Die vollendete Literaturübersetzung, die gibt es wohl nicht. Aber die größtmögliche Annäherung, also die „gelungene“ Übersetzung, was auch immer das im Einzelnen heißen kann, wohl doch. Das ist vielleicht diejenige, die beim Lesen nicht als solche empfunden wird, sondern in unserer Sprache leicht und mühelos daherkommt, auch wenn der Ursprungstext komplex ist und zuweilen aus einer sehr fremden Welt stammt. Oder aber es ist eine, die uns das Gefühl gibt, ein Buch im fremdsprachigen Original zu lesen, ohne dass es uns auffällt. Gibt es hier überhaupt eine gültige Wahrheit, so etwas wie der Weisheit letzter Schluss? Wohl kaum.
Einer, der den Gral des literarischen Übersetzens seit mehr als zwanzig Jahren sucht (und gefunden?) hat, ist Willi Zurbrüggen. Er übersetzt ausschließlich aus dem Spanischen und vor allem gute Literatur. Die Liste „seiner“ Autoren und Autorinnen ist lang, unmöglich sie hier alle aufzuzählen. Aber es ist nicht nur die Anzahl, die beeindruckt. Es ist auch die Anzahl der wahrhaft bedeutenden und vielfach ausgezeichneten Schriftsteller. Darunter finden sich Namen wie der Nobelpreisträger Miguel Angel Asturias, der Chilene Antonio Skármeta, ihm wurde in diesem Jahr der Premio Planeta verliehen, dabei ist auch der kürzlich (viel zu früh) verstorbene Spanier Manuel Vázquez Montalbán und sein Landsmann Antonio Muñoz Molina, Luis Sepúlveda mit dem Kinderbuch „Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte“ (das auch verfilmt wurde) und so weiter und so weiter. Zum großen Teil sehr anspruchsvolle Autoren, die ihrem Übersetzer viel abverlangt haben dürften. Wie bewältigt er das? Und wie ist er dazu gekommen?
„Meiner bürgerlichen Bestimmung nach hätte ich als Verwaltungsangestellter oder als Bankkaufmann mein sicheres Auskommen mit einem regelmäßigen Einkommen haben sollen. Dass weder aus dem einen noch dem anderen was geworden ist, liegt unter anderem an der Pfeife meines Großvaters.“ Das liest sich wie der Beginn einer Erzählung, ist aber „nur“ der Beginn der Schilderung seines eigenen Werdegangs zum Traductor. Denn der begann tatsächlich mit einer Banklehre. Und war doch gewissermaßen der Einstieg in die Übersetzerkarriere. Denn hätte es nach acht Jahren Volksschule mit anschließender zweijähriger Handelsschule die Ausbildung zum Bankkaufmann nicht gegeben, der noch grundsolide zwei Jahre Berufstätigkeit als solcher in Frankfurt folgten, hätte es vielleicht auch nicht den radikalen Ausstieg mit anschließenden Lehr – und Wanderjahren in der großen weiten Welt gegeben. Es waren die 70er Jahre, und Willi Zurbrüggen ist sicher nicht der einzige, der damals unterwegs war. Doch mit einem kleinen Unterschied. „Während es andere in jenen Jahren auf die großen Trails nach Katmandu oder den Stränden von Goa zog, graste ich Südeuropa, den Maghreb und den Nahen Osten ab, umkreiste einmal das Mittelmeer, die Ursuppe der Zivilisation und Kultur der Alten Welt. Mein heimliche, tief im Innern verborgene Sehnsucht galt jedoch einem Land jenseits des Ozeans, einem Land, das in meiner Vorstellung so tief und unerschöpflich, so fremd und so rätselhaft war wie kein zweites, ein Land, das wagemutige Geister seit jeher anzog. Suchende, Schreibende, manche von ihnen so geheimnisvoll wie das Land selbst: Mexiko.“
Und es passierte etwas, was eigentlich selten ist im Leben. Willi Zurbrüggens Sehnsucht wurde gestillt, und er wurde nicht enttäuscht. Er reiste nach Mexiko und wurde aufgenommen. Es war tatsächlich der Beginn, ja doch, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Aber viel mehr als nur Freundschaft mit dem Land, mit den Menschen, mit der Sprache. Es war der Beginn der Freundschaft mit seinem späteren Beruf.
