In meinem Gedächtnis bewahre ich eine kindliche, bis heute verborgene Erinnerung an meine erste Begegnung mit Dshamilja auf. Knapp über zehn Jahre war ich gewesen, als ich einmal feststellte, wie meine beiden älteren Schwestern sich klammheimlich vor unserer recht strengen Mutter in einer Zeitschrift festgelesen hatten. Sie weihten mich nicht in ihr Geheimnis ein, ich wurde wütend und verpfiff sie bei Mutter. Die sperrte die Zeitschrift auf der Stelle ein, wie sich zeigte, war darin die Novelle Dshamilja abgedruckt. Unsere Mutter konnte nicht lesen, aber am Erschrecken der Töchter konnte sie lebhaft ablesen, dass Dshamilja für Schülerinnen ein gefährliches Stückchen sein musste. Bei uns hat man sich das damals ja so gedacht: Erst einmal heiraten, und dann über die Liebe lesen. Deshalb haben sich Mädchen wie Burschen insgeheim etwa die Märchen von Tausend und einer Nacht beschafft und sie von Hand zu Hand weitergereicht. Eines dieser verbotenen Bücher war für meine Schwestern auch Dshamilja, die wunderbarste und reinste Liebesgeschichte, wie ich später erfuhr, die in erster Linie doch gerade für die Jugend unerlässlich ist.
Einige Zeit später bekam ich zu lesen und zu hören, wie dieser und jener kirgisische Schriftsteller diese Novelle dafür tadelte, dass ihre Heldin eine leichtlebige Frau sei, die ihrem Mann, Frontsoldat und Vaterlandsverteidiger, untreu geworden war. Auch dem Autor selbst wurde übel zugesetzt, er hatte nicht nur Dshamilja nicht verurteilt, sondern auch seine Sympathien für sie unverhüllt bekundet. In jenen Zeiten war es für Tschingis Aitmatow nicht einfach, diese Novelle zu verfechten, die die Freiheit des Gefühls, die Ehre und Würde der Frau besang. Und zuvor hatte er ja noch die Angriffe wegen der Novelle Aug in Auge abzuwehren gehabt, weil darin von einem Deserteur erzählt wurde. Wie denn das nur?, sagte man zu ihm. Ein Sowjetsoldat und plötzlich Deserteur? So etwas gibt es nicht.
Aber, Gott sei Dank, konnte man Tschingis Aitmatow nicht zur Ruhe bringen. Obwohl man ihn von verschiedenen Seiten her anrempelte, fuhr er fort, aufrichtig und leidenschaftlich über die schmerzhaftesten Probleme unserer Gesellschaft und unserer Zeit zu schreiben. Als der Weiße Dampfer erschien, fing die Kritik wieder zu lärmen an. Der Autor erwecke den Eindruck, tönte es, als würden wir unsere eigenen Wurzeln durchhauen. Ist er denn zu der Behauptung berechtigt, dass das Volk sein historisches Gedächtnis verliert? Und was soll dieser Mord an der Maralmutter, der Urmutter eines Menschengeschlechts? Wird hier nicht die sowjetische Wirklichkeit entstellt?
Man muss sagen, solche Stimmen der Kritik waren häufig. Dennoch gab es welche, die das gewaltige Talent, die Wahrheitsliebe und Lauterkeit des Künstlers gebührend einschätzten. Seine Werke wurden mit den höchsten sowjetischen Preisen ausgezeichnet, darunter auch der Roman Abschied von Gülsary, wo Aitmatow bekanntermaßen als einer der ersten in unserer Literatur mit einer scharfen Kritik des Personenkultes und der Bürokratie auftrat, die heutzutage allenthalben so mutig ihres einstigen Nimbus entkleidet wird, inzwischen sind jedoch immerhin zwanzig Jahre verstrichen.
Tschingis Aitmatow hat einmal die Frage, warum er vorwiegend in russischer Sprache schreibe, zum Teil so erläutert, dass die kirgisischen lokalen Kritiker ihm gegenüber zu aggressiv gewesen seien. Und tatsächlich – hätte er die russische Sprache nicht so hervorragend beherrscht, um wieviel schwieriger wäre sein Zugang zur breiten Leserschaft geworden, wegen jener Barriere, die bei uns die heimischen Autoritäten, ihre geistige Trägheit und der primitive Schematismus bisweilen errichteten. Welch ein Glück für sein Talent, dass hier das mächtige Element der russischen Sprache bereitstand! Und dabei sucht der Reichtum seiner kirgisischen Sprache seinesgleichen. Man staunt, welche Ausdruckskraft die beiden unterschiedlichen Sprachen im Werk ein und desselben Künstlers erreichen.
