Es ist ein ungewöhnlicher Teppich, den er sich an eine Wand im großen Zimmer der Wohnung in Frunse gehängt hat. Farbenreiche Muster jener alten Kunstfertigkeit aus den Ländern, wo es nach dem Willen des Propheten keine Bildnisse und kein Theater hat geben dürfen. Wo mag dieser Teppich nur herstammen? Er scheint dicht geknüpft, doch das übliche Gütemaß zählt hier nicht, außergewöhnlich ist das Bildnis, streng genommen ein Sakrileg, der Mensch soll sich ja kein Ebenbild von sich und seinesgleichen machen. Aber der Mann, der dem Betrachter gleichsam entgegenragt, heraus will aus den Mustern des bloß Dekorativen und der ihn kaum noch haltenden farbigen Wollknoten, hält mich im Bann, dabei bräuchte ich mich gar nicht mit der Kopie auf dem Teppich zu begnügen, der Abgebildete sitzt ja neben mir, hat mich an seinen Tisch zum Essen eingeladen, da gibt es allerlei Leckeres, speziell die vergorene Stutenmilch: Der Kumys aus dem Heimatort Scheker, den ihm ein Landsmann mitbrachte, der Kumys hat, wie sich das gehört, in der Nacht zuvor gegärt. Aber ich lasse mich von dem Orientteppich ablenken, von dieser ausgefallenen Gestaltung des Erzählers Tschingis Aitmatow, denn was er trägt, fällt sonst nicht auf – die übliche europäische Kleidung: Anzug, Hemd und Krawatte. Was soll aber diese Darstellung, ja, dieser Stilbruch, bedeuten? Eine Ohrfeige für den orthodoxen Muslim? Den Teppichknüpfer hat das wenig gekümmert. Er verknüpfte mit seinen Knoten eine Spannung zwischen dem Morgenländischen und dem Abendländischen …
Aitmatow hat meine neugierigen Blicke aufgefangen. »Das ist ein Geschenk aus dem Kaukasus«, meint er. »Ich mag das gerne, für den orientalischen Teppichknüpfer ist das ein Symbol.« Und ich ertappe mich dabei, ob ich das schon mit der leichtfertigen Ironie des Europäers beäuge, und dann bin ich mir plötzlich fast sicher: Die Geschichte ist es, die hier ihre Ironie einbringt, und sie hat mit uns Europäern zu tun. Die naive Darstellung des kaukasischen Teppichknüpfers bringt Verehrung an den großen Erzähler aus Kirgisien zum Ausdruck, und der Betrachter aus Europa hat zu erkennen, dass Tschingis Aitmatow für den Kaukasier aus dem Traditionsgefüge des Orientalischen ausgebrochen ist, Aitmatow tritt ihm im Gewand des Abendländers entgegen und haftet dennoch in bewährten und festen Mustern. Aber wie steht es mit unseren Sichtweisen? Verstellen uns nicht die angelernten Spielregeln des Eurozentrismus den Blick für das Wesen einer zunächst anders erfahrenen und anders gestalteten Welt, weil wir sie nämlich so gut wie gar nicht kennen? Weshalb man sich den Erzähler Tschingis Aitmatow so oft als etwas Exotisches zurechtschneidert, er hat uns die Träume aus Scheker zu liefern, die Legenden, Mythen und Märchen aus dem orientalischen Faszinosum zu bieten, wie man das von Dshamilja und dem Weißen Dampfer, von Frühe Kraniche und Abschied von Gülsary gewöhnt ist. Und wehe, der Erzähler verlässt die erträumte Exotik, wie in den jüngsten Prosawerken, dann ziehen die Wächter des Abendlandes auf. Getreu dem Spruch »Schuster bleib bei deinem Leisten« mahnen sie: Tschingis, bleib bei deinen Schafen und den Tschabans, bleib bei den alten Strickmustern. Und da ist die Reaktion fast gleich, ob in Moskau oder Köln, ungehalten wird angekreidet, wer auf welche Weise welches Thema berühren darf oder nicht. Doch zumeist lassen solche Verdikte nur durchblicken, wie wenig sich ihre Verkünder an die Zeilen im Buch des Unmuts aus dem westöstlichen Divan erinnern mögen:
Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.