„Mexiko empfing mich mit offenen Armen und langen Fingern, ich trank die Wüsten des Nordens, spie übermütig in den Krater des stolzen Vulkans, streifte fiebernd durch die Dschungel des Südens. Ich sah das Land, aber begriff es nicht, ich fand Freunde, aber verstand sie nicht. Ich sprach kein Spanisch.“ Ein halbes Jahr zog er herum, zu rastlos allerdings, um zu lernen. Erst zu Hause in Deutschland ließ er sich am Englischen Institut in Heidelberg in vier Semestern zum staatlich geprüften Übersetzer für Spanisch ausbilden. Und während seine Mitstudierenden sich darauf vorbereiteten, als Fremdsprachensekretärinnen, Dolmetscher oder diplomierte und vom Amtsgericht beeidigte Urkundenübersetzer zu arbeiten, formte sich bei Willi Zurbrüggen ein deutlicher Wunsch: er wollte nun mit Ende zwanzig endlich loslegen mit einer Arbeit, die er als Berufung erkannt hatte: das Übersetzen von Literatur. Und das, wie er selbst sagt, mit der „begeisterten Gewissheit, am Ende nichts Geringeres als den Gral des Literaturübersetzens zu finden.“ Der Ausbildungsgang an einem Übersetzerinstitut dürfte diese Gewissheit kaum gefördert haben, woher also nahm er sie?
Es muss etwas mit dem Großvater und seiner Pfeife zu tun haben. Wenn der Junge wie so oft in der kleinen Wohnstube seiner Großeltern saß, wenn es Abend wurde und Opas Pfeife „ordentlich kochte“ und der seine Brille aufgesetzt hatte, ging es los. „Er entführte mich auf die Weltmeere des Roten Korsaren, in die gefahrenvolle Taiga Michael Strogoffs, auf die Inseln von Long John Silver, Robinson Crusoe und Sigismund Rüstig, in die finsteren Vorstädte Oliver Twists, in die Eiswüsten des Seewolfs und Kapitän Scotts und die Gluthölle des Lawrence von Arabien, zu den Windmühlen von La Mancha, an die Tafelrunde von Schloß Camelot, zur Jagd auf Moby Dick und auf die Reisen in achtzig Tagen um die Welt und zwanzigtausend Meilen unter das Meer, die mich bis in meine Träume hinein begleiteten, wo die Abenteuer oft den wüstesten Fortgang fanden und dies in abgewandelter Form auch heute noch tun. Meine Helden heute sind der Postmann von Isla Negra, Mascaró, der amerikanische Jäger, der Dichter Augusto Faroni, Zorbas, der große schwarze dicke Kater, Gaspar Ilóm und viele weitere abenteuerliche Gestalten …“
Mit so vielen spannenden Weggefährten, zu denen ja ständig neue hinzukommen, ist man nie wirklich allein. Vermutlich findet Willi Zurbrüggen deshalb auch heute noch – nach gut zwanzig Jahren ununterbrochener Tätigkeit als Literaturübersetzer – die Einsamkeit am eigens vom Schreiner in der Nachbarschaft gefertigten Schreibtisch schlicht „wunderbar“. Dass darin auch eine latente Gefahr der Vereinsamung liegt, räumt er ein. Aber ein Familienleben mit Frau und zwei im Haushalt lebenden lebhaften Jungs und ebenso vielen Katzen beugt da vor, und als Nachtmensch macht es ihm nichts aus, die Arbeit in die Stunden zu verlagern, in denen die anderen um ihn herum schlafen. Im Gegenteil, er ist dabei ganz glücklich, weil seine Konzentration in dieser Zeit zu ungeahnten Höhen aufläuft. So lässt sich der eigene Biorhythmus gut in den der Familie integrieren. Auch das ein Glück für den Übersetzer
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Glück war wohl auch im Spiel bei seinem allerersten Auftrag. Der Lamuv Verlag (damals noch unter der Leitung von Renè Böll) wollte das Buch „Hombres de maíz“ („Die Maismänner“ in der Übers. v. Rodolfo Selke), des Guatemalteken Miguel Angel Asturias neu übersetzen lassen. Der dafür angefragte Tom Koenigs (wir erinnern uns, Grünen-Politiker der ersten Stunde, ehemaliger Weggefährte von Joschka Fischer, um den es inzwischen ruhig geworden ist, der aber einmal bekannt geworden war auch als Übersetzer von Gabriel Garcia Marquéz) hatte keine Zeit und empfahl Willi Zurbrüggen, den er kurz zuvor in Mexiko kennen gelernt hatte. „Ich übersetzte das Buch unter dem neuen Titel „Die Maismenschen“. Es bekam gute Besprechungen, der Verlag behielt mich als Übersetzer für die nächsten Bücher von Rigoberta Menchú („Leben in Guatemala“) und Mario Benedetti („Die Gnadenfrist“). So kam ich ins Geschäft.“
Und das Geschäft läuft gut. So gut, wie es für einen Übersetzer nur laufen kann. Wie schon gesagt, die Liste der von ihm übersetzten Autoren ist lang. Und viele gute Autoren gut übersetzt zu haben, macht einen Übersetzer zu Recht stolz und gibt ihm Selbstbewusstsein. Das ging bei Willi Zurbrüggen so weit, dass er zur Jahrtausendwende einen Brief schrieb an zehn Verlage, mit denen er seit Jahren zusammenarbeitete, und mit dem er ein Signal setzen wollte. Er schickte eine „Preisliste“ mit Forderungen an Honorar, Beteiligungen an Auflagen und Nebenrechten und machte deutlich, was er als „angemessen“ empfand. Ein ziemlich einmaliger Vorgang, der teilweise blankes Unverständnis und konsternierte Reaktionen hervorrief, ansonsten aber keine negativen Folgen hatte. Doch als „angemessen“ kann man wohl kaum eine Vergütung bezeichnen, die selbst für einen renommierten Übersetzer ein (an sich harmloses) Auftragsloch von nur zwei oder drei Monaten zu einem „verschlingenden Abgrund“ werden lässt. Rücklagen können nicht gebildet werden, und ohne Stipendien und vor allem gut dotierte Preise wie der Übersetzerpreis des Spanischen Kulturministeriums (1990), der Übersetzerpreis der Spanischen Botschaft (1995) und der Stuttgarter Literaturpreis (1997), mit denen die besondere Qualität seiner Arbeit gewürdigt wurde, wäre er buchstäblich auf der Strecke geblieben, daran lässt Willi Zurbrüggen keinen Zweifel. Und betont im gleichen Atemzug, dass er diesen Zustand des Freiberuflers auch im positiven Sinne spannend findet, und nahezu tröstlich die Aussicht, bis ins hohe Alter hinein arbeiten zu können und dabei immer besser zu werden.
