Wann immer man tief in das Geschehen des Romans Gazellenspuren eindringt, wirft einen das Rätselhafte hinter das zurück, was man bereits verstanden glaubte; man begreift, dass letzte Gewissheit ein schwer zu erreichendes Ziel ist. Dieser Roman versetzt den Leser absichtlich in Konfusion … ein Zustand, den Miral al-Tahawi gewählt hat, um auf diese Weise die Welt der Beduinen darzustellen, die sie ja auch schon in ihrem ersten Roman Das Zelt den Lesern nahegebracht hat. Vielleicht – übrigens ein Wort, das dem Leser oftmals bei der Lektüre begegnen wird – geht dies auf einen ganz bewussten Schreibstil zurück. Es könnte aber auch eine Art von klugem Umgang mit dem Problem Freiheit sein, das noch immer zu den Schwierigkeiten des Lebens gehört. Dazu gehört das Thema Frauenliteratur, obwohl der Begriff abgedroschen ist. In der Welt dieses Romans sind die Männer eher marginal. Er ist hinsichtlich der Fabel als auch der Symbolik von Frauen geprägt. Ist dieses Buch ein weiterer Beleg dafür, dass Frauenliteratur notwendig ist?
Haben Sie aufgehört, die Welt heimlich von den Baumwipfeln aus zu beobachten?
Ich sammle die Biografie meiner Seele aus Bilderresten. Das hat einen ganz simplen menschlichen Grund – ich wuchs in einer Welt von Frauen auf. Jeder Autor greift auf die Erfahrungen zurück, die er in seinem Umfeld gemacht hat, und die Stammesgesellschaften sind eben davon geprägt, dass die Welten der Frauen und Männer getrennt sind. In der sozialen Struktur, die ich kennengelernt habe, gibt es eine Welt, die den Namen »Gästereich« trägt, wo die Männer essen, trinken, rauchen und auch anderen Frauen begegnen. In Das Zelt habe ich ja nicht über ein Zelt geschrieben, sondern über ein Haus, das nur von Frauen bewohnt ist. Der Vater ist die einzige Ausnahme. Ich empfand die Atmosphäre in den Häusern der Dienerinnen, Kinderfrauen, Tanten väterlicher- und mütterlicherseits immer als sehr mütterlich; es ist eine ganz eigene Welt, die von der der Männer meilenweit entfernt ist. Es gab aber tatsächlich eine Zeit, in der ich so wie andere Schriftstellerinnen schreiben wollte.
In welchem Sinn?
In dem Sinn, dass es um einen Mann geht, den Geliebten. Aber ich wusste nicht, wie ich über die Beziehungen von Männern und Frauen schreiben sollte, weil ich, was das betraf, keinerlei Erfahrungen besaß. Wie lachen Männer? Wie erleben sie ihre Welt? Mir war diese Welt für sehr lange Zeit verschlossen geblieben. In der Tat sah ich die Welt der Männer genau so, wie ich sie in meinen Büchern beschrieben habe. Entweder schaut man von oben aus den Bäumen zu, oder man hat eine ziemlich verschwommene Sicht. Beispielsweise konnte ich selbst die Persönlichkeit des Vaters oder die des Bruders kaum ausmachen. Ist der Bruder, mit dem ich aufwachse, so wie er sich gibt, oder hat er noch ein ganz anderes Gesicht, eine ganz andere Art zu reden, ganz andere Geheimnisse, ein ganz anderes Leben, wenn er sich außerhalb des Hauses bewegt? Selbst wenn sich dieser Mensch unmittelbar in meinem Blickfeld bewegt, kann ich ihn nicht wirklich erkennen.
Als ich Die blaue Aubergine schrieb, und ein Mädchen darstellte, das nicht weiß, wie sie mit dem Jungen umgehen soll, den sie liebt, war ich durch und durch aufrichtig, das waren meine persönlichen Erfahrungen. Ich habe nicht über Frauen an sich schreiben wollen. Die Welt meiner Kindheit bestand gewissermaßen überhaupt nur aus Frauen, die Welt der Männer hatte keinerlei Realität. Ich habe festgestellt, dass das Schreiben nicht auf dem momentanen Bewusstsein basiert, sondern auf dem, was man im Gedächtnis angesammelt hat. Die Menschen, die ich in meiner Kindheit geliebt habe, waren eben Großmütter, Tanten, alte Damen und Kinderfrauen. Sie alle sind zu einem Geflecht von Wesen geworden, über das ich schreiben möchte. Der einzige Mann, über den ich gern schreibe, ist mein Vater. Die Beziehung zwischen meinem Vater und mir ist von Verführung gezeichnet: Ich will ihn in Besitz nehmen, aber jeder Versuch, ihn mir zu erobern, schlägt fehl. Ich musste begreifen, dass mir das Verständnis für die männliche Denkungsart fehlt, und deshalb blieb die Darstellung des Vaters diffus. Ich hasse ihn nicht, aber ich kann keine eindeutige Position ihm gegenüber beziehen; ich verstehe ihn nicht wirklich, ich kann ihn schreibend nicht packen. Er ist zu einer Fantasie geworden, weil ich nicht fähig bin, ihn in einer wahrhaften Form festzuhalten. Möglicherweise ist die Figur des Vaters in Gazellenspuren deutlicher geworden, denn wann immer ich den Gedanken, den Vater verloren zu haben, verdränge, spüre ich, dass es mir möglich ist, ihn genauer zu betrachten.
