie während ihres Urlaubes in Kalifornien eine Karte für den A. G. Barnes Circus gekauft hatte und zufällig in Mr. Barnes hineinlief. Ihr Enthusiasmus für Pelztiere und ihr natürlicher Umgang mit ihnen waren so offensichtlich, dass Barnes sie auf der Stelle engagieren wollte. Was auch geschah.
Die Fotos des Buches waren überaus spektakulär. Miss Stark war stets in glamourösen, Paradeuniformen ähnlichen Zirkuskostümen zu sehen und ihre blonden Haare trug sie in einer Art Pagenfrisur. Auf einer Aufnahme posiert sie inmitten von sechzehn Tigern, die um ein Postament gruppiert sind. Auf einer anderen umarmt sie ein Kind, das von zwei Tigerjungen eingerahmt wird. Die Bildlegende spricht von »zwei Arten von Kindern«; wieder auf einer anderen posiert sie zusammen mit Mae West und einem Leoparden (es scheint, dass sie von Löwen und Leoparden zu ihren orange-schwarz gestreiften Lieblingen »aufgestiegen« ist). Aus dem Text und den Fotos ging hervor, dass dieser große Zirkusstar sich den eingekerkerten Kreaturen völlig widmete – das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass sie in einer weniger aufgeklärten Zeit aufwuchs, in der die Gefangenschaft von Tieren in der Unterhaltungsbranche kaum hinterfragt wurde. Oft nahm sie ihre Tiger nach Hause (!). Wenn der Zirkus in seinem Winterquartier in Venice, Kalifornien, war, machte sie dort mit ihnen ab und zu ausgedehnte Spaziergänge. Sie zog viele der Jungen auf, fütterte sie pünktlich, richtete ihre Zähne, kratzte ihre Köpfe um sie zum Schnurren zu bringen (ja, sagt sie, Tiger schnurren), stach ihre Eiterbeulen auf und verteidigte jeweils mit Nachdruck diejenigen, die sie bissen und zerkratzten: »Wenn etwas schief läuft«, schrieb sie, »gebe ich immer mir und nicht den Tigern die Schuld. Vielleicht ist es ein eiternder Zahn, eine wunde Pfote oder eben ein völlig grundloser Groll gegen die Welt, der die Katze verstimmt … dann beginnt der Spaß.« Beim »Spaß« wurde sie mehrmals so grauenhaft zugerichtet, dass man es kaum für möglich hält. Der schlimmste Vorfall ereignete sich in Bangor, Maine, als sie mit der John Robinson Company auf Tournee war, in einem Zusammenstoß mit den Katzen Sheik und Zoo. Halten sie ihren Atem an bei Miss Starks eigener Beschreibung: »Sheik war hinter mir und erwischte mich im linken Oberschenkel. Er brachte mir dabei einen zwei Zentimeter großen Riss bis zum Knochen bei, der beinahe das linke Bein oberhalb des Knies abtrennte … Ich konnte fühlen, wie das Blut in meine beiden Stiefel floss, doch ich war fest entschlossen die Nummer zu Ende zu bringen … (Zoo) sprang von seinem Postament, erfasste mein rechtes Bein und riss mich zu Boden. Während ich fiel, versetzte mir Sheik mit seiner Pfote einen Hieb an die Seite meines Kopfes und skalpierte mich beinahe … Zoo gab ein tiefes Knurren von sich und biss erneut in mein Bein. Er schüttelte es und pflanzte die beiden vorderen Pfoten mit ihren Krallen tief in mein Fleisch hinein und begann zu kauen … Ich fragte mich, in wie viele Stücke ich wohl gerissen werden würde … Am meisten bekümmerten mich die Zuschauer … Ich wusste, dass es ein schrecklicher Anblick wäre, wenn ich vor ihren Augen zerfleischt würde. Und alle meine Tiger wären als Mörder gebrandmarkt und dazu verurteilt, ihr ganzes Leben in engen Käfigen zu verbringen, anstatt dass es ihnen erlaubt wäre die Freiheit einer großen Arena und die Freude am Arbeiten zu genießen. Dieser Gedanke gab mir die notwendige Kraft um weiter zu kämpfen.«
Sie beharrte darauf, dass sie für die Fahrt ins Spital umgekleidet werde (tatsächlich befürchtete sie, dass sie die Leute mit ihrem blutdurchtränkten Zirkuskostüm erschrecken würde!). Sie wurde genäht und zusammengeflickt, und obwohl die Ärzte sie bereits aufgegeben hatten, überlebte sie. Später fand sie heraus, dass in der Nacht des »Spaßes« Sheik und Zoo aus irgendeinem Grund weder gefüttert noch getränkt worden waren. Die Katzenjungen waren einfach hungrig gewesen! »Es war kein Wunder, dass ich buchstäblich für mein Leben kämpfen musste«, schrieb sie und entlastete damit ihre Raubkatzen.
So ging die Schilderung dieser seltsamen, mutigen und doch zartfühlenden Person weiter. Jede neue entstellende Narbe »war ein vollkommenes Glück, da sie mir Neues und Interessantes über meine Katzen beibrachte«. Diese Worte ließen mich erschauern, dort in der Thousand Oaks Bibliothek, so wie es auch der letzte Abschnitt des Buches tat: »Die gestreiften Katzen schlichen heraus, sie schnurrten, brüllten, lehnten sich aneinander oder an mich. Dies ist ein unvergleichlicher Nervenkitzel und ein Leben ohne ihn wäre für mich nicht lebenswert. Ich hoffe, dass ich in jeder neuen Saison, bis es meine Nummer nicht mehr geben wird, ›Lasst sie hereinkommen!‹ rufen werde.«
Es war nicht erstaunlich, dass sie, als ihre beste Zeit vorüber und die Tiger gestorben waren, selbst die Entscheidung traf, ihre Nummer aufzugeben. Die Raubkatzen waren ihr Mount Everest und ihre Familie. Vielleicht ist dies zu melodramatisch. Vielleicht war sie einfach ein kleines Mädchen mit blonden Locken aus Kentucky, das Zoobesuche immer noch liebte. Seis drum, hier ist noch einmal eine Titelzeile für Mabel Stark, die größte Tigerzähmerin die je lebte und deren Foto die Wände im ›Philippe’s ‹ dekoriert. Mit Entschuldigungen eines frechen kleinen Kindes, dass sie einst ausgelacht hatte.
© Rip Rense, Los Angeles Times