Rund 50 Prozent aller belletristischen Titel, die hierzulande alljährlich publiziert werden, wurden zunächst in anderen Sprachen geschrieben. Und vergleicht man nicht nur die Titelzahlen, sondern auch noch die Auflagen, so kommt man nicht umhin, einen ansehnlichen Literatur-Importüberschuß in deutschsprachigen Landen festzustellen.
Doch, sie werden sehr fleißig gelesen, die Autoren aus zweiter Hand, wie man uns Literaturübersetzer auch schon genannt hat. Gelobt aber werden sie ausgesprochen selten. Um so dankbarer sind wir der Stadt Stuttgart dafür, dass sie diesen Heinzelmännlein und –weiblein der Literatur seit 1978 sogar einen Preis verleiht, regelmäßig alle zwei Jahre; und die festliche Preisverleihung ist zugleich das Forum, auf dem der jeweils Preisgekrönte auch einmal öffentlich und sehr ausführlich gelobt werden kann. Ich freue mich, dies hier tun zu dürfen, und ganz besonders freue ich mich, dass der zu Lobende Willi Zurbrüggen heißt, weil es mir leicht macht, was mitunter schwierig sein kann.
Ich habe einmal die Buchrezensionen eines Jahres, soweit es sich um übersetzte Bücher handelte, und soweit ich der Kritiken habhaft wurde, auf ihre Übersetzungsfreundlichkeit abgeklopft. Dabei verstand ich unter Übersetzungsfreundlichkeit keineswegs nur freundliche Worte für den Übersetzer, sondern jedes noch so kurze Eingehen auf die Qualität der Übersetzung, die ja für die Genießbarkeit eines Buches nicht unerheblich ist.
Das Ergebnis: Nur in kläglichen 12 Prozent aller Besprechungen wurde die Übersetzung überhaupt erwähnt, und wenn, dann viel öfter tadelnd als lobend – was man vielleicht verstehen kann, denn wenn etwas gut gemacht ist, fällt es nicht weiter auf, und warum sollte man von Kritikern mehr Sachverstand verlangen als vom normalen Leser? (Oder sollte man doch?)
Jedenfalls wurde in vielen Kritiken so manches Lob, das eindeutig dem Übersetzer gebührt hätte, kurzerhand an den Autor adressiert. Umgekehrt kam es auch vor, dass dem Autor sprachliche Ungeschicklichkeiten angelastet wurden, die ebenso eindeutig aufs Konto des Übersetzers gingen. Es war zum Teil sehr erheiternd, aber ich will jetzt nicht Anekdötchen zum besten geben, wo ich auf diesem Umweg doch nur auf den diesjährigen Preisträger zu sprechen kommen möchte. Bis hierher also die Lamentatio, jetzt endlich die Laudatio.
Es fanden sich unter den gesichteten Rezensionen nämlich auch einige zu diesem Buch: „Luis Landero, Späte Spiele, aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen“. Und siehe, darin wurde der Übersetzer sogar mehrmals gelobt:
„Die Übersetzung dieser oft auch sprachschöpferischen Prosa dürfte nicht leicht gewesen sein. Willi Zurbrüggen hat die Aufgabe souverän gemeistert“, schrieb der Züricher Tagesanzeiger.
„Bewundernswert hat Willi Zurbrüggen die Sprachakrobatik ins Deutsche übertragen“, hieß es im Hessischen Rundfunk.
„Willi Zurbrüggen hat eine deutsche Übertragung geschaffen, deren wortgewaltige Suggestivkraft der spanischen Version in nichts nachsteht“, meldete Radio Bremen.
„Willi Zurbrüggen gebührt großes Lob für die vorzügliche Übersetzung ins Deutsche; er hat diesen sprachlich höchst anspruchsvollen Roman in allen Nuancen einwandfrei übertragen“, lobte die Frankfurter Rundschau.
Das war natürlich alles sehr schön und erfreulich für den Übersetzer. Aber richtig neugierig auf das Buch, das heißt auf die Übersetzung, wurde ich erst, als ich den folgenden Verriß las:
„Leider verliert das Buch in der meist korrekten, oftmals aber holprigen und sprachlich altertümelnden Übersetzung viel von seinem ursprünglichen Charme“ – so die Süddeutsche Zeitung. Es folgten zum Beweis ein paar angeblich falsch bezeichnete Realien, zum Beispiel sei die von Willi Zurbrüggen mit „Leberpastete“ übersetzte foagrá eigentlich nur eine Leberwurst... Und dann heißt es im selben Text weiter: „Auch das Wort Autoselbstfahrer gibt Rätsel auf. Erst nach einigem Nachdenken kann der phatasiebegabte Leser... erraten, dass damit Autoskooter der Jahrmärkte gemeint sind...“
Das „sprachlich altertümelnd“ machte mich als erstes stutzig. Ich dachte: Wie kommt ein Übersetzer, der deutlich unter 200 Jahre alt ist, der im Hier und Heute lebt, der Kinder hat, der unter die Leute kommt, der liest und Radio hört und fernsieht, dem ich also getrost unterstellen kann, dass er unsere heutige Sprache beherrscht – wie kommt er dazu, sich einer altertümelnden Sprache zu befleißigen, die doch gewiß nicht die seine ist? Wenn es also zutraf, hatte es dann nicht womöglich einen Grund?
