Auszüge aus einem Vortrag im Rahmen eines Workshops des Deutschen Kulturinstituts Ankara, 22. - 24. November 1988
Es mag an der Art unserer Tätigkeit liegen, die sich auch nach Vollzug im stillen Kämmerlein der Öffentlichkeit weitgehend entzieht. Verständlich, denn der Vorgestellte gehört in den Mittelpunkt, nicht der Vorstellende.
Es liegt wohl auch daran, daß der Übersetzer - im Gegensatz zum Autor mehr oder minder origineller Texte - sich sozusagen verflüchtigt, je mehr er sich mit seinem Autor identifiziert. Er schlüpft oder besser gesagt verschwindet in der Haut des Autors, den er übersetzt. Und zwar um so mehr, je besser ihm die Arbeit gelingt.
Demzufolge müßte er es als besonderes Lob empfinden, wenn ein zweisprachiger Leser, dessen Muttersprache die Ausgangssprache ist, behauptet, er habe beim Lesen des Textes in der Zielsprache gar nicht gemerkt, daß es eine Übersetzung gewesen sei.
Und umgekehrt: Je unvollkommener die Identifikation mit dem Autor, desto sichtbarer rückt der Übersetzer in den Vordergrund, desto mehr verliert seine Arbeit an Güte. Wenn auch gegen seinen Wunsch kann er dann sicher sein, in Rezensionen gebührend berücksichtigt zu werden.
Zum Teil mag es aber auch daran liegen, daß in den letzten Jahren Neigung besteht - wohl infolge der weltweiten Vorherrschaft der Linguistik -, das eminent Literarische der Übersetzung zu bagatellisieren.
Außerdem muß berücksichtigt werden, daß der Kreis der Rezensenten, die eine Übersetzung auch im Hinblick auf die Ausgangssprache beurteilen können, naturgemäß kleiner bemessen ist.
Und last, not least, wo kämen wir hin, wenn der Verlag den Übersetzter nach seinen literarischen Fähigkeiten bezahlen müßte!
Ich hege den Verdacht, daß man eine literarische Übersetzung im allgemeinen für einen mehr technischen Vorgang hält, der erst Aufsehen erregt, wenn sich eine Panne einstellt.
Wie wohltuend für den gebeutelten literarischen Übersetzer die Worte des großen Octavio Paz in seinem Essay 'Übersetzung, Wortkunst und Wörtlichkeit': "Übersetzen ist immer ein literarischer Vorgang ... Kein Text ist gänzlich original, weil die Sprache selbst ihrem Wesen nach bereits eine Übersetzung ist: zunächst der nichtverbalen Welt, sodann der verbalen, in der jedes Zeichen, und somit jeder Satz, die Übersetzung eines anderen Zeichens, und somit eines anderen Satzes ist ... Jede Übersetzung ist ... bis zu einem gewissen Grad, eine Erfindung und bildet einen einmaligen Text ... Das Ideal der Übersetzung von Dichtung ist, wie Valéry es einmal unübertrefflich formulierte, die Erzeugung analoger Wirkung mit anderen Mitteln."
Octavio Paz' Gedanken münden in der Schlußfolgerung, er behaupte nicht, daß eine wörtliche Übersetzung unmöglich sei, sondern lediglich, daß sie keine Übersetzung ist. Sie sei meist eine zeilengerecht angelegte Anordnung von Wörtern, die uns hilft, den Text in der Originalsprache zu lesen. Wohlgemerkt: zu lesen, aber nicht, zu erfassen!
Dies gilt besonders bei Übersetzungen in so verschiedenen Kulturkreisen wie dem türkischen und dem deutschen. Ich will dies an einem einfachen türkischen Satz demonstrieren:
Koçum Hasan domuz eti yemez = Mein Schafbock Hasan ißt kein Schweinefleisch.
Was im Türkischen lobenswert erscheint, sowohl die Personifikation des Schafbocks, Symbol von Mut, Kraft und Ausdauer, als auch die Haltung Hasans, der traditionsgetreu Schweinefleisch verachtet, das vergegenständlicht in der deutschen Sprache ganz andere Vorstellungen, nämlich daß Hasan, der dumme Junge, einen Braten verschmäht, bei dem unseren deutschen Lesern im allgemeinen das Wasser im Munde zusammenläuft.
Da bringt es auch nicht viel, wenn ich das Wort Schafbock durch den wertfreieren Begriff Widder ersetze. Und weil der deutsche Leser ja nicht weiß, daß im türkischen Kulturkreis gängige Personennamen für Tiere nicht üblich sind, - und falls ihn das Verb essen auch nicht stutzig werden läßt - wird er meinen, es handle sich wirklich um einen Schafbock namens Hasan, der ja naturgemäß kein Schweinefleisch frißt, und dieser Satz eigent-lich überflüssig sei.
An diesem trivialen Beispiel erkenne wir, daß jede sprachliche Äußerung in einem mehrdeutigen Umfeld steht, daß Wörter kaum einmal in zwei Sprachen dasselbe Bedeutungsfeld umfassen und meist andere Bedeutungsschwerpunkte haben.
Um noch einmal auf Octavio Paz zurückzukommen: "Die Sonne, die in einem aztekischen Gedicht besungen wird, ist eine andere als die in einer ägyptischen Hymne."
Dies wird wohl auch von der Sprachphilosophie bestätigt. Wenn sie die Welt in ihrer sprachlichen Vergegenständlichung erkennen will, so führt die Umgangssprache wohl zu keinem Ergebnis. Denn der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, wie wir sie uns denken, und diese Wirklichkeit ist je nach Kulturkreis verschieden. Aber ich kann jene Welt auch in meiner Sprache ausdrücken, wenn ich ihr "Anderssein" mit meinen Begriffen abzudecken in der Lage bin. Das ist möglich, es sei denn, wir ziehen die Universalität des menschlichen Geistes in Zweifel. Mit einer dreisten Anleihe an Wittgenstein formuliert: Die Grenzen meiner Sprache sind nicht ganz die Grenzen meiner Welt.
Um diese Grenzen zu überschreiten, um diese andere Welt auszudrücken, muß der Übersetzer nachempfinden, muß er, um bei unserem Beispiel zu bleiben, den Ekel beim Begriff "domuz eti" spüren, wie er umgekehrt beim Wort "Schweinefleisch" wie der Pawlow'sche Hund reagieren muß. Nur im gemeinsamen Fühlen und Erleben kann er seinen Autor und dessen Kulturkreis dem Leser der Zielsprache nahebringen. ...