Wollen wir uns also etwas in des Dichters Land umblicken. Kirgisien. Oder Kirgistan. Und auch Kirgisistan. Aitmatow-Land würden heute gar nicht wenige sagen. Immerhin sind seine Erzählungen, Novellen und Romane in rund neunzig Sprachen der Welt übersetzt. Er teilt mit einem Wahlverwandten vom anderen Ende des Globus, mit Gabriel García Márquez, eine weltweite Leserschaft, die zunächst ohne Kritik und Philologie ihren Erzähler entdeckt hat. Hier haben nicht das Feuilleton und der Literaturbetrieb die Kunst zum Publikum gebracht, sondern umgekehrt haben die Lesenden die Bücher vor dem Betrieb in Besitz genommen. Es erwies sich, was Alfred Andersch immer wieder betonte: Das kundige Lesepublikum ist allenthalben besser als der Literaturbetrieb. Noch 1985, als Tschingis Aitmatow erstmals die Bundesrepublik Deutschland bereiste, fragten leitende Redakteure von Funk, Fernsehen und Presse, verwundert über die fiebernde Anteilnahme an Tschingis Aitmatow: Wie bitte? Wer soll das sein? Nie gehört. Und woher ist der?
Kirgisistan. Noch vor wenigen Jahrzehnten kaum mehr als ein geografischer Begriff. In den letzten zwei Jahrzehnten ist es Tschingis Aitmatow mit seinem Werk gelungen, den geografischen durch einen kulturell-geistigen Begriff zu ersetzen. Von Anfang an hat seine Prosa die Gemüter erhitzt und heftiges Für und Wider hervorgerufen. Ist uns jedoch voll bewusst, was hier geschah? Ahnen wir die Dimensionen der Zeit und des Raumes, in denen Aitmatows Werk und Wirken angesiedelt sind? Wie verhält sich seine wirkliche Welt zu der Welt unserer so mannigfaltigen Fantasie? Wo Danijar und Dshamilja zu Hause sind. Der erste Lehrer seine Schule immer wieder aufbaute. Wo der Maral und der Milan die Menschen wie Menschenkreaturen beobachten. Wo der Passgänger Gülsary leidet, als sei er ein abgehalfterter Arbeitsloser. Wo auch eine Wölfin träumen kann und blaue Augen hat, was bei Wölfen aber tatsächlich nicht vorkommt. Wie sah die Welt dort aus, wo der Gestalter jener markanten Wesen, die auch Teil unsrer Welt geworden sind, als Sohn des Torekul geboren wurde, im Dorf Scheker am Fuß des ewig schneebedeckten majestätischen Manas-Ata? Wo Torekul Aitmatow den ersten Tunnel in schwer zugängliches Gebiet miterbaute, ohne zu ahnen, was das alles nach sich ziehen würde, nämlich die stürmische Veränderung der Lebensweise, die scheinbar über Jahrtausende unverändert geblieben war. Wo aber das Gedächtnis nicht weniger Menschen unglaublich geschärft blieb, wie auch ihre Gabe zu erzählen. Wo Torekul Aitmatow dem Sohn den Namen Tschingis gab, der einst so viel Schrecken verbreitet hatte unter den Stämmen zwischen dem Tschienschan und dem Alatau, dem Issyk-Kul und dem Talas-Tal. Auf jeden Fall hatten weder der Vater noch die Mutter vor so einem Namen Scheu gehabt, denn unter Kirgisen wusste man ja sehr wohl, dass der zweite Sohn des Tschingis Khan im 14. Jahrhundert vergebens versucht hatte, das Gebirgsvolk zu unterjochen, wie es so viele andere über die Jahrhunderte ebenso vergeblich unternommen haben, den Kirgisen ihre Freiheit und ihr Selbstbewusstsein zu nehmen.