Ich kannte das Buch noch nicht, aber den Grund ahnte ich spätestens bei dem anstößigen Wort „Autoselbstfahrer“. Ich besorgte mir also das Buch, wollte es nur anlesen, um die altertümelnde Sprache zu suchen und den Grund dafür zu finden, doch dann wurden aus dem Anlesen ein paar lange Lesenächte, an deren Ende hohe Bewunderung für den Übersetzer stand. Aber der Reihe nach:
Von Altertümelei natürlich keine Spur. Die Handlung spielt, obwohl keine Orte und Zeiten angegeben sind, eindeutig im Franco-Spanien der Nachkriegszeit, und Willi Zurbrüggen hat, wie sich´s gehört, lediglich sprachliche Anachronismen zu vermeiden gesucht, denn damals hießen manche Dinge einfach anders als heute, zum Beispiel auch die Autoskooter. Ich hätte doch eher befremdlich gefunden, wenn Gregorio Olías seine Angetraute nebst Schwiegermutter zur Fahrt im Autoskooter eingeladen hätte, wo es das Wort noch gar nicht gab! Die Dinger hießen damals wirklich „Autoselbstfahrer“ – eine durchaus sinnvolle und werbewirksame Bezeichnung in einer Zeit, als es noch kaum Autos gab, als schon das Mitfahren in einem Auto ein Vergnügen sondergleichen war, das Selbstfahren gar ein Stück Himmelreich – auch wenn man sich das heute nicht mehr vorstellen kann.
Ich freute mich also, dass hier ein Übersetzer am Werk gewesen war, der die mögliche Zeitfalle erkannt und sich kundig gemacht hatte, um sie zu vermeiden. Aber nicht das, nicht das Vermeiden sprachlicher Anachronismen war es, was meine Bewunderung für den Übersetzer auslöste. Das Erkennen und Umgehen möglicher Zeitfallen gehört zum Geschäft des Literaturübersetzers ebenso wie das Berücksichtigen der Tatsache, dass die Leser der Übersetzung einen anderen kulturellen Hintergrund haben als die Leser des Originals – was den Übersetzer immer wieder zu kleinen Fälschungen nötigt, damit seine Leser begreifen, was man den Lesern des Originals nicht erst erklären muß, weil sie es von Kindesbeinen an kennen. So etwas ist – nein, ist leider nicht, sollte aber selbstverständlich sein. Also vielleicht lobenswert, aber noch nicht so sehr bewunderungswürdig.
Auch dass ich in diesem Buch an keiner Stelle das Gefühl hatte, eine Übersetzung zu lesen, dass dieser Text, der bestimmt sehr schwer zu übersetzen war, trotzdem mit einer Leichtigkeit, einer Selbstverständlichkeit daherkam, als wäre er nie in einer anderen Sprache formuliert gewesen, auch das weckte noch nicht Bewunderung, nur Anerkennung. Unter uns Übersetzern sagt man ja: „Wenn man die Mühe merkt, war sie umsonst.“ Das heißt umgekehrt, wenn man die Mühe nicht merkt, hat der Übersetzer eigentlich nur einen Anspruch erfüllt, den er an sich selbst stellt. Also auch wieder nur eine Selbstverständlichkeit? Durchaus nicht, und deswegen immerhin schon einmal achtenswert, wenn auch noch immer nicht bewunderungswürdig.
Nein, bewunderungswürdig an dieser Übersetzerleistung fand ich etwas anderes, was ich beim Lesen noch gar nicht merkte – es wurde mir erst hinterher bewußt. Lassen Sie mich kurz ausholen:
Seit es auf der Welt Literatur gibt, wird Literatur auch übersetzt, und seit übersetzt wird, streiten die Gelehrten darüber, wie es denn richtig sei: Soll man das fremde Werk ganz und gar der eigenen Sprache einverleiben, um den Leser vom Fremden unbehelligt zu lassen, oder läßt man das Fremde bis in die sprachlichen Strukturen hinein weitgehend unbeschädigt, damit der Leser nicht nur sieht, was, sondern auch wie man in der anderen Sprache, dem anderen Kulturkreis, denkt und spricht?
