"Drei Jäger haben sechs Wale getötet. Drei haben sie aufgegessen. Wie viele sind übriggeblieben?" Gern erzählt Juri Rytchëu, wie ihm ein derart grotesker Versuch begegnete, eine russische Rechenaufgabe so ins Tschuktschische zu übertragen, daß sie von tschuktschischen Schülern verstanden würde; sie hatten noch nie einen Apfelbaum gesehen, auf dessen Früchte sich das russische Lehrbuch bezog.
Solcherart stieß schon der damalige Student in Leningrad auf das Problem, als Übersetzer und als Autor Mittler zwischen Welterfahrungen zu sein. Inzwischen ist er, der 1930 in einer Jaranga - einer arktischen Wohnstatt - geboren wurde, zum Begründer der tschuktschischen Nationalliteratur geworden. In vielen Sprachen der Welt lernen Leser durch seine Werke die Welt seines Volkes kennen, das noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine Lebensform, so alt wie die ägypischen Pyramiden, bewahrte. In all seinen Büchern aber, denen meist überraschende Vorkommnisse zugrunde liegen, verlebendigt sich diese Kultur als ein Stück Menschheitsgeschichte.
Seit 1954 sind von Rytchëu über ein Dutzend Titel auch in deutscher Übersetzung erschienen, und seit 1991 gibt ihn der Züricher Unionsverlag systematisch wie einen Klassiker heraus. Sein Doppelgänger-Roman "Im Spiegel des Vergessens", Neuerscheinung zur Leipziger Buchmesse, bezieht seine Handlung aus dem eigenen Lebens- und Schaffensweg des Autors - freilich chiffriert: Schriftsteller Gemo und Journalist Nesnamow, die im Traum ihre Identitäten tauschen, suchen einander, vermuten den jeweiligen Doppelgänger in einer "parallelen Welt", können jedoch in derselben Welt nicht gleichzeitig existieren und sterben bei der Begegnung... Innerhalb dieses philosophisch "geerdeten" Rahmens entwirft Rytchëu Schicksals- und Zeitbilder, gewinnen Tschukotka - bevorzugter Handlungsraum schon seiner vorangegangenen Romane - und Leningrad bzw. Sankt Petersburg biographische Bezüge zu Gemo und Nesnamow (beide alias Rytchëu), entfaltet sich organisch ein Panorama tschuktschischer Kultur- und Literaturgeschichte sowie derer, die sich um sie verdient gemacht haben.
Zwar versteht es Rytchëu immer, Spannung zu erzeugen. Das hier gewählte Kompositionsprinzip erzeugt beim Leser in besonderem Maße das Bewußtsein, die Wirklichkeit in ständigem Fluß zu erleben. Es ist ja nicht nur so, daß mit den beiden Handlungsträgern (Gemo - Nesnamow) jedesmal der Blickwinkel wechselt. Wo Gemo im jeweiligen Beziehungsgeflecht Gegenwart erlebt, begegnet uns Nesnamow zu ganz anderer, veränderter Zeit bei der vergeblichen Suche nach dessen Spuren (sowie den Spuren seiner Lehrer, Schüler, Freunde) und umgekehrt. In diesem Kontrast bewegt sich die Rahmenhandlung durch Jahrzehnte der sowjetischen Wirklichkeit, umfaßt - als Lebenssituation, als Milieu - verschiedene gesellschaftliche Stadien der Sowjetunion wie die Umbrüche nach ihrem Zerfall. Daß Nesnamow, der den Kapitalismus in unzähligen Leitartikeln gegeißelt hat, materiell abgesichert nach Gemo fahnden kann, ermöglicht ihm sein Sohn, der einen steilen Aufstieg als "neurussischer" Unternehmer und Bankier genommen hat. Nesnamows Gesprächspartner Saikin - früher an der Konstruktion atomgetriebener U-Boote beteiligt gewesen und durch die Ehefrau Antonina rätsel- und schicksalhaft mit Gemos einstigem Umfeld verbunden - verdankt es den Beziehungen zu einem Clan, daß er nun als Toilettenwärter gut verdienen kann.
Rytchëu ist einer von wenigen russischen Autoren, die sich nüchtern nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der im Prozeß erfaßten Gegenwart stellen. In dieser Verschränkung liefert der Roman ein lebendiges, sich wandelndes Bild sowohl von Leningrad bzw. Sankt Petersburg als auch von Tschukotka. Was aber hat dies alles mit der Übersetzersicht zu tun? Zwar bietet das russische Original (der Autor schreibt tschuktschisch und russisch) keine außerordentlichen sprachkünstlerischen Probleme, doch der dynamische Erzählfluß, die Spiegelung der Zeitenablösung, die Emotionalität resultieren doch auch aus sprachlichen Gestaltungsmitteln. Die schnörkellose Prägnanz der Erzählung bezieht oft bis in den Satzbau Wertungen, Stimmungen Gemos, Nesnamows, anderer Personen ein; das verleiht etwa der Wahrnehmung tschuktschischer Landschaft geradezu poetische Dichte. Veränderungen unterworfene Straßennamen (Straße der Roten Reiterei - Cavaliergarde-Straße), Zustandswandlungen von Bauwerken (Blutkirche) verlebendigen - unaufdringlich kommentiert - Epochenablösungen. Gesellschaftliche Vorgänge spiegeln Bilder aus Tschukotka; sogar geographische Bezeichnungen (etwa eskimoische, russische, amerikanische Namen für Inseln in der Beringstraße, zwischen Tschukotka und Alaska gelegen) gewinnen im Handlungsablauf historische Dimension.
Überhaupt - die Realien, vor allem solche, die tschuktschischen Lebensumständen, Bräuchen gelten: wie geht man mit ihnen um, damit der deutsche Leser Tschukotka lebendig erfährt - weder entnationalisiert eingedeutscht, noch durch tote Fußnoten entfremdet? Stellvertretend für den Autor vermittelt der Übersetzer Rytchëus Lesern nicht einfach Handlungsabläufe, sondern macht ihn - mit allen emotionalen, gedanklichen, visuellen Nuancen - zum Teilnehmer an dessen künstlerischer Entdeckung einer Welt, die nur vordergründig exotisch wirkt. Wenn in einem früheren Roman Rytchëus der norwegische Polarforscher Amundsen und der tschuktschische Schamane Kagot sich gegenseitig zugestehen, ebenbürtigem Erkenntnisdrang zu folgen, offenbart sich darin - bei der Gestaltung positiver wie negativer Erscheinungen - das Credo Rytchëus. Mehr noch als jedes Werk des Autors verlangt "Im Spiegel des Vergessens" danach, im Kontext seines Gesamtschaffens reproduziert zu werden.