William Marshall, Das Lachen, ein Albtraum
I
Den idealen Kriminalroman gibt es nicht. Weil der ideale Kriminalroman gleichzeitig das Genre revolutionieren (und die nicht genregebundene Literatur gleich ein bisschen mit) und alle seine bisherigen Errungenschaften bündeln müsste. Er müsste spannend und entspannend sein. Er müsste neue Erkenntnisse über Welt und Gesellschaft vermitteln und alles, was wir über die Conditio Humana wissen, nicht vergessen. Er müsste komisch und tragisch sein. Er müsste peniblen Detailrealismus pflegen und Halluzination von Dingen jenseits aller Realismen sein. Er müsste eine Moral haben und alte wie neue Konzepte von Moralität, von Legitimität und Legalität und deren Antithesen diskutieren. Er müsste einen gewissen Gerechtigkeitssinn befriedigen und nicht aus den Augen verlieren, dass es ungerecht zugeht auf der Welt.
Er soll Helden und Schurken allerlei Geschlechts beherbergen, doch die sollen keine eindeutigen Charaktere sein. Er soll Haupthandlungen und Nebenhandlungen verwirrend und doch glasklar miteinander verweben, falsche Spuren auslegen und die richtigen dennoch nicht durcheinander bringen. Er soll Rätsel über Rätsel aufwerfen, und er soll sie wieder auflösen. Aber nicht total, weil das unglaubwürdig wäre. Außerdem soll er schnell erzählen und doch episch. Er soll uns Weltgegenden zeigen, die wir nicht kennen. Aber wer sie kennt, soll sie auch wieder erkennen können.
All dieses und noch vieles mehr ist der ideale Kriminalroman. Den gibt es verständlicherweise – so – nicht.
Aber es gibt immerhin die Romane von William Marshall.
II
William Marshall wurde 1944 in Australien geboren und lebt seit drei Jahren mit seiner Frau Mary wieder dort, irgendwo mit Meerblick bei Brisbane. Dazwischen hat er sich ziemlich überall auf der Welt herumgetrieben – in Europa, in Asien, in den USA, im Vereinigten Königreich. Ich hatte Adressen von ihm aus Los Angeles und New York und habe ihn dort nie erreicht. Dafür aber in einem merkwürdigen Städtchen irgendwo in Pennsylvania. Und was er für einige Zeit in der schönen Schweiz getrieben hat ... man weiß es nicht genau.
Genau weiß man nur, dass er seine Zeit in vielen Ländern genutzt hat, um wie ein Staubsauger allerlei nützliches Wissen aufzusammeln und es auffällig unauffällig in seine Romane einzubauen. Das geht von Schweizer Präzisionswaffen und Uhren bis hin zu intimen Kenntnissen der Gründungsmythen der französischen Fremdenlegion.
Wenn man dazu noch die vielen, von Marshall verarbeiteten literarischen Formen, Verfahren, Techniken, Anspielungen, Parodien und Verweise nimmt, dann erkennt man seine Bücher nicht nur an ihren globalen Schauplätzen (Hongkong, New York, Manila, Schanghai), sondern auch daran, dass sie globale Reflexe auf »hohe« und »niedere« Kunst und Kulturformen sind: Das Erzähltempo japanischer Mangas steht neben dem veritabler mittelalterlicher Aventiuren, Horrorfilm und Slapstick vermischen sich mühelos mit zart impressionistischen Landschaftsbeschreibungen, die, wo sie Stadtlandschaften schildern, schon fast wieder expressionistisch werden.
III
Wir deutschsprachigen Leser kennen nur William Marshalls Hongkong-Romane, seit diese ab den späten Siebzigern bei Goldmann und später bei Rotbuch erschienen. An dieser Serie, den so genannten Yellowthread-Street-Romanen, arbeitet Marshall weiter, auch wenn sich in Hongkong einiges gravierend geändert hat. Seine gemischt britisch-chinesische Polizeitruppe erlebt weiter ihre haarsträubenden Abenteuer gemäß Marshalls ästhetischem Credo »More nightmare – more fun«.
Aber Hongkong ist eben nur einer von Marshalls Schauplätzen – und nur eine Methode. Es ist jetzt genau zehn Jahre her, dass ich nicht ohne Hintergedanken Gisbert Haefs für das gute, alte »Underground« selig gebeten hatte, auf Marshalls beide Romane aus Manila hinzuweisen, die Haefs völlig zu Recht »zum Besten zählt, was in den letzten hundert Jahren an Krimis produziert wurde«. Jetzt, im Jahr 2000, können wir die beiden endlich präsentieren: Manila Bay und Whisper (bei UT metro in Vorbereitung).
Manila Bay ist schon deshalb ein Klassiker des Genres, weil er eigentlich gleich drei ausgewachsene Kriminalromane enthält: Die Geschichte vom Kampfhahn Mendez, die Geschichte vom Straßenräuber und die Geschichte vom korrupten philippinischen Minister. Jede dieser drei Geschichten hat einen Anfang (ein Rätsel), eine dramatische Handlung (der Prozess der Aufklärung mit Fortschritten, Rückschlägen und Triumph) und ein überraschendes, aber ganz und gar logisches Ende, das jedes Element der jeweiligen Geschichte notwendig braucht, wie sich dann zeigt. Dass Marshall dann auch noch die Geschichten Nummer zwei und drei so terminiert, dass sie bruchlos in die Handlung von Nummer eins einmünden, das ist dann eine Stern- und Lehrstunde in Erzähltempo und Erzählökonomie – weit über das Genre Kriminalroman hinaus.
Ein Klassiker ist Manila Bay aber auch, weil hinter dem ganzen gebündelten Irrsinn, hinter einbeinigen Kampfhähnen, Stinkbomben und Kopfjägern mit Plastikbeilchen, und hinter der rasend schnell geschnittenen Erzählhaltung aus äußerem und innerem Mono-, Dia- und Polylog etwas sehr Seltenes lauert: ein ganz und gar klassischer Kriminalroman, in dem Helden Verbrechen aufklären und in dessen literarischer Verwebung alles auf dieses eine Ende hin angelegt ist. Marshall ist klassischer, als Agatha Christie es je war.
Damit hat er auch gleichzeitig den Beweis geliefert, der Schubladendenkern quer liegen mag: Die klassische Form des »Whodunnits« ist keineswegs an langweilige, schrumpf- und pseudorealistische Prosa, an uninteressante Geschichten über uninteressante, papierne Leute an papiernen Plätzen und Orten gebunden. Er muss auch nicht Scheinkonflikte behandeln (wer hat Onkel Edwin umgebracht?), sondern kann die Zeitgeschichte – wie hier den Vietnam-Krieg – ernst nehmen. Dadurch bekommt Marshalls traurige Ballade von den Boatpeople eine tragische Dimension, die wiederum verbietet, die komischen Momente des Buchs als reines Geblödel abzutun. Weil man sich aber prächtig unterhält bei der Lektüre, landet noch ein schwerer Schlag auf dem digitalen Weltbild: Unterhaltung kann zwar Fun sein, aber nur, wenn eine Portion Nightmare vor der Blödigkeit schützt.
IV
Natürlich erschöpft sich »der Kriminalroman« nicht im noch so gut gemachten Whodunnit. Womit weiterhin der ideale Kriminalroman nicht zu haben ist – auch von William Marshall nicht. Aber er geht garantiert in die Richtung, die der wanderfreudige Australier vorgegeben hat.
Thomas Wörtche