Sind wir uns all dessen gewärtig, wenn mir mit den Figuren der Welt Aitmatows umgehen, mit ihnen Freud und Leid teilen? Denke ich daran, wenn ich meinen Hausberg, die Benediktenwand der Tölzer Alpen und ihre rund 1900 Meter Höhe erwandert habe, dass dort, im Aitmatow-Land, das Gebirge bei dieser Höhe erst anfängt? 93 Prozent Kirgisistans bestehen aus Gebirge, die halbe Fläche liegt über 3000 Meter hoch, drei Viertel des steinigen, steppigen, trockenen Bodens liegt höher als 1500 Meter – da liegt das kirgisische Flachland also knapp unter meinen nahen bayerischen Alpengipfeln. Und was für ein Gestein bergen dort die Gebirgsmassen! Schwarzen und grauen Schiefer, Marmor so weiß und rein wie der von Carrara, Gneis, Granit und Porphyr und kostbare Metalle wie Quecksilber und Zinn, Wismut und Antimanit. Betörend rauh ist die Oberfläche. Trockene Bergsteppen, die sich hinziehen bis zu 4000 Meter Höhe in Übergängen von subalpinen und alpinen Wiesen, denen dann die Welt der Firne und Gletscher folgt. Selten entdeckt dort das Auge des alpengewohnten Wanderers über den eiskalten, blaugrauen Gebirgsflüssen den zusammenhängenden Waldgürtel aus Fichten, Tannen, Föhren, nein, nicht mal Wiesen mit Latschen, hier breitet sich statt der sanften Almen und des rauschenden Bergwaldes von Adalbert Stifter weglose Unendlichkeit aus, in die wie von Wunderhand da und dort ein saftiger Weidedshajloo für Boston und Ernasar eingesprengt ist. Trunken machende Düfte von Gräsern und Wacholderbäumen würden dich dort, wenn du den Dshajloo je erreichst, umgeben. Und du fragst dich unwillkürlich, wie und wo haben denn Menschen all die Jahrhunderte gehaust? Doch nicht in den Syrten, jenen ebenen Kältewüsten in der Höhe von rund 4000 Metern, wo schon im Spätherbst die Temperaturen auf 35, 40 Minusgrade Celsius fallen. Doch wohl auch nicht in den Halbwüsten, den Gras- und Buschsteppen. Was bleibt also den rund vier Millionen Bewohnern Kirgisistans, den rund zwei Millionen Kirgisen, den Kasachen, Russen, Ukrainern, Deutschen, Usbeken, Tataren, Tadschiken und den Menschen anderer Nationalitäten, die sich dort, in einem schwer zugänglichen Teil des mittelasiatischen Subkontinents, niedergelassen haben? Täler, nur eine Handvoll Täler. Rund 25 Prozent der Einwohner Kirgisiens leben und arbeiten in den Städten, davon wieder über die Hälfte in Frunse und Umgebung, das ist der Norden. Dann finden sich Siedlungsgebiete im Südwesten, im Ferganabecken und schließlich im nordwestlich gelegenen Talas-Tal, wo in Scheker, dem Ail mit seinen heute rund dreitausend Menschen, Tschingis Torekulowitsch Aitmatow vor sechzig Jahren, nämlich am 12. Dezember 1928, geboren wurde. Mit dem Tschuja-Tal sind diese drei Täler die einzigen Gebiete Kirgisiens, die 1500 Meter Höhe nicht übersteigen. Sie stellen das Terrain für die Bewirtschaftung, heute rund 40 Prozent Landwirtschaft und etwa 60 Prozent Industrie. Die meisten der achtzig Städte, abgesehen von Pischpek, dem heutigen Frunse, sind erst in den sowjetischen Jahren entstanden, also seit der Zeit, da 1924 zunächst das Karakirgisische Gebiet, sodann 1926 die Kirgisische Autonome Sowjetrepublik und danach, ab 1936, die Kirgisische Sozialistische Sowjetrepublik ins Leben gerufen wurden.
Wenn wir uns diese Dimensionen vor Augen halten, die von Natur und Entwicklung vorgegeben sind, dann ist es nur zu verständlich, wie stark der Menschenschlag zu sein hatte, wenn er sich dort behaupten wollte. Noch am Anfang unseres Jahrhunderts waren viehzüchtende Nomaden ihre ewigen Wege gezogen, im Sommer hinauf in die Gebirgstäler, zu den grünen Dshajloos, im Winter zurück in die tiefer gelegenen Niederungen. Gebirgsnomaden, ja, aber was heißt das schon? Was wissen wir von diesem alten Volk aus dem Stamm der Saken und Ussunen? Von ihren Kämpfen um Freiheit und sprachlich-kulturelle Identität? Die Stämme sind geschützt und zugleich eingeklemmt von den Bergriesen des Chan-Tengri mit seinen rund 7000, dem Pik Pobeda mit den etwa 7500 Metern. Vom Terskai-Alatau im Süden zu China hin und den Gebirgskämmen des Kokschaaltau.