Sie haben über Ihre Kindheit gesprochen, in der die Grundlage für die Beziehung zu dem anderen Geschlecht, dem Mann, das heimliche Beobachten war, sodass vieles in dieser Beziehung im Dunkeln bleiben musste. Nun ist es ja oftmals so, dass gerade das Dunkle, Unverständliche es dem Schriftsteller möglich macht, in seiner Fantasie das zu vervollkommnen, was ihm von der Wirklichkeit her fehlt. Welche Rolle spielt die Fantasie bei der Vollendung dessen, was man in der Realität nicht erfahren hat?
Das hängt vom jeweiligen Autor ab. Ich habe mir von Anfang an vorgenommen, keine normale Autobiografie zu schreiben, sondern die Biografie der eigenen Seele. In all meinen drei Romanen habe ich immer nur über die Nöte meiner Existenz geschrieben. Als ich Das Zelt schrieb, war meine existenzielle Sorge die Freiheit. Ich war eine junge Frau, Schriftstellerin und arbeitete in der Universität als Assistentin, aber gleichzeitig durfte ich nicht allein in die Stadt gehen, sondern nur in Begleitung von einem meiner Brüder.
Ich kann mich noch gut an viele schmerzliche Erfahrungen erinnern. So durfte ich an einer Diskussion über meine Arbeiten nur in Begleitung eines Bruders teilnehmen, und ich musste beim Reden immer daran denken, dass ich unter dessen autoritärer Kontrolle stehe. So wurde das Sich-Befreien zu einer Existenzfrage. Sollte ich denn für immer und ewig die Welt nur von oben aus den Bäumen betrachten? Sollte ich von Liebe, Vereinigung, Verbundenheit ausgeschlossen bleiben?
Mit dieser realen Lebensfrage habe ich meine Heldin konfrontiert: Diese Figur war ein Teil meiner Seele, meines eigenen Leidens. Ich denke, dass ein guter Autor beim Schreiben von einem bestimmten existenziellen Problem betroffen sein muss, und der Stoff, den er daraus webt, stellt all seine Zweifel und Besorgnisse dar. Für mich ist Schreiben das Festmachen eines existenziellen Zustands, mit dem ich im realen Leben konfrontiert bin. Du stehst unter dessen Wirkung, und dann denkst du zusätzlich die konkreten Dinge aus, die unter Umständen einer ganz anderen Welt entnommen sind oder ganz andere Menschen betreffen.
Ich erschaffe meine Figuren, und ich halte sie für wahr. Ich glaube, dass ich die Heldin bin, jedenfalls so lange, bis der Text fertig ist. Am Ende bin ich dann immer sehr verunsichert: Bin ich tatsächlich die Heldin, oder bin ich eine ganz andere Person? Sicher, ich befinde mich in deren menschlichen Situation, aber deshalb bin ich nicht notgedrungen diese Figur mit all ihren Eigenschaften und Merkmalen, wie z. B. Muhra in Gazellenspuren. Es ist eine verhüllte Erzählung, die ich nicht entschlüsselt habe, weil ich nicht wollte, dass der Gedanke an eine Autobiografie erneut aufkommt. Ich kann nicht immer genau erkennen, wo im Text ich mich befinde. Bisweilen habe ich das Gefühl, Hind zu sein. Ich spüre, dass manche Charakteristika, die Hind ausmachen, etwas mit Miral al-Tahawi zu tun haben. Bisweilen kommt es mir aber auch vor, als sei Miral Muhra ähnlicher, weil sie sich bemüht, einer Welt, die in Vergessenheit geraten ist, wieder eine Gestalt zu geben, indem sie Bilder, die in einem alten Salon hängen, zusammenfügt.
Sie haben nicht über die Rolle der Fantasie gesprochen, die der Autor braucht, um das, was er an Lebenserfahrung nicht gewinnen konnte, wieder auszugleichen?