Wollen Sie erfahren, wie unser Tschingis-Aka arbeitet? Er setzt sich frühmorgens an den Schreibtisch, genauer gesagt um sechs Uhr, und verlässt ihn nicht bis etwa um zwei, drei Uhr nachmittags. Nach dem Mittagessen begibt er sich unfehlbar in sein Arbeitszimmer im Schriftstellerverband, wo ihn immer viele Leute erwarten. Sie kommen in die Sprechstunde des Deputierten im Obersten Sowjet, Aitmatow – eigentlich ganz einfach zu Tschingis Aitmatow. Uns, den Sekretären des Schriftstellerverbandes, gelingt es gar nicht so leicht, in Dienstangelegenheiten zu unserem Vorsitzenden durchzudringen. Die Leute lassen uns nicht vor und verlangen, dass auch wir uns in die Schlange stellen. Und woher sie nur alle anreisen – vom Fluss Kolyma in Nordostsibirien, von der Stadt Kuschka an der afghanischen Grenze, von Brest im westlichen Belorussland, aus den entferntesten Winkeln unseres Landes. Offen gestanden, sind die Gesichter dieser Menschen meist gar nicht heiter. Vielen Augen sind Kummer, Leiden, Schmerz und eine Spur von Hoffnung abzulesen. Bei dem einen ist der einzige Sohn oder Neffe ins Gefängnis geraten, einen anderen haben im hohen Alter die Kinder verlassen, mit diesem ist man ungerecht umgesprungen, mit jenem sind Bürokraten Schlitten gefahren, hier fehlt eine Wohnung, weil der Mann ein Säufer, dort, weil der Nachbar ein Despot ist. Ein Schriftsteller ist kein Machthaber, kein Staatsanwalt oder Richter, vielen kann er gar nicht helfen, nicht einmal als Deputierter des obersten gesetzgebenden Organs des Landes. Aber er muss jeden anhören und ist wenigstens zum Versuch einer Hilfe verpflichtet, wenn nicht durch die Tat, dann durch einen Rat. In der Mehrzahl der Fälle wendet er sich an die örtlichen Behörden der »Bittsteller«. Seine Telefonate fliegen in alle Ecken des Landes. Und am Ende eines jeden Monats hat unser armer Buchhalter alle Mühe, wie er mit dem bescheidenen Telefonbudget des kirgisischen Schriftstellerverbandes zurande kommt.
Wenn Aitmatow in Frunse ist, empfängt er seine Besucher praktisch jeden Tag. Einmal waren wir, die hauptamtlichen Sekretäre, darüber aufgebracht, dass uns die »Außenstehenden« daran hindern, zu ihm zu gelangen. In unserer Erregung haben wir beschlossen, dieselbe Ordnung einzuführen wie bei den Ministerien – Besuchersprechstunden nur mittwochs und freitags, zu streng festgelegten Zeiten. Wir haben den Beschluss ohne Aitmatow gefasst, dachten aber, er würde ihn billigen. Anfänglich schien das auch zu klappen. Nachdem er an der Tür zum Arbeitszimmer die entsprechende Bekanntmachung gelesen hatte, klopfte er seinem Assistenten Turat Sadykow auf die Schultern und sagte: »Ordnung muss sein. Warum sind wir nicht früher darauf gekommen?«
Aber die neue Regelung hielt nicht mehr als eine Stunde, und dies nur dank der unglaublichen Anstrengungen des Assistenten, der, den Tränen nahe, den Andrang der Besucher zurückhielt. Aber die wollten nicht weichen.
»Ich bin eigens aus Magadan angereist, ganz krank bin ich, kann als Frau kaum noch stehen und euren Mittwoch nicht abwarten.«
»Am Mittwoch muss ich doch schon in Moskau sein, bei der Sitzung des Wissenschaftsrates, der meine neue Arbeit über das Igorlied diskutiert; die erwarten dort eine Meinung von Aitmatow …«
»Ich komme zum Deputierten Aitmatow! Einen ganzen Waggon Baumaterial hat man mir vorenthalten, die wollen den einfach nicht für unser Gebiet abfertigen …«
Und alle haben ihre unaufschiebbaren Angelegenheiten, bei allen brennts, da kann man niemanden abweisen. Wir haben noch am selben Tag kapituliert, und Aitmatow hat danach kein einziges Mal mehr an die neue »Ordnung« erinnert.