Nomadenstämme – unter den Gewalten nur Winzlinge – haben inmitten der Berggiganten auch gegen die Feudalreiche zu bestehen, die sie von allen Seiten umgeben und bedrohen. Da gab es das alte chinesische Reich im Süden und Südosten, das türkische Khanat im Westen und Südwesten, das Reich Sogdiana mit Scheherazades Fantasie und der Pracht der sesshaften Kultur von Buchara und Samarkand, und da war das Reich der Karachaniden. Sie alle hätten ihnen ihren Willen, ihre Sitten und Gebräuche aufdrücken, vor allem die eigene Sprache nehmen und die der Eroberer aufzwingen können. Ungezählt sind die Kämpfe über die Jahrhunderte. Und der Schutz dieser gewaltigen Natur fordert seinen Tribut, der Kampf ums Überleben scheint gnadenlos. Aber sie ließen sich nicht zu Mankurts machen: Über Jahrhunderte hinweg erhalten sich die Kirgisen Wunderwerke der Wortkunst. Sie zeugen davon, dass sie den Stürmen über Asien trotzten und auch dann nicht aufgaben, als sich Europa, in Gestalt des imperialen Russland im 19. Jahrhundert, das Gebiet Fergana im Vertrag von 1868 angliedert. Angesichts all dessen spiegelt, ein halbes Jahrhundert später, die russische Oktoberrevolution einen uns Europäern wenig bekannten Aspekt, denn die heftigen Erschütterungen des russischen Zarenreiches im europäischen Zentrum gehen einher mit denen an der Peripherie, zum Beispiel im mittelasiatischen Aufstand 1916, wo sich die Turkvölker der Kasachen und Kirgisen gemeinsam mit anderen erheben. Und die weißen Truppen des russischen Generals Koltschak, noch ganz in den Traditionen des europäischen, hier des russischen Kolonialismus, mühen sich vergebens ab – wie andere in den Jahrhunderten zuvor –, den Aufstand der Sanftmütigen niederzuringen, wie die deutsche Übersetzung des Romans über diese Kämpfe von Muchtar Auesow heißt. In seiner Hommage an Muchtar Auesow, den klassischen Erzähler aus dem Brudervolk der Kasachen und einem seiner wichtigsten Lehrer, hält Tschingis Aitmatow eben das fest als die Voraussetzung für die weitere Existenz der Turkvölker Mittelasiens: »Nur für dieses eine Moment, dass die in Russland entstandene Oktoberrevolution den imperialen Kolonialismus zerstörte und damit unsere Völker vor dem physischen Verschwinden errettet hat, bin ich bereit, die Revolution bis ans Ende meiner Tage zu rühmen, meinen Kindern und Kindeskindern zu vermachen, was sie für den Ursprung unserer Tage zu halten haben – den Oktober!«
Im östlichen und mittleren Kirgisien gibt es Gegenden, die so dünn besiedelt blieben, dass dort die Vorstellung von einem Einsiedlerhof schon an eine stattliche Menschengemeinschaft denken lässt, so gottverlassen öde ist dort die Erde – nur eine Person zählt die Statistik für den Quadratkilometer. Doch die menschenleere Weite der Gebirge und Schluchten einerseits und die Menschenabgeschiedenheit andererseits lassen erahnen, welch unermessliche Rolle hier das gesprochene und erinnerte Wort bedeutet haben muss. Welches Bedürfnis nach Mitteilung und Bewahrung des Erlebens vorliegen muss, wenn sich die so weit verstreuten Angehörigen der umherziehenden Stämme zusammenfinden, wenn sie dem Akyn lauschen, dem Volkssänger, der anhebt, stundenlang, tagelang, wochenlang aus den epischen Überlieferungen des Volkes zu rezitieren. Bei brütender Sonne, bei Wind und Regen, bei Graupel und Schnee. In seinem Essay über einen der letzten großen Rhapsoden der Kirgisen, über Sajakbaj Karalajew, der seine Verse mit Mimik, Gesten und wechselnden Lagen der Stimme zu Gehör und Gesicht brachte, teilt Tschingis Aitmatow mit, welche Erzählkultur zur Tradition der Kirgisen gehörte. Dies höre ich als Echo im schlichten Satz von Tschingis Aitmatow: »Die Sprache ist das Selbstporträt eines Volkes.«
