Sie haben den zeitgenössischen Kontext verlassen und sich ins 18. Jahrhundert begeben.
Voltaires Kalligraph ist ein »racconto«; ich wollte, dass der Roman in Buenos Aires beginnt, dass diese Geschichte irgendeinen Bezug zu Buenos Aires hat, weil dieses Buch das einzige ist, dass außerhalb meiner Zeit und meiner Umgebung spielt. Mir gefiel dieser Bezug zur Stadt; für mich gab es in den vorherigen Romanen ein Thema und am Ende der Geschichte dessen Wahn-Version: in Die Fakultät war das die Erzählung, in El teatro de la memoria die Erinnerung, in Die Übersetzung die Fantasiesprache; hier handelt es sich jetzt um eine extreme Version des Schreibens. Ich habe versucht, den Roman in einem untergegangenen Paris spielen zu lassen, aber es ist Buenos Aires. Er ist in der Vergangenheit angesiedelt, aber sie ist eher Dekoration. Es fällt mir schwer, den gedanklichen Rahmen dessen zu verlassen, was ich kenne.
Mit diesem Roman reihen Sie sich in das Genre der Reliquienromane. Carlos Fuentes hat über Goyas verschwundenen Schädel geschrieben...
Mich ziehen die Dinge an, die eine Geschichte in Gang setzen. In zwei meiner Romane ist der Protagonist Lucas Lenz, ein Angestellter des geplünderten »Museums des Universums«, der die verlorenen Gegenstände auf der ganzen Welt sucht ... Voltaires Kalligraph hat damit zu tun; das Thema der Reliquien hat mir immer gefallen; als man den Leichnam Descartes´ von Schweden nach Frankreich brachte, nahm der französische Botschafter in Stockholm den Finger an sich, der »cogito ergo sum« geschrieben hatte; das Herz von Shelley behielt ein Freund, der es mit nach Rom nahm...
Das zentrale Element des Romans ist die Kunst der Kalligraphie.
Ich mag Tinten, Federn, ich zeichne gerne (ich habe auch Szenarios für Comics geschrieben, die Max Cachimba gezeichnet hat), und mir gefiel es, mit der Kalligraphie eine Art fantastischen Beruf zu schaffen, der eine Mischung aus Alchimist und James Bond ist, jemand, der die Kalligraphie nutzt, um das Böse zu bekämpfen.
Im Roman gibt es einen Gegensatz zwischen den Lichtern der Aufklärung und den Schatten des Bösen.
Das Historische wird nur oberflächlich behandelt. Voltaire wird auch nur oberflächlich behandelt. Alles im Roman wird metaphorisch genommen; ich bin kein Experte in der Thematik. Mir gefiel die Zeichnung des Kalligraphen, einer sehr ambiguen Figur: er kämpft auf unfreiwillige Weise zugunsten der Aufklärung, aber eigentlich steht er für etwas ziemlich Altmodisches: die Kalligraphie. Er ist eine Art Zauberer im Dienste von etwas, dass er nicht so recht versteht; das gab mir die Freiheit, ihn nicht von der Geschichte mitreißen zu lassen.
Es gibt auch andere sehr interessante Figuren wie den Henker, der den Kalligraphen begleitet.
Wenn ich mich ans Schreiben mache, kommen einige meiner Figuren, selbst wenn es einen gewissen historischen Rahmen gibt, wie in einem Märchen zu mir. Dieser Henker spielt eine positive Rolle in der Geschichte, selbst wenn er eigentlich eine finstere Gestalt ist; er steht für die Aufgabe der handwerklichen Methode zugunsten einer industriellen Methode bei der Guillotine.
Der geheimnisvolle Automatenschöpfer ist sehr wichtig.
Die Erzählung Hoffmanns »Die Automate« hat mich immer fasziniert; ich habe über Automaten gelesen, die es wirklich gab ... Die Figur des Automaten ist das unnützeste, was es gibt. Außerdem schwirrte mir eine Anekdote von Leibniz im Kopf herum. Er führte eine Brieffreundschaft mit einem Jesuitenpriester in China. Dieser erzählte ihm vom I Ging, und Leibniz merkte, dass das viel mit dem binären System zu tun hatte, das er aufstellte. Dieser Vergleich begeisterte mich und ich verlieh dieser Figur eine ähnliche Erkenntnis, damit sie eine Art primitiven Computer zusammenbasteln konnte.