Dieser endlose und bunte Besucherstrom hat eine bemerkenswerte Besonderheit. Ein guter Teil davon erneuert sich mit jedem Werk des Schriftstellers. Ich führe lediglich zwei Beispiele an. Als der Roman Ein Tag länger als ein Leben erschien, zog es zu Aitmatow Schriftsteller des Phantastischen aus aller Welt, Gelehrte und Futurologen, aus Moskau und Leningrad kamen ganze Gruppen junger Enthusiasten angereist, die außerirdischen Zivilisationen nachforschen.
Dann kam der Roman Der Richtplatz heraus. Einer seiner Helden ist Awdij Kallistratow, ein Kauz, Eigenbrötler und Heilkundiger für verirrte Seelen, verkrachter Priesterseminarist, der über Probleme der Sittlichkeit und einen neuen Gott reflektiert. Es regnete Briefe von Kirchendienern, ein hoher Würdenträger versicherte sogar, Gott höchstpersönlich habe dem Autor bei den Hauptideen des Romans die Feder geführt. Und an einem Herbstabend tauchten im Empfangszimmer Aitmatows gleich vier Mönche aus Frunse auf. Anfänglich war er etwas unsicher und wusste nicht, worüber man sprechen sollte, dennoch fanden sich die gemeinsamen Interessen ziemlich schnell – das Gespräch drehte sich um die Werke des Protopopen Awwakum, die kurz zuvor von einem Moskauer Verlag veröffentlicht worden waren. Die Unterredung dauerte dann mehr als vier Stunden, wonach die Gesprächspartner als Freunde schieden.
Und selbstverständlich finden in Aitmatows Arbeitszimmer vielerlei Begegnungen mit Kulturschaffenden aus unterschiedlichsten Ländern und Kontinenten statt, mit Gelehrten und Journalisten. Aber Kinder lieben Aitmatow ganz besonders. Nie lehnt er Begegnungen mit Kindern ab. In unseren Tagen sieht man bei den Erwachsenen, die bis über beide Ohren in ihren Geschäften und Sorgen stecken, nicht häufig eine so rührende Beziehung zu Kindern. »Die einzig zuverlässige Wahrheit für mich ist die Welt der Kinder«, hat er einmal gesagt.
Bekannte Schriftsteller sagen gewöhnlich, dass sie sehr viel Post haben. Aitmatow erhält jeden Tag rund fünf Briefe. Ich weiß nicht, ob man so eine Korrespondenz für »sehr viel« hält, aber wenn er einige Wochen lang von Frunse abwesend ist, häufen sich solche Bündel ungeöffneter Umschläge, dass er nach der Ankunft nicht imstande ist, die Lektüre aller Briefe in ein oder zwei Schüben zu bewältigen. Dabei gibt es verhältnismäßig wenig offizielle Korrespondenz, die Leserbriefe sind in der Überzahl. In jungen Jahren hat Aitmatow sie niemandem anvertraut, er hat es geschafft, alle zu lesen und zu beantworten. Jetzt betraut er seine engsten Assistenten, unter anderem mich, die Umschläge zu öffnen, mit Ausnahme derer, die den Vermerk »persönlich« haben. Ohne Übertreibung kann ich sagen, Aitmatows Post ist das reichhaltigste und farbigste Mosaik menschlicher Gefühle, Leidenschaften, Erlebnisse und Gedanken. Natürlich löst das Erscheinen eines jeden neuen Werkes eine Lawine an Briefen aus. Niemand hat darüber genau Buch geführt, aber ich denke, Der Richtplatz hat in dieser Hinsicht alle Rekorde gebrochen. Man liest diese Briefe und kann nur staunen, mit welcher Tiefe und Intensität der einfache Leser über diesen Roman urteilt. Wie weit entfernt davon stehen »Experten« wie beispielsweise Kryweljew, der in der Tageszeitung Komsomolskaja Prawda den Artikel »Kokettierend mit dem lieben Gott« veröffentlichte (der Titel sagt schon fast alles über sein Urteil). Nebenbei bemerkt, hat sich in der letzten Zeit das zentrale Komsomolzenblatt auf Aitmatow ziemlich scharf eingeschossen.