Im Zeitalter der elektronischen Medien ist Aitmatows Vertrauen auf das Wort ungebrochen, denn sein Wort ist weitaus mehr als literarische und rhetorische Kunstfertigkeit. Die alten Traditionen mit ihrer Fülle des Dramatischen und Tragischen, des Gedanklichen und Emotionalen verbinden sich schon in Aitmatows Kindheit mit Erfahrungen der neuen Dramen und Tragödien, die den Anhängern der sozialistischen Weltrevolution in der Generation seines Vaters als endgültig überwunden galten. Tschingis Aitmatow hat sich über die Tragödie des Vaters Torekul und dessen Brüder Ryskulbek und Alemkul erstmals 1987 öffentlich geäußert. Drei kirgisische Brüder – Bolschewiki der Revolution – wurden 1937 gemordet, wie die meisten Revolutionäre der ersten Stunde – es war der wohl tiefste Einschnitt im Leben des damals neunjährigen Tschingis Torekulowitsch, der Mutter, des Bruders, der Schwestern und aller mit ihnen verbundenen Menschen, und ist wohl auch nicht ohne Einfluss auf sein Werk geblieben.
Wie bedrückend der Gedanke, dass schon vier Jahre später die nächste Tragödie folgte, die aus Deutschland kam. Und der junge Tschingis Torekulewitsch musste die Schule aufgeben, um anstelle der eingezogenen Männer für den Dorfsowjet tätig zu werden. Für mich bleibt die eine Tragödie mit der anderen auf entsetzliche Weise verknüpft.
In der Statistik des puren Fortschritts, die nie erzählt, was Menschen an wertvollem Alten verlieren, wenn sie unverzichtbar Neues gewinnen, lesen wir: Vor rund neun Jahrzehnten bestanden die Kirgisen aus über 95 Prozent Analphabeten, heute gibt es keinerlei Analphabetismus mehr. Aitmatow hat gerade in der jüngsten Zeit die Unzeitmäßigkeit bestimmter, noch vor Kurzem vielleicht beeindruckender Relationen des Fortschritts kritisiert, vor allem wenn man damit von neuen Problemen und Konflikten ablenken möchte. Das bedeutet freilich nicht, dass Aitmatow einer Nostalgie fürs Alte anhängt, wie ihn manche auch bei uns sehen möchten und ganz erschrocken reagieren, wenn er sich für seine Heimat bessere Straßen, effektiveren Flugverkehr und mehr Komfort wünscht. Nein, es geht um einen Aspekt zwischen seinem, an die gedruckte Form gebundenen Wort und der mündlich weitergereichten Form des Erinnerten und Gesprochenen.
Die Kirgisen verfügten bis in dieses zwanzigste Jahrhundert über die älteste Form der Literatur in einer unvergleichlichen Fülle von Beispielen. Während das Epos anderswo längst seine Funktion eingebüßt hatte – von Homers Ilias und Odyssee bis zu den Epen und Sagen Europas wie dem Parsifal, dem Beowulf, dem Igorlied, den Nibelungen usw. –, lebten in der Überlieferung der Kirgisen bis in die jüngste Vergangenheit fünfzehn sogenannte kleinere Epen, die an Umfang und Vielfalt in der Weltliteratur ihresgleichen suchen. Um schon gar nicht vom ozeangleichen Manas mit seiner Million an Verszeilen zu sprechen. Zu den Kleinepen gehören Kodshodshasch, das älteste Epos über den Jägermenschen, seine Ehrfurcht vor der Natur und seinem Ringen mit den Naturgewalten, um sich und seine Art zu erhalten, wo jedoch schon das Thema im Mittelpunkt steht, dass dieser Kampf nie um den Preis der Ausrottung anderer Arten geführt werden dürfe. Da gibt es auch die lyrische Mär von Odshobaj und Kirchimidshan, eine Art Steppendrama à la Romeo und Julia, dann den Kedej-Khan, eine alte Sozialutopie des armen Khan, der sich sein Glück und Recht nicht nur ersehnt, sondern dafür auch den Kampf wagt. Diese Epen liegen in Kirgisien nicht in dunkler Vergangenheit – der Manas und zehn der fünfzehn kleineren Epen sind erstmals in den sowjetischen Jahren aufgezeichnet worden –, diese epische Tradition der Kirgisen ist also nicht allmählich aus der literarischen Überlieferung entschwunden, sondern dort hat sie die Woge der Revolution mit dem Schriftgut aus aller Welt mitgenommen. Tschingis Aitmatow hat das noch hautnah zu verspüren bekommen und den Grundgedanken jener Dichtungen über die Schöpfung erlebt: »Alles hängt von allen und allem ab, womit man sich auch befassen mag.« Hier ist jedwede Kreatur mit Leben beseelt und dem »Ailampa« ausgesetzt – den Kreisläufen des Lebenden und des Geschichtlichen.
