Als ich mich auf die Übersetzung des Romans "Vier Generationen unter einem Dach" von Lao She einließ, hätte ich eigentlich wissen müssen, was ich tat - der Umfang war nicht zu übersehen.
Vor einigen Jahren übersetzte ich zwei Romane dieses Autors, und es machte mir großen Spaß, obwohl ich neben meiner wissenschaftlichen Arbeit an der Berliner Humboldt-Universität wenig Zeit dafür fand.
Der Roman interessierte mich, weil er zu den bedeutenden Werken des Autors und der modernen chinesischen Literatur gehört, aber - da erst in den achtziger Jahren vollständig veröffentlicht - lange nicht gebührend gewürdigt wurde. Und schließlich, weil er thematisch in zweifacher Hinsicht interessant ist. Einmal zeichnet er eine Familiengeschichte im typischen Pekinger Kleine-Leute-Milieu mit starkem traditionellen kulturellen Hintergrund, zum anderen spielt er in der Zeit der japanischen Invasion in China, des antijapanischen Krieges von 1937-1945 dar, die in Europa kaum wahrgenommen wurde und wird.
Bei Besuchen in der Lao-She-Familie - der Witwe des Autors, Frau Hu Jieqing, einer Malerin, der ältesten Tochter Shu Ji, dem Sohn Shu Yi, die sich beide der Herausgabe der Werke Lao Shes widmen, der Tochter Shu Yu, einer Germanistik-Professorin -, die während meiner Studienaufenthalte 1986, 1988 und 1991 erstmals möglich wurden, war dieses Buch auch Gegenstand der Unterhaltung. Ich meinte, daß an die Übersetzung eines so umfangreichen Werkes bestenfalls im Rentenalter zu denken sei. Als ich eine Einladung zu einer Übersetzerkonferenz nach Taiwan erhielt, wählte ich als Thema die Übersetzung der Werke Lao Shes ins Deutsche und übertrug dazu versuchsweise die ersten Kapitel des Romans. Damit hatte ich Blut geleckt. Inzwischen war ich in den Vorruhestand gegangen (an der Humboldt-Universität begann der rabiate Abbau Ost nicht sofort nach der politischen Wende, war aber bereits deutlich abzusehen). 1993/1994 arbeitete ich gelegentlich an der Übersetzung weiter und legte Ende 1994 die ersten achtzig Seiten einem Verleger vor. Der war interessiert und fand, daß sich der 100. Geburtstag des Autors im Februar 1999 hervorragend als Erscheinungstermin eigne.
Ende 1994 begann ich mit der intensiven, regelmäßigen Arbeit. Ich versuchte, täglich ein bestimmtes Pensum zu schaffen, um erst einmal Boden zu gewinnen. Die auffälligsten Fragen klärte ich mit Wörterbuch und Nachschlagewerken schon beim Vorauslesen, andere beim Übersetzen bzw. Überarbeiten, einige später durch Konsultieren von Muttersprachlern. Das Problem bestand weniger im laufenden Textverständnis, das war gegeben, schwierig war dagegen, flüssige umgangssprachliche Äquivalente auf der richtigen Sprachebene zu finden sowie immer wieder auch bestimmte Floskeln und Redewendungen richtig zu erfassen, von denen man manchmal gar nicht begriff, daß man sie nicht bzw. nicht richtig verstanden hatte.
Die größte Herausforderung ergab sich aus dem Umfang - es war auf knappeste Wiedergabe zu achten und jedes Füllwort, jeder Schnörkel, jede Wiederholung oder umständliche Beschreibung zu vermeiden bzw. zu eliminieren. Um keine Nuancen zu übersehen, übersetzte ich zunächst alles sehr genau. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, beim Vorauslesen zu entscheiden, was eventuell gestrafft oder gar gekürzt werden könnte. Das war dann der schwerste Arbeitsgang bei einer vierten Überarbeitung.
Alle vier Fassungen druckte ich aus und überarbeitete sie jeweils auf dem Blatt, erst dann übertrug ich sie in den Computer. Zugegeben, ein großer Arbeitsaufwand. Doch nur so konnte ich mich nach und nach von der wortwörtlichen Übertragung lösen und mehr Freiheit gewinnen, um das vom Autor Gemeinte verständlich und in gutem Deutsch wiederzugeben. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß bei jeder Übersetzung ein ganz eigener Weg gefunden werden muß, die Balance zwischen Originaltreue, adäquater Wiedergabe in der Zielsprache sowie Lesbarkeit zu halten. Das ist bei Sprachen so unterschiedlichen Charakters wie hier besonders schwierig, jedenfalls fand ich es diesmal besonders schwierig, und ich bekenne, daß ich mich ziemlich geschunden habe. Natürlich lag das vor allem am Umfang, aber eben nicht nur.
Erfreulich war dann allerdings die Zusammenarbeit mit dem Verlag, namentlich der Lektorin Alice Grünfelder, einer verlagserfahrenen Sinologin. Die nochmalige Überarbeitung des Manuskripts - erst durch sie, dann durch mich - brachte eine weitere Verbesserung, vor allem in Hinblick auf die Reduzierung von Wiederholungen, die dem Text und der Lesbarkeit zum Vorteil gereichten.