Ich weiß nicht mehr, was zuerst da war, meine Begeisterung für die Filme der schwarzen Serie mit Humphrey Bogart wie Der große Schlaf oder Der Malteser Falke oder für die Figur des harten, zynischen Privatdetektivs Philip Marlowe persönlich, wie ihn Raymond Chandler in seinen Büchern vorstellte. Diese Figur, ein echter Archetypus des 20. Jahrhunderts, ist von zahllosen Nachahmern verschlissen worden, ohne jemals wieder an die Qualität des Originals heranzureichen. Und plötzlich taucht da dieser Vincent Calvino auf und erfüllt den Archetypus mit neuem Leben, nicht als Kopie, sondern als eigenständige Gestalt der Jahrtausendwende. Nicht so einsam wie Marlowe vielleicht, dafür desillusionierter, verletzter – und doch immer bemüht, sich selbst treu zu bleiben. Vincent Calvino, der Uramerikaner. Gezwungen, Amerika zu verlassen, weil er sich selbst treu blieb, sich nicht dem Machtmissbrauch durch die Mächtigen beugen wollte. Jetziger Wohnort: Bangkok. Die Großstadt an sich, Mythos und Moloch zugleich. Straßenschluchten, Rotlichtviertel, schmutzige, übel riechende Slums, bittere Armut und Glaspaläste Seite an Seite. Ein Schmelztiegel verschiedener Völker, in dem Verbrechen, Korruption, Bürokratismus und Gewalt gedeihen. Eine buddhistische Kultur, uns so fremd wie die Sprache. Das Mekka für Sextouristen aus aller Welt.
Aber auch das Zuhause des Schöpfers von Vincent Calvino, des kanadischen Autors Christopher G. Moore, der seit Jahren hier lebt und auch »der Hemingway von Bangkok« genannt wird. In gewissem Sinn mag das stimmen. Sicher ist: Er schert sich wie Hemingway kaum um konventionelle Erzählstrukturen, aber er nimmt alle Hürden seiner Geschichten mit der Kraft seiner Sprache und der Wahrhaftigkeit seiner Figuren. Und vielleicht strickt Moore ebenso geschickt am Mythos Moore wie Hemingway am Mythos Hemingway. Eine schillernde Figur, so facettenreich wie seine Erzählungen. Ein Abenteurer der Literatur, der es gewagt hat, seine Geschichten im Selbstverlag zu publizieren, über das Internet zu vermarkten und damit Erfolg hatte.
Beim Übersetzen fiel mir eine Episode aus Der große Schlaf ein: Howard Hawks drehte gerade die Einstellung, in der der tote Chauffeur mitsamt triefender Limousine nachts aus dem Hafenbecken gefischt wird, als ihm auffiel, dass er keine Ahnung hatte, wer eigentlich der Mörder war. Am Set konnte auch niemand weiterhelfen, nicht einmal der Drehbuchautor. Also rief Hawks bei Chandler persönlich an, der es ja eigentlich wissen musste. Aber Fehlanzeige! Und so weiß bis heute niemand, wer den Chauffeur der Sternwoods ermordet hat, oder ob er vielleicht einfach nur die Kontrolle über den Wagen verloren hatte. Wie im »wirklichen Leben«. Aber die Szene im Film ist sehr eindrucksvoll. Das Schöne daran ist, dass es keine Rolle für die Geschichte spielt. Auch Moore spinnt ein komplexes, äußerst spannendes Geflecht von Handlungsfäden, von denen einige im Nichts enden. Anders als Chandler in Der große Schlaf vergisst er sie allerdings nicht … Wie im Leben ist selten etwas so, wie es auf den ersten Blick scheint. Bei aller Action stehen immer die Personen im Mittelpunkt, ihre Beweggründe und Abgründe und die Welt, in der sie sich bewegen. Diese Welt ist auch Christopher Moores Welt, und entsprechend farbig kann er sie beschreiben. Wenn er einen Monsunregen herunterprasseln lässt, wird der Leser nass. Calvino, der Außenseiter in einer fremden Welt, ist wohl eine Art Alter Ego des Kanadiers Moore in Bangkok. Das findet auch einen Widerhall in meiner eigenen Vergangenheit – vielleicht war mir deshalb dieser abgehalfterte Privatschnüffler von Anfang an so sympathisch.
Calvino zwischen allen Stühlen. Wie sehr er sich auch bemüht, in Thailand wird er immer ein Fremder bleiben. Eine fremde Kultur kann man nur wirklich verstehen, wenn man darin aufgewachsen ist und die Sprache als Kind erlernt hat. Aber auch den USA hat sich Calvino schon lange entfremdet. Zuhause ist ein warmer Windhauch, der nach Meer riecht. Der Geschmack eines guten Weins, der klare Ton einer Tempelglocke. Aber vor allem die Freundschaft zu einzelnen Menschen, auch solchen, die in einer fremden Kultur aufgewachsen sind, die in anderen Bahnen denken, deren Gefühle anders strukturiert sind, deren Sprache andere Nuancen der Realität beschreibt. Wenn ihre Sprache – wie beispielsweise die der Plains-Indianer Nordamerikas – hundert Nuancen von Grün und Blau benennen kann, aber nicht den Unterschied zwischen Grün und Blau kennt, dann lernen wir von ihnen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Und sie – vielleicht – von uns. Calvinos Freund Pratt, der thailändische Polizei-Colonel, zitiert Shakespeare, wenn er besonders thailändisch vieldeutig werden will. Wo Kulturen aufeinanderprallen, da finden auch Begegnungen statt.
Moore macht es dem Übersetzer nicht leicht. Er erfindet immer neue originelle Metaphern. Auch hier gibt es eine Parallele zu Chandler. O-Ton Philip Marlowe: »Ich wollte die Decke hochgehen und mich durch die Decke ins Freie nagen.« Und Calvino? »Das Schlimmste war nicht der Schmerz, sondern dass er sich alt und langsam vorkam. Calvino hatte sich in seine Vierziger verbissen wie ein Hund in seinen Knochen.« Calvino und sein thailändischer Freund Pratt – das sind auch Metaphern für die zahllosen Menschen, die in multikulturellen Gesellschaften leben und mit ihrer Situation umgehen, nicht indem sie sich verschließen und sich zurückziehen, sondern indem sie sich dem Fremden öffnen, ohne sich darin zu verlieren. Ein wohltuender Kontrapunkt gegen die sich ausbreitende Fremdenfurcht. Hier liegt sicher einer von vielen Gründen, warum Christopher G. Moores Calvino-Romane sich so weit aus dem Einheitsbrei konventioneller Thriller herausheben. Und: Sie sind pures Lesevergnügen!