In Kirgisistan ist das einst nur gesprochene und memorierte Gut der Vorfahren, die noch nicht Mittel und Anlässe hatten, sich über eine Schrift zu verständigen, die deswegen Unglaubliches memorierten, um ja nicht zu vergessen, woher sie kamen und wer sie waren und wofür sie, auch den Nachkommenden zuliebe, da zu sein hatten, dort ist jenes Gut auch gegen Widerstände von linksradikalen Superinternationalisten aufbewahrt worden. Und daher die Empfindsamkeit Aitmatows für das Wort: »Die Welt lebt in einem Sprachenkosmos. Die Ökologie der Sprachen, die einst historisch aufgekommen war, ist ebenso kompliziert und zerbrechlich wie die Natur.«
Tschingis Aitmatow hatte das Glück, ein Weltwunder von mündlicher Sprachkultur zu beerben, das in scheinbarer Abgeschiedenheit heranwuchs, und er hat das Gut in ganz neuer, eigener Weise vermehrt. Er hat es nicht bloß kopiert, Aitmatow ist kein Berufskirgise, kein regionalistischer Eigenbrötler. Wie oft haben ihm selbsternannte Wächter der Turkvölkertradition vorgeworfen, die Volksmythen mutwillig umzudichten. Ganz bewusst hat Aitmatow neu erdichtet und erzählt, auch das Überlieferte. Noch in der Generation des Vaters hatte der Dichter Toktogul gewirkt, ein Genie der kirgisischen Wortkunst. Toktogul wollte andere Aufgaben erfüllen, Toktogul kümmerte sich nicht darum, was mit seinem Werk jenseits der Gipfel des Alatau geschah, Toktogul, geprägt von der vorrevolutionären Phase in Mittelasien, stand noch im Dienst der kulturellen und sozialen Selbstbehauptung eines bedrohten kirgisischen Volkes. Die Revolution hatte ja die erste Rettung des Volkes gebracht, und Aitmatow konnte die Tradition der alten Barden schon nicht mehr genügen. Daran sei erinnert, wenn ihm am Beispiel des Romans Der Richtplatz ungehaltene Wächter der europäischen Tradition vorhalten, dass es mit seinem Glauben und seiner Bibelfestigkeit hapern würde. Weitaus heftigeren Angriffen war Aitmatow ausgesetzt, als der Weiße Dampfer veröffentlicht wurde, habe er doch angeblich die Mythologie der Kirgisen und überhaupt Mittelasiens missbraucht. Und die Einwände der Kritiker aus Asien und Europa waren sich nicht unähnlich.
Die jüngsten Auseinandersetzungen in der Sowjetunion lassen erkennen, dass die große Hoffnung, die der Oktober 1917 gebracht hatte, später wiederum in den Kreislauf des Tragischen zurückgeholt wurde, den Tschingis Aitmatow in seiner Erzählkunst, bewusst oder unbewusst, schon früh erfasst hatte und immer tiefer auslotete. Auch der Publizist Aitmatow hat schon vor der Periode, die mit Glasnost umschrieben wird, auf etliche Widersprüche aufmerksam gemacht, vor allem auf das zerstörerische Zwillingspaar – in den Worten Aitmatows: Auf den »nationalen Nihilismus« einerseits, der alles eigene im Namen des »Superinternationalismus« auslöschen möchte, und den »nationalistischen Hochmut« andererseits, der sich über alles andere und alle anderen Völker stellt –, diese Widersprüche sind uns ja aus so vielen Nachlässen des europäischen Kolonialismus geläufig.