Im Roman finden sich zwei literarische Anspielungen: Philip K. Dick und Umberto Ecos Der Name der Rose.
Der Name der Rose taucht nicht absichtlich auf, obschon der Roman mich fasziniert. Ich glaube, dass eher bestimmte Themen Borges' entwickelt werden (der Detektiv als Intellektueller, die Verbindung von Polizeiroman und dem Schreiben). Dick ist für mich einer der Autoren dieses Jahrhunderts, Joyce überlegen; ich bin Fan von ihm, weil er ein großer Schriftsteller ist, der im Zentrum der heutigen Phantasien steht. Er hat das alles erfunden: alle Filme berufen sich auf ihn (Matrix, The Cell). Er hat trotz seines Rufes nicht den ihm zustehenden Platz.
Dieser Roman scheint seinen Ursprung im Thema der Sekten zu haben.
Mich haben Sekten sehr interessiert, und vor allem die Leute, die Erben einer geheimen Tradition sind. Mich faszinieren Dinge, die mit dem zu tun haben, das heimlich weitergegeben wird, nicht so sehr bei den religiösen Sekten als vielmehr bei den Freimaurern, die so bedeutsam in Argentinien waren. Es gibt ganze Städte, wie La Plata, die nach Freimaurer-Plänen erbaut wurden.
Félix Romso, ABC (Madrid), 27.10.2001
Wie ist die Geschichte von Voltaires Kalligraph entstanden?
Seit mehreren Jahren schreibe ich an einem Buch, das Die Kalligraphen heißt und das aus kurzen Erzählungen über eine Gruppe von Schreibern besteht. Das war der Keim des Romans. Ich schildere Ihnen eine dieser Kurzgeschichten: Ich fand ein Buch voller Spinnweben. Ich öffnete es, um zu sehen, welche Nachricht mein Meister mir hinterlassen hatte, aber im Inneren waren auch nur Spinnweben. Voller Abscheu riss ich Seite um Seite eine Spinnwebe nach der anderen heraus, und immer tauchten neue auf. Wie hatten die Spinnen es angestellt, um ihre Fäden im Inneren eines zugeklappten Buches zu spinnen? Da verstand ich, dass das keine Spinnweben waren, sondern eine Art magischer Schrift, die meine Meister benutzt hatte, um seine Nachricht zu hinterlassen, und die ich zur Gänze zerstört hatte.
Du situierst deinen Roman im 18. Jahrhundert, im Frankreich der Aufklärung. Gibt es einen Grund dafür?
Ich habe einmal im Fernsehen mitbekommen, dass Voltaire den Fall Calas untersucht hatte: Die Hinrichtung eines Toulouser Händlers, Jean Calas, ein Protestant, der zu Unrecht angeklagt wurde, einen seiner Söhne ermordet zu haben. Und dann habe ich das Buch gelesen, das Voltaire zu diesem Thema geschrieben hat: Schule der Toleranz, in dem er den Fall so präsentiert, dass das Buch würdig ist, Kriminalroman genannt zu werden (Voltaire beschäftigt sich mit den Spuren, den Abdrücken auf der Leiche, der Bedeutung der Dokumente). Ich hatte in meiner Bibliothek die Erinnerungen eines Freundes von Voltaire, des Grafen Di Argenson, in einer Ausgabe vom Beginn des 19. Jahrhunderts in einem Elsevier-Druck. Das Buch war für mich beim Schreiben eher ein Glücksbringer denn eine Informationsquelle. Ich habe mich gefragt, wie diese Bände mit ihren farbigen Buchdeckeln nach Buenos Aires gelangt sind. Der Fall interessierte mich, und ich war gezwungen, ihn in seinem Jahrhundert, dem 18. Jahrhundert anzusiedeln.
Was verdankt der Roman Voltaire?
Im Roman habe ich mich nicht dem historischen Voltaire sondern dem der Legende angenähert: er war schon alt, durfte Paris nicht betreten, sein Haus war zu einem Pilgerort geworden. Die Reisenden brachten ihm viele Geschenke aus den unterschiedlichsten Gegenden mit. In der Legende - und auch im Roman - gründet Voltaire seinen Einfluss auf das Wort, aber auch auf seinen Abwesenheit, auf sein Schweigen. Die Abwesenheit, in den Worten des Protagonisten, ist auch ein Stilmittel.