Die Praxis, manchmal eine weise Richterin, hat den Streit schon längst mit einem Kompromiß entschieden, wenn auch manche Übersetzungswissenschaftler das noch nicht mitbekommen haben. Der Kompromiß lautet, auf eine Kurzformel gebracht: Der Übersetzer möge in seiner Sprache das Fremde sichtbar machen. Ganz einfach, oder?
Nun hat aber Willi Zurbrüggen in Luis Landeros Späte Spiele nicht nur das geschafft, sondern noch eins draufgesetzt, und das merkte ich, wie gesagt, erst hinterher: Da hatte ich nun gebannt ein Buch gelesen, das in sehr gutem, sehr elegantem und sauberem, einfach wunderschönem Deutsch geschrieben war, einen Text, dessen sprachliche Kapriolen spanischer Art in die deutsche Sprache hineinpaßten wie das Ei in den Becher; und doch hatte ich die ganze Zeit das Gefühl gehabt, ein spanisches Buch im Original zu lesen – ich kann gar kein Spanisch, wähnte mich aber unter Spaniern, glaubte den spanischen Erzähler und seine Spanisch sprechenden Figuren mühelos zu verstehen, als redeten sie in meiner Muttersprache – was sie ja auch taten, es wurde mir nur paradoxerweise nicht bewußt.
Wie konnte das gehen? Normalerweise schließt eins das andere aus. Bemerkt man in einem übersetzten Buch die fremde Sprache, so hat doch meist der Übersetzer aus Ungeschicklichkeit, Unachtsamkeit – oder aus falscher „Originalitätsvermutung“, wie Dieter E. Zimmer es einmal genannt hat – Strukturen dieser fremden Sprache in seinen Text übernommen und mit ihnen die eigene Sprache verbogen. Nicht so in diesem Buch.
Wenn andererseits die fremde Sprache ganz verschwindet und man als Leser das Gefühl hat, ein deutsches Buch zu lesen, so entspricht das zwar der Forderung, die Verlage, Kritiker und Leser unisono an den Übersetzer stellen, aber eigentlich ist es schade, denn in einer gut erzählten Geschichte ist die Sprache, in der sie geschrieben wurde, eine Hauptakteurin, ohne die das Buch ein völlig anderes wäre. In einem guten Buch ist die Sprache eben weit mehr als ein Vehikel für Mitteilungen; zwischen Sprache und dem Denken und Fühlen der Menschen, die sie sprechen, besteht eine unaufhörliche Wechselbeziehung. In jeder Sprache wird anders geschimpft, geschmeichelt, geliebt, gehaßt, gedacht, sogar gerechnet, und das nicht nur mit anderen Vokabeln. Kurz, die Sprache ist für alles das zuständig, was zwischen den Zeilen steht – und in einem lesenswerten Buch steht zwischen den Zeilen mehr als in den Zeilen. Diese Sprache nun ganz und gar verschwinden zu lassen, kommt dem Verschwindenlassen, zumindest aber dem Auswechseln einer Hauptfigur gleich, und damit kann das Buch schon nicht mehr dasselbe sein.
Eigentlich. Denn Willi Zurbrüggen hat das eben doch geschafft. Er hat in diesem Buch die Hauptfigur namens „Sprache“ ausgewechselt, ohne das Buch zu verändern. Man liest da weder eine Übersetzung aus dem Spanischen, noch liest man ein deutsches Buch, dessen Handlung zufällig in Spanien spielt, sondern man liest ein auf Deutsch geschriebenes spanisches Buch. Es ist das selten erreichte Ideal einer Literaturübertragung, den eigentlich unauflösbaren Widerspruch dennoch aufzulösen und die Sprache, in der das Buch ursprünglich geschrieben wurde, deutlich und unverwechselbar vorzuzeigen, sie geradezu hörbar zu machen, ohne dabei der eigenen Sprache die allermindeste Gewalt anzutun.
Ich habe, nachdem mir das klargeworden war, in dem Buch immer wieder nach Stellen gesucht, an denen ich das hätte festmachen können, um Willis Trick zu durchschauen. Wenn ich etwas gefunden hätte, würde ich eine solche Stelle jetzt zitieren und Ihnen den Trick verraten – so indiskret sind Übersetzer. Aber ich habe nichts gefunden. Sein Trick muß einfach der gewesen sein, dass er sich für eine Weile in Luis Landero verwandelt hat.
Und das ist ein Kunststück, das, wenn es gelingt, unbedingt preiswürdig ist. Willi Zurbrüggen hat es geschafft, und dafür möchte ich ihn hier in aller Öffentlichkeit bewundern.