Dennoch bleibt ein Phänomen besonderer Art, das ist die Sprache, der sich Tschingis Aitmatow bedient, worauf er wiederholt selbst hingewiesen hat. In sein Erbe münden nicht nur die Ströme einer uralten Kultur von Sesshaften und Nomaden der Steppen und Städte, der Gebirge und Wüsten Mittelasiens. Mit der Oktoberrevolution setzte für Mittelasien die Erschließung der europäischen Nationalkulturen durch die Brücke Russland ein. Hier hat die russische Kultur die engste Begegnung zwischen Orient und Okzident geschaffen. Denn erst im 20. Jahrhundert erschloss sich Mittelasien neben der russischen Klassik auch Dante, Shakespeare, Cervantes, Goethe und Balzac, um nur einige Namen zu nennen. Alle publizistischen Äußerungen Aitmatows über Werke und Verfasser der Weltkultur sind immer aufs Engste verbunden mit seinen Lehrjahren in russischer Kultur, das bezeugen seine Äußerungen über Tolstoi, Dostojewski, Gorki, Schostakowitsch.
Die sowjetischen Jahre, die Angehörige seiner Generationen erlebten und durchmachten, umschrieb Aitmatow als »Übungsgelände des Internationalismus«. Das ist bei ihm kein Schema, sondern Teil seines Lebens und seines Wirkens. Aitmatows Weg zur Welt ist nicht denkbar ohne das Tor der großen russischen Literatur und des wissbegierigen russisch lesenden Publikums.
Bei allen bisherigen Begegnungen mit dem hiesigen Publikum wird Tschingis Aitmatow danach gefragt, in welcher Sprache er nun schreibe. Das ist bei ihm nicht nur eine Frage des Handwerklichen. Auch seine Sprache ist ein Selbstporträt. Am Anfang steht die Episode, die Tschingis Aitmatow des Öfteren erzählt hat, wie er als Fünfjähriger für die Hirten von Scheker und den von weit her gereisten russischen Tierarzt dolmetschte, da ja niemand außer ihm selbst kirgisisch und russisch sprechen konnte. Dieses Erlebnis setzte wohl einen beherrschenden Akzent für Leben und Wirken von Tschingis Aitmatow. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass in seinen Reden, Essays und Dialogen die Zweisprachigkeit eine so herausragende Rolle für sein Verständnis von Nationalkultur und Internationalismus, planetarischem und provinziellem Denken spielt, dies zieht sich wie ein roter Faden von den ersten öffentlichen Äußerungen bis in die allerjüngste Zeit. Vielleicht finden sich gerade in diesen, in die Tiefe gehenden Gedanken Aitmatows plausible Erklärungen für die Gründe der explosionsartig aufgebrochenen Widersprüche einer bislang als gelöst geltenden Nationalitätenfrage im Vielvölkerstaat Sowjetunion, die er ja in einigen früheren Äußerungen ebenfalls als etwas eher nur Harmonisches dargestellt hat.
Doch zwei Sprachen zu sprechen und in zwei Sprachen gleichermaßen ausdrucksvoll Prosa zu verfassen, sind bekanntlich zwei Paar Stiefel. Bei Konferenzen mit Schriftstellern aus Afrika und Asien hat Aitmatow wiederholt auf die Bedeutung der Bilingualität in der Literatur unseres Jahrhunderts hingewiesen und dabei auch bestritten, dass es ein Gesetz gebe, wonach sich ein Mensch nur in seiner Muttersprache künstlerisch ausdrücken könne. Was würde, so fragte er, dann mit denen geschehen, die dank gewisser Umstände die Chance der Bilingualität nutzen könnten? Vor den Teilnehmern der Afro-Asiatischen Schriftstellerkonferenz in Taschkent 1967 äußerte sich Aitmatow dazu folgendermaßen: »Wie soll sich ein Schriftsteller verhalten, wenn er zwei Sprachen vollkommen beherrscht? Soll er prinzipiell an seiner Muttersprache festhalten oder umgekehrt in seinem Werk völlig auf die zweite Muttersprache umstellen? … Ich schreibe meine Bücher in kirgisischer und russischer Sprache. Wenn das Buch zunächst auf Kirgisisch verfasst wurde, dann übersetze ich es ins Russische wie auch umgekehrt. Dabei beziehe ich die tiefste Befriedigung aus dieser zweiseitigen Arbeit. Es ist eine außerordentlich interessante innere Arbeit des Schriftstellers, die – nach meiner Überzeugung – zu einer Vervollkommnung des Stils und zur Bereicherung der Bildhaftigkeit der Sprache führt.«
Tschingis Aitmatow hat nicht sofort mit dieser Praxis begonnen. Am Anfang hat er das Übersetzen ins Russische anderen überlassen, das gilt zum Beispiel für die Novellen Aug in Auge, Das Kamelauge, Dshamilja und Der erste Lehrer. Bei allen späteren Werken, sowohl in der Prosa als auch in der Publizistik, trifft das zu, was er erstmals 1967 in Taschkent öffentlich erläutert hatte. Auch zwanzig Jahre später finden wir diesen Gedanken wieder, ja Aitmatow verleiht dem den Charakter einer allgemeinen Erscheinung: »Die Zweisprachigkeit sollten wir«, so Aitmatow im Gespräch mit Sergej Anastasjew 1987, »als ein neues historisches Phänomen ansehen, als kulturelle Errungenschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die Kultur der Bilingualität verschafft uns neue Möglichkeiten in der geistigen Entwicklung unsrer Völker. Das werden die zwei Flügel eines Vogels sein.«
Es bleibt noch zu fragen, ob das Übersetzen von derart bewusst in zwei Sprachen gestalteten Werken in dritte Sprachen all das ausschöpft, womit sein Verfasser umzugehen versteht, und dem spannenden Abenteuer entspricht, das der literarische Übersetzer einer dritten Muttersprache erlebt, der das Werk aus der zweiten Muttersprache des Autors überträgt. Doch darüber wäre erst dann nachzudenken, wenn der Übersetzende gleichermaßen das Kirgisische wie das Russische kennt.
Als gewiss kann gelten, dass sich die Sprache Aitmatows ebenso unerwartet wie die Wahl seiner Stoffe entfaltet hat, von verhältnismäßig schlichten Bildern und Abläufen zu komplexeren Strukturen und Konstellationen. Allein die Spannweite im jüngsten Roman Der Richtplatz – zwischen Erhabenem und Gewöhnlichem, im doppelten Sinn beider Ebenen, nämlich in der Ausdrucksweise wie auch in der Moral und den Sprachebenen der dargestellten Figuren, die sich auch erstreckt auf das Politische, Soziale und das Historische, das Milieu von Gesellschaft und die Ökologie von Kreatur und Natur –, all dies ist mit dem, womit Aitmatow einst begonnen hat, nicht mehr zu bewältigen. Wie könnte es anders sein. Aitmatow war sich bei der Evolution seiner Welt und der ihr entspringenden Sprache auch bewusst, bestimmte Leserkreise zu verstören, vielleicht sogar einzubüßen.
Tschingis Aitmatow hat uns jedesmal überrascht, wenn ihn etwas Neues umtreibt, dann gilt für ihn, den Künstler, was Kritik und Wissenschaft auf andere Weise erfahren: »Ich muss mit meiner Sache ins Reine kommen und werde nie die Wohlgeneigtheit des Publikums um jeden Preis anstreben.« Er sagte nicht – ich füge es aber hinzu – Wohlgeneigtheit der Kritik, die sich hüben wie drüben bislang vom Leser relativ rasch eingeholt sah. Von Dshamilja bis zum Richtplatz blieb die Kritik zumeist hinter der Rezeptionsbereitschaft und dem Verständnis des Publikums zurück, dem sich das jeweils Neue eher erschloss als der Kritik.
Doch eines scheint mir sicher zu sein, was unser wissbegieriger Goethe für diese Tradition der Erzählkunst bereits vor über hundertfünfzig Jahren festhielt: »Ferner kostet es dem orientalischen Dichter nichts, uns von der Erde in den Himmel zu erheben und von da wieder herunterzustürzen, oder umgekehrt.«
Aus dem Band Karawane des Gewissens – Autobiographie, Literatur, Politik (Unionsverlag, 1988)
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