Dass er seine Arbeit so liebt, spüren vermutlich auch seine Autoren, von vielen hat er mehrere Bücher übersetzt. Mit ihnen verbindet ihn inzwischen ein herzliches Freundschaftsverhältnis, es gibt nicht einen, mit dem er sich nicht verstanden hätte, eine „zickige Primadonna“ war „zum Glück“ bisher nie dabei, wie er sagt. Willi Zurbrüggen sucht (und findet), wenn es sich irgendwie einrichten lässt, immer den persönlichen Kontakt. Mario Benedetti hat er in Madrid besucht und dort seine Fragen mit ihm erörtert. Jose Donoso hat sich auf der Buchmesse in Frankfurt Zeit für ihn genommen, Luis Sepúlveda trifft er auf der „Semana del Libro Latinoamericano“ in Gijón, und in Zeiten von e-mail lässt sich mit weit entfernt lebenden Autoren unkompliziert kommunizieren, so wie bei seinem letzten Buch mit Mauricio Rosencof aus Uruguay („Die Briefe die nicht ankamen“ bei Edition Köln, 2004 ). Nach der Übersetzung von „Feuerland“ (Unionsverlag, Zürich, 1996) von Francisco Coloane ist er allerdings dorthin gereist, er wollte das nächste Buch, das unter dem Titel „Kap Hoorn“ (Unionsverlag, Zürich, 1998) erschienen ist, noch besser ins Deutsche übertragen. Denn es gehört wohl zu seinem Anspruch, durch das eigene Erfahren der fremden Welten diese in seiner Sprache für die Leser erfahrbar zu machen. „Was man mit eigenen Augen gesehen, was man gerochen, angefasst, also sinnlich erfahren hat, wird man in andere, wahrhaftigere Worte fassen als das, was man aus zweiter Hand kennt … : Nachzulesen ist dieser Satz und weitere auf der Homepage des Unionsverlages, der auf seiner (vorbildlich lebendigen!) Website auch die Übersetzer/innen zu Wort kommen lässt (www.unionsverlag.ch).
Vermutlich ist es genau dieser, so bescheiden ausgedrückte, dabei so hohe und offenbar niemals nachlassende Anspruch an seine Arbeit, die ihn so erfolgreich dabei sein lässt. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Stuttgarter Literaturpreises 1997 schwärmte er von den Freuden, die er beim Übersetzen von Luis Landeros „Späte Spiele“ (S. Fischer, Frankfurt, 1992) empfunden hat, allerdings nicht ohne auf die gerade bei diesem Buch sehr speziellen Anforderungen an den Übersetzer hinzuweisen. Wie ihm das gelingt, darauf auch nur annähernd eingehen zu wollen, würde den hier gesteckten Rahmen bei Weitem sprengen. Hier geht es darum, Übersetzer vorzustellen und sie zu würdigen. Bei Willi Zurbrüggen allerdings habe ich das Gefühl, dass ich ihn niemandem mehr vorzustellen brauche. Ganz bestimmt niemandem in der Verlagswelt, da bin ich mir sicher. Ich habe dort noch keinen und keine getroffen, der oder die nicht mit Hochachtung von seiner Leistung, aber auch angenehmen Zusammenarbeit gesprochen hätte. Aber da sind ja noch die Leser und Liebhaberinnen guter Literatur, die es genießen, wenn sie ein gutes Buch aus einer fremden Sprache und Welt in schönem Deutsch vor sich haben. Und es schadet gar nichts, wenn sie wissen, wem sie außer dem Autor oder der Autorin diesen Genuss zu verdanken haben.
Anita Djafari
Aus: „Büchermenschen“, Literaturnachrichten Afrika Asien Lateinamerika, 21. Jahrg. Nr. 80
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