Sicher gibt es Autoren, die über Dinge, die sie nicht erlebt haben, fabulieren. Sie füllen mit ihrer Fantasie auf, wie sie sich wünschten zu sein. Das Fabulieren versetzt sie ins Reich ihrer Wünsche. Es gibt aber auch noch die andere Erzählweise, bei der sich der Autor darum bemüht, eine Welt zu erschaffen, die aus seinen eigenen, persönlichen Krisen wächst. Er formt Menschen, in denen er seine existenzielle Krise wiederfindet. Bei dieser Art zu schreiben, erschafft die Fantasie eine selbst erlebte Welt und ihre Figuren. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, eine Heldin zu erfinden, die in der Stadt lebt, eine Beziehung zu einem Mann hat und die, als er sie verlässt, wahnsinnig wird, und so weiter und so fort. Aber wenn ich mir Figuren erschaffe, deren Lebensraum und Geschichte mir fremd sind, ich sie aber mit meinen eigenen schmerzlichen Erfahrungen ausstatte, dann ist es, als müsste ich eine völlig fremde Welt betreten. Das kostet große Vorstellungskraft, denn ich habe ja in dieser Welt nicht gelebt, sie sinnlich nie wahrgenommen.
Sie haben vorhin über die Freiheit gesprochen, ein Problem, das Ihre Arbeit zum großen Teil geradezu als Zwangsvorstellung dominiert. Hat Ihnen das Schreiben geholfen, das Problem zu überwinden?
Ich denke, das war eine Krise. Wenn man sie auf Grund des Alters und der veränderten gesellschaftlichen Position hinter sich lässt, gerät man in andere existenzielle Bedrängnisse, die vielleicht noch größer sind. Aber das Motiv, sich befreien zu müssen, ist immer noch da, weil für mich, im Unterschied zu den Frauenorganisationen, die Freiheit kein juristisches Problem ist, sondern darin besteht, dass die Psyche darauf trainiert ist, sich zu unterwerfen. Entdeckt man plötzlich, dass man eigentlich frei ist, gerät man in neue Konflikte. Wie soll man mit den Menschen umgehen? In irgendeine Krise gelangt man jedenfalls immer. Das ganze Menschenleben ist nichts anderes als eine existenzielle Krise, und den Schriftsteller bewegt in Wahrheit nichts anderes als seine eigene existenzielle Krise.
In Gazellenspuren wurde das Problem der Freiheit aus einer speziellen Sicht dargestellt, denn die einzige Figur, die sich widersetzt, nämlich Hind, ist vom Wahnsinn befallen.
Das hat eine menschliche Logik. Denn Hind liebt das Leben und will sich selbst verwirklichen, aber sie hat das Problem, dass das, was sie erwartet, von ihr nicht erwartet wird. Das macht ja gerade die permanente Krise aus: Was wir gern möchten, wird uns verweigert.
Aber das Aufbegehren endet im Pessimismus …
Der gesellschaftliche Kontext gestattet keine Auflehnung. Die Welt dieses Romans beruht auf Stammeswerten, wie denn überhaupt unsere arabische Gesellschaft eine Stammesgesellschaft ist. Ich kenne mich in dieser Symbolik und Metaphorik aus, aber ich weiß nicht, ob der Text sie deutlich machen konnte. Da ist der Vater, der der alten Größe und Macht nachweint, wie sie der viel größeren Stammesgemeinschaft entsprachen. Deshalb habe ich, und das ist sicher kein Zufall, viele Leser in der Golfregion. Als Das Zelt erschien, wurden am meisten Exemplare nach Saudi-Arabien ausgeliefert. Die Stammesgesellschaft hat überall die gleichen Werte, Begriffe und soziale Formen. Ich stelle eine eingeengte Welt dar, aber die Werte, die ihr zugrunde liegen, sind nicht eng, denn die ganze arabische Sozialstruktur ist von der Stammesgemeinschaft geprägt. Es herrscht ein Klima, das für Aufbegehren und Selbstverwirklichung nicht gemacht ist.
Bei der Lektüre des Romans Gazellenspuren kam mir ein bestimmter Gedanke, der sich für mich während unseres Gesprächs bekräftigt hat. Sie haben von der Veranstaltung gesprochen, bei der Ihr Buch diskutiert wurde. Während Sie sprachen, standen sie unter der Kontrolle Ihres Bruders. Mein Gedanke ist, dass Sie in Ihrem Roman mehr andeuten als erklären. Ist die Wahl dieses Stils ein Kompromiss, der durch die Krise der Freiheit bedingt ist? Kommt diese Form aus dem Unterbewusstsein?
Am Anfang, als ich zu schreiben begann, dachte ich mir Zustände und Situationen aus, mit denen ich nichts zu tun hatte. Mir schien, dass ich mich an wirklichen Begebenheiten nicht festhalten sollte. Weil die realen Dinge in meinem Innern ablaufen, und ein anderer sie nicht sieht. Zum Beispiel: Ist Muhra die Tochter von Sahla oder von Hind? Ich meine, dass das Festhalten an Tatsachen weder notwendig noch erfolgreich ist, um Unterdrücker, Unterdrückte und Täter darzustellen. Für den Schriftsteller sind das ja alles Interpretationsfragen, er muss versuchen, das Besondere, das den Dingen eigen ist, zu erkennen. Ich habe im Lauf der Zeit beim Schreiben die Ungewissheit so weit getrieben, dass ich mir manchmal nicht klar war, ob ich über die reale Welt oder über eine erfundene Welt schreibe. Ich habe mich auf die erzählte Geschichte gestützt, die im Unterschied zur realen Geschichte ja alle Widersprüche in sich trägt; die Menschen basteln sich ihre Ruhmesgeschichte ganz nach Belieben zurecht, so wie sie sie sich vorstellen oder weil sie fest daran glauben. Was soll an mangelnder Deutlichkeit falsch sein? Der Roman will ja weniger eine Geschichte erzählen, als eine Befindlichkeit nahebringen.
Dann ist die mangelnde Deutlichkeit also gewählt?
Ich habe den Text mehreren Freunden zum Lesen gegeben. Meine einzige Frage lautete: Kann man diesen Text verstehen? Die Freunde, deren Urteilsvermögen ich vertraue, haben mir bestätigt, dass er bei ihnen angekommen ist. Selbst einige unverständliche Details haben ihnen den Lesegenuss nicht verdorben. Aber dennoch scheint mir Ihre Frage wichtig zu sein. Möglicherweise greife ich unbewusst auf eine symbolische Darstellung zurück, um der Gefahr zu entgehen, mich allzu genau festzulegen. Vielleicht ist das ein Teil meines Erbes, und vielleicht lässt es sich tatsächlich auf das zurückführen, was Sie vorhin sagten, dass ich mir mit der Undeutlichkeit oder Rätselhaftigkeit eines Texts eine größere Freiheit beim Enthüllen von Dingen gebe. Aber sicher bin ich mir da nicht.
Heute kann ich mit viel größerer Freiheit schreiben, und trotzdem habe ich diese Form gewählt, und zwar ganz bewusst, was vorher vielleicht nicht so war. Schon möglich, dass ich früher versucht habe, mich auf diese Weise jedem, wie auch immer gearteten Druck einer Zensur zu entziehen. Dabei spielt die Kontrolle durch einzelne Personen weniger eine Rolle als die eigene Zensur, die im Kopf oder im Bewusstsein stattfindet, oder die der Erziehung geschuldet ist … ich weiß nicht.
Männlichkeit wird im Roman folkloristisch dargestellt, während Weiblichkeit durch wirkliche Frauen ausgedrückt ist, die ein relativ ausgeprägtes Bewusstsein haben.
Wir haben ein Problem mit dem Wort Folklore. Was heißt Folklore? Es ist eine Kultur von Menschen, über die die Zeit hinweggegangen ist. Es sind Lieder, Legenden, Geschichten von wirklichen Menschen, die zu einem Teil der sozialen Geschichte geworden sind. Das ist Folklore. Es handelt sich um soziale Geschichte, mit der sich die Anthropologie beschäftigt. Und da als Geschichte bei uns die schriftlich fixierte, offizielle Geschichte gilt, nutze ich die Anthropologie und die Folklore, um die sozialen Schichten von innen heraus zu verstehen. Denn mit der schriftlich fixierten Geschichte kann man Menschen nicht erfassen; man kann sie nur mithilfe der Folklore verstehen, die ein Schlüssel zur Denkungsart von sozialen Schichten ist, die während eines langen historischen Zeitraums existierten.
Bleibt noch die Frage nach den Männern. Die Welt der Männer gerät immer wieder in die gleiche Falle – die des Rufs nach Rückgewinnung von Ruhm und Ehre. Und wenn Sie das Gefühl haben, dass die Frauen in diesem Roman stärker sind, dann liegt das vielleicht daran, dass ich über Frauen besser schreiben kann als über Männer. Männer sind für mich noch immer dunkle, unverständliche Wesen. Ich bin meinem Buch Gazellenspuren sehr dankbar dafür, dass es mir die Gelegenheit bot, in diese Welt einzudringen. Der Vater ist in diesem Text schon viel deutlicher gezeichnet, was einerseits daher kommt, dass ich die Welt der Männer jetzt besser verstehen kann, und andererseits zu erwachsen geworden bin, um mich ihrer Autorität zu unterwerfen. Früher konnte ich sie weder verstehen noch mich ihr nähern, oder gar analysieren, was Männer tun. Jetzt habe ich den Mut, sie so zu zeigen, wie sie sind.
Aus: Ahbar al-Adab, 10. März 2002.
Das Gespräch führte Ihab al-Hadari. Aus dem Arabischen von Doris Kilias.