In der Geschichte ist es ein Kalligraph, der die Untersuchung beginnt, in die Mönche, Herausgeber politischer Schriften, Philosophen, historische und fantastische oder irreale Personen verwickelt sind, und die sich auf den Seiten des Romans tummeln.. Trotz dieser Mischung verliert der Roman nicht an Glaubwürdigkeit. Wie machst du das?
Die Hauptschwierigkeit dieses Romans war es, eine Glaubwürdigkeit zu schaffen, die genauso die fiktiven - der Kalligraph Dalessius, der Automatenhersteller; der Abt - wie die historischen Personen wie Voltaire und Beccaria beherbergen konnte. Aber in der Geschichte gibt es immer etwas Alptraumhaftes, etwas Magisches, Geheimnisvolles, und das bewirkt, dass jede Figur - wenn man nur genau hinschaut - auch eine gespenstische oder irreale Seite hat. Damit arbeite ich: mit dem Schatten, den die historischen Personen werfen, mehr als mit den Personen selbst. Und das verschafft der Geschichte auch eine besondere Atmosphäre, in der alles glaubwürdig sein kann ... oder unglaubwürdig, das hängt von unserem Blick ab.
Auf jeden Fall sind die Protagonisten oder die impliziten Protagonisten für mich die Wörter, die Schönheit derselben in ihrem Ausdruck, ihrer Einzigartigkeit, ihrer Formgebung, ihren Tricks - woher kommt diese überaus intensive Beschäftigung mit den Wörtern?
Ich glaube, dass Literatur immer eine Fortsetzung der Spiele der Kinderzeit ist, vor allem der Spiele, die man vermisst. Ich mochte unsichtbare Tinten, verschlüsselte Botschaften, Rätsel, Geheimnisse ... kurzum, all diese Dinge. Ich glaube, dass es in Bezug auf die Wörter zwei Typen von Menschen gibt: die Leute, die gerne Akrostichen mögen (das heißt, versteckte Wörter und geheime Strukturen), und diejenigen, die Spaß an Wortspielen haben. Und ich hasse Wortspiele.
Etwas ist mir besonders aufgefallen - in einem laizistisch geprägten Jahrhundert wie dem 18., und vor allem in Frankreich, sind es immer noch die Kleriker, die die Strippen in der Politik ziehen.
Zu dieser Zeit hatte die Kirche immer noch eine bemerkenswerte Vormachtstellung, und der Fall Calas war eine der letzten Beweise dafür. Sie zogen alle Strippen in der Politik und im Fall Calas. Es war auch eine unglaubliche Inszenierung, bei der Aufführung machten die vielen Statisten aus dem armen Erhängten einen Heiligen, der ... aber besser, jeder zieht seine eigenen Schlüsse aus der Lektüre.
Im Roman, den ich nicht als Kriminalroman bezeichnen würde, aber in dem es ein Geheimnis gibt, das aufzudecken ist ... Was kannst du dazu sagen?
Mir gefällt das Geheimnis als Konstruktionsprinzip eines Textes: man schreibt, um etwas zu entschlüsseln, was nicht bekannt ist, und was man erfahren will, man liest, um etwas aufzudecken, um in den Besitz einer Information zu kommen. Es gibt eine Wahrheit, und die liegt versteckt, außerhalb unseres Blickfeldes. Das Geheimnis verleiht der Geschichte Spannung und verwandelt die Geschehnisabfolge des Romans in ein mögliches Schicksal. Inmitten des Chaos der zeitgenössischen Romane stellt das Geheimnis die Nostalgie nach einer bestimmten Form dar.
Der Roman lässt sich leicht verstehen, obwohl seine Geschichte und die Entstehung komplex sind, und es Intelligenzspiele gibt, bei denen der Autor sich zu amüsieren scheint... Stimmt das so?
Ich glaube, dass es im allgemeinen so ist: je agiler und schneller - ja, fast unbekümmerter - ein Text ist, desto aufwändiger und systematischer muss er in der Konstruktion sein. Damit der Leser weiterliest, ohne innezuhalten, muss man langsam und aufmerksam schreiben.
Juana Vázquez, Córdoba, 8.1.2002