Man schickt Arbeiten über Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion an Aitmatow, bisweilen ganze philosophische Traktate, sogar Zeichnungen, Bilder, Skizzen für Skulpturen und architektonische Pläne … Und die literarischen Werke? Schafft es Aitmatow, sie alle zu lesen? Natürlich nicht. Dafür reicht kein Menschenleben. Aber Manuskripte sind durchzusehen. Die Leute haben ja ihre Hoffnung. Diese extreme Situation hat bei Aitmatow offensichtlich einen erstaunlichen Spürsinn wachsen lassen, eine unerklärliche Methode für die augenblickliche Beurteilung. Man ist verblüfft, wenn man sieht, wie er aus der Fülle der Briefe und Manuskripte auswählt und auf der Stelle eben das durchliest, worauf es ankommt. So hat Aitmatow schon am folgenden Morgen, nachdem er das umfangreiche Manuskript des Poems Fuku von Jewgeni Jewtuschenko erhalten hatte, die Redaktion der Zeitschrift Nowyj Mir angerufen, um zu helfen, dass dieses Werk gedruckt wird, das nur mit großen, ja außerordentlich großen Schwierigkeiten durchkam. (Anm.: Aitmatow gehört dem Herausgeberkreis dieser renommierten Moskauer Literaturzeitschrift an. Jewtuschenkos Poem Fuku wurde in Heft 9/1985 von Nowyj Mir veröffentlicht.)
Wir haben mit dem Bericht begonnen, wie unser Tschingis-Aka jeweils an seinen Werken arbeitet. Dieser Fragenkreis ist weit gespannt. Zum Beispiel ist da die Vorbereitung der Materialien für die künftige Arbeit. Viele Schriftsteller führen Tagebuchnotizen oder spezielle Notizblöcke, in die sie systematisch alle nötigen Daten, Gedanken, möglicherweise auch Ziffern und Berechnungen eintragen, die für ein Kunstwerk nötig sind. Wenige, sehr wenige von der schreibenden Zunft benutzen dieses Mittel nicht. Zu ihnen gehört auch unser Tschingis-Aka. Nie haben wir gesehen, dass er sich etwas notierte oder in Archiven und Bibliotheken Angaben zusammensuchte oder ein Tagebuch führte. Sein einziges Taschenbüchlein enthält die Telefonnummern, die er braucht. Und auch dies trägt er häufig nicht bei sich, es ist handgeschrieben und schlecht geführt, mitunter kann er seine Eintragungen selbst nicht entziffern. Und damit er das Notizbuch nicht mit sich herumtragen muss, ist es schon besser, sich die Telefonnummern zu merken. Schreib es doch in den Notizblock, mach deinen Kopf frei von so unnützen Sorgen. Aber nein, Tschingis-Aka speichert Telefonnummern wie ein Computer. Mir scheint, hier dient ihm vorzüglich das einfache mechanische Gedächtnis, das seinem Besitzer keinerlei Schwierigkeiten bereitet.
Um jedoch ganze Linien eines Stoffes zu behalten, sagen wir den von dicken Romanen oder gar gigantischen Sagen wie unser Epos Manas, oder um fürs ganze Leben die Riesenmenge nötiger Kenntnisse, Ideen und Gedanken aufzubewahren, braucht der Mensch einen komplizierteren Mechanismus als sein Gedächtnis. Auch hier kommt Aitmatow nicht in Verlegenheit. Er erinnert sich gut an Einzelheiten wie etwa an seine Dolmetschertätigkeit im Alter von vier Jahren, und er behält sich ebenso eine so unglaubliche Masse von Ideen und Gedanken aus dem vielfältigsten einmal gelesener, gesehener oder gehörter Quellen. Dabei ist in solchen Fällen sein Gedächtnis außergewöhnlich rationell. Meist lässt er wie absichtlich Details weg und speichert dafür recht gut die Substanz. Das muss wohl so sein, denn Aitmatow ist Künstler, Philosoph und Denker, aber nicht Forscher und Statistiker.
Zu unserem Thema gehört wohl auch die Lektüre Aitmatows. Was liest er – etwa jetzt, am Vorabend seines Sechzigsten? Üblicherweise nimmt die Lektüre zum Alter hin deutlich ab. Und dies nicht aus dem Grund, weil Schwäche oder Unlust zum Lesen auftritt, sondern weil sich der Mensch einer verantwortungsvolleren Etappe seiner Aktivität nähert, da er mehr von sich abzugeben als in sich aufzunehmen hat. Wie mich dünkt, ist Tschingis Aitmatow hier keine Ausnahme. Er liest schon deutlich weniger Belletristik. Dabei musste er sich ohnehin, das Schreiben zurückstellend, mit Pflichtlektüre befassen: Doktor Shiwago, Die Baugrube, Kinder vom Arbat, Weiße Gewänder – und anderes, das man heutzutage einfach nicht verpassen darf. In der jetzigen Phase kommt man auch nicht um unsere Tagespresse herum. Darin erscheinen derartig sensationelle Sachen, dass Tschingis-Aka, den nichts zu verwundern schien, bisweilen bis aufs Äußerste erregt ist. Ich erinnere mich daran, wie er mich mitten in der Nacht anrief, nachdem er gerade das Material der Literaturnaja gaseta über einen kranken Sadisten gelesen hatte, der einige Dutzend Frauen ermordet hat, über viele Jahre bei bester Gesundheit vor sich hinlebte und nicht gefasst wurde. »So etwas Unheimliches habe ich im Leben noch nicht gelesen«, erhitzte er sich und begann, Schreckenshandlungen des Mörders nachzuerzählen.
Überhaupt wird Tschingis-Aka in der Regel von den menschlichen und schicksalhaften Aspekten einer Information gepackt, seien sie politischer, ökonomischer oder sozialer Natur. Welches Material ihm auch unterkommen mag, er betrachtet es vor allem durch das Prisma des menschlichen Lebens und Schicksals. Das ist wohl eine Regel, die den Humanisten und Schriftsteller von den anderen unterscheidet, er ist den Leiden und Freuden des Menschen nahe. Es gibt Augenblicke, da du in einem Gespräch beiläufig erwähnst, was dir oder anderen zugestoßen ist, Aitmatow wird dann nicht deinen Zustand oder den des anderen zerpflücken, wenn das Geschilderte wehgetan hat oder schwergefallen ist. Das Los von Kindern bewegt ihn ganz besonders, mitunter sogar zu viel. Ich habe mehrfach erlebt, wie er beklommen aufschrie oder mit dem ganzen Körper hinstürzte, wo ein Kind an einem gefährlichen Ort spielte. Diese Eigenschaft tritt bei ihm mit den Jahren immer mehr zutage. Seine Kinder aus der zweiten Ehe sind noch in dem Alter, wo man sie in jeder Sekunde beaufsichtigen muss. Und dieser Umstand lässt Tschingis-Aka um das Leben der Kinder noch mehr bangen.
Doch dies nur am Rande. Wir haben ja davon zu reden begonnen, wie und was Aitmatow jetzt liest. Anfang der Siebzigerjahre ist er, wie ich feststellen konnte, mit lebhaftem Interesse zu den Werken Hegels zurückgekehrt und hat sich in sie richtiggehend hineingewühlt. Ich weiß noch, wie er weitherum um die Übersendung der Werkausgaben dieses Philosophen bat, die bei uns nicht erhältlich sind. Sodann konnte man auf den Tischen oftmals die Arbeiten westlicher Philosophen sehen, insbesondere von Futurologen. Rein ökonomische Bücher liest er nicht, obgleich es bei ihm in dieser Hinsicht ziemlich viel Überlegungen gibt. Aber zu den Arbeiten unserer Philosophen, die nach hiesigen Maßstäben ziemlich populär sind, habe ich bei Aitmatow keine sonderliche Begeisterung bemerkt. Er verhält sich zu ihnen freilich mit gehörigem Taktgefühl, sagt nichts Schlechtes über sie, aber er liest sich nicht ein in sie.
In den Achtzigerjahren hat ihn die biblische Literatur stark angezogen. Wie wir wissen, ist ihre Mannigfaltigkeit gewaltig. Und Aitmatow hat, wie ich annehme, mit einem recht erklecklichen Teil ernsthaft gearbeitet. Dafür nur ein Hinweis: Etwa im Jahr 1982 fuhr ich zu ihm in die Stadt Tscholpon-Ata, wo