Tschingis Aitmatow wurde am 12. Dezember 1928 im Ail (Dorf) Scheker in Kirgisien geboren. Damals war die Schriftsprache Kirgisiens gerade vier Jahre alt: Über Jahrhunderte hat das Nomadenvolk seine Mythen und Märchen von Generation zu Generation weitererzählt. Er wuchs in den Traditionen seines Volkes auf, lernte dabei neben seiner Muttersprache Kirgisisch schon früh Russisch; die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten der beiden Sprachen stehen dabei bei ihm in einem produktiven Spannungs-verhältnis zueinander. 1937 wurde sein Vater Opfer der stalinistischen ›Säuberungen‹; die Familie zog aus der Stadt zurück ins Dorf, wo Aitmatow in der Obhut der Großmutter unter den kirgisischen Bergnomaden aufwuchs, deren Weltsicht und Alltagsleben noch ganz im Zeichen der überlieferten Mythen und Märchen stand.
Nach Kriegsbeginn musste Aitmatow 1942 die Schule verlassen und verschiedene Funktionen in der Verwaltung des Dorfes und des Kreises übernehmen. »Der Krieg dauerte an und das Leben erschloss mir, dem Jüngling, immer mehr und neue Seiten im Dasein des Volkes. All dies hat viel später in den Novellen Aug in Auge, Der Weg des Schnitters, teilweise auch in Dshamilja und Du meine Pappel im roten Kopftuch Gestalt angenommen.« Nachdem er 1946 den Abschluss der 8. Klasse nachgeholt hatte, studierte er am Tierveterinär-Technikum in Dshambul, dann am Kirgisischen Landwirtschaftlichen Institut Frunse (heute: Bischkek). Von 1953 bis 1959 arbeitet Aitmatow als Tierzüchter auf einer Versuchsfarm; in dieser Zeit beginnt auch seine journalistische und literarische Tätigkeit. Er schreibt sowohl Kirgisisch als auch Russisch. Aitmatows literarische Vorbilder sind Dostojevskij, Tolstoj, Tschechov und Gorkij. Diese russische-realistische Tradition verknüpft Aitmatow mit Themen und Formen der von ihm sehr geliebten kirgisischen Literatur, deren schönstes Werk, das Manas-Epos, er als sein »Heiligtum« und »würdiges Symbol des Volkes« bezeichnet. Dieses bis 1885 mündlich tradierte Epos handelt von den ruhmreichen Taten des Helden Manas und seiner vierzig Getreuen, die die Unabhängigkeit des kirgisischen Volkes verteidigen. In diesem Epos sind ethische Werte idealisiert, die zwar aus einer feudal-patriarchalischen Gesellschaft hervorgegangen sind, von Aitmatow jedoch als dauerhaft gültig und wichtig eingeschätzt werden. 1956 belegte Aitmatow einen zweijährigen Lehrgang für junge Autoren am Gor`kij-Literatur-Institut in Moskau; als Abschlussarbeit verfasste er 1958 den Kurzroman «Dshamilja», dessen internationale Verbreitung Louis Aragon mit dem Lob, es sei »die schönste Liebesgeschichte der Welt«, sehr förderte. Anschließend arbeitete er als Chefredakteur der Zeitung Literaturnaja Kirgizija (Literarisches Kirgisien), war Redaktionsmitglied der Literaturnaja gazeta (Literaturzeitung) und Vorsitzender des kirgisischen Filmverbandes; 1958 bis 1963 war er Korrespondent der Zeitung Pravda in Kirgisien, ab 1974 zudem Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Kirgisien.
Aitmatow wollte eine humanistische Literatur schreiben, in deren Mittelpunkt der arbeitende Mensch steht und die auch – in begrenztem Rahmen – kritisch sein muss: »Nichts ist unserer Literatur fremder als Selbstzufriedenheit. Sie registriert ja nicht nur die fruchtbaren Veränderungen im Leben und unsere Vorwärtsbewegung auf ein hohes Ziel hin, sondern ist berufen, die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse an Hand von Menschenschicksalen zu erforschen, um zu zeigen, welche Anstrengungen nötig sind, damit sich das Neue durchsetzt.«
Zu Beginn seines Schaffens hielt sich Aitmatow eng an die durch den Sozialistischen Realismus definierte Poetik: Er stellte soziale Konflikte exemplarisch dar, wie z.B. die Rolle der Frau in der im Umbruch begriffenen patriarchalischen Gesellschaft, oder den Gegensatz von Kollektiv und Individuum. Die Erzählungen und Kurzromane (russ. Povest) spielen fast ausschließlich in Kirgisien, dessen Natur er immer wieder beschreibt, und zeugen von seinen auf eigener Erfahrung basierenden Detailkenntnissen der Lebens- und Arbeitsbedingungen und der Mentalität der Bevölkerung auf dem Lande. Die Handlung spielt meist in der Gegenwart, was ihm erlaubt, Ereignisse der Zeitgeschichte bis zurück zum Zweiten Weltkrieg zu integrieren. In den Siebzigerjahren veränderte sich Aitmatows Poetik stark durch die Einbeziehung von mythischen Zitaten in die realistische Erzählung. Die Einarbeitung vor allem kirgisischen Epen, Sagen und Legenden hob das national Spezifische hervor, er dehnte dabei aber seine Themen auf allgemein-menschliche, philosophische und ethische Fragen aus, das präzise beobachtete Lokale wird universal: »Jeder schreibende Mensch muss zumindest in Ansätzen über eine philosophische Lebenseinstellung verfügen. Ich sehe keine Schwierigkeit, das Leben, den Alltag, in einem realistischen Stil darzustellen. Allem Menschen haben ja heute eine Aufgabe, sind mit irgendetwas beschäftigt, und deshalb krankt die moderne Literatur an »Erbsenzählere«. Eine philosophische Behandlung erlaubt es dagegen, sich über den Alltag zu erheben und verhindert, auf das Niveau von Reportagen abzugleiten. Der philosophische Ansatz verleiht der Kunst des Schriftsellers ihren eigentlichen Sinn.« Aus der Fremdheit der Stoffe, der Exotik der nationalen Elemente – Beschreibungen von Sitten und Gebräuchen, Volksliedern und -literatur – bezieht Aitmatows Literatur einen Großteil ihrer Faszination.
Parallel zu seiner literarischen Karriere entwickelt sich auch seine politische: 1966 wurde Aitmatow als Abgeordneter des obersten Sowjets gewählt, 1989 wurde er Mitglied des Volksdeputier-tenkongresses der UdSSR, Ende 1989 erhielt er die Berufung in Gorbatschevs Präsidialrat. Im November 1990 erfolgte die Bestellung zum Botschafter der Sowjetunion, nach dem Zerfall der Sowjetunion – der GUS und Kirgisiens in Luxemburg. In einer Ende 2000 in Kirgisien durchgeführten Umfrage wird Aitmatow an dritter Stelle in der Liste der populärsten Politiker genannt.
Im Westen fand Aitmatow seine Gemeinde zunächst als ›literarischer Ökologe‹. Sein Übersetzer Friedrich Hitzer interpretiert dies mit den Worten: »Im Mittelpunkt stehen die ewigen Dramen um liebe und Tragödie, um Sinn und Würde der menschlichen Bestimmung in Natur und Schöpfung.« Um Wege zu finden, Natur und Schöpfung zu schützen, organisierte Aitmatow 1987 erstmals des Issyk-Kul-Forum am gleichnamigen kirgisischen See, einem warmen Gewässer vom achtfachen Ausmaß des Bodensees. Weitere Foren sollen alle zehn Jahre stattfinden.
Tschingis Aitmatow hat für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten: Leninpreis für Povesti gor i stepej (Kurzromane der Berge und der Steppen) 1968; Staatspreis der Sowjetunion für Abschied von Gülsary (1968); Staatspreis für Der weiße Dampfer (1977); Kirgisischer Staatspreis für Frühe Kraniche (1977); Titel Held der sozialistischen Arbeit (1978); Staatspreis für Der Tag zieht den Jahrhundertweg (1983); Friedrich-Rückert-Preis der Stadt Schweinfurt (1991); russischer Orden Drushba narodov(Orden der Völkerfreundschaft, 1998).
»Die europäische Zivilisation in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen gibt mir die Möglichkeit, viele Dinge in der Dimension größerer Zusammenhänge zu sehen. Das verhilft zu einer plastischen Sicht unserer Gegenwart, die für die Entstehung neuer Ideen, Bilder und Sujets unabdingbar ist. Deshalb habe ich den von mir eingeschlagenen Weg nie bereut.«
Aus: Zentralasiatische Nachrichten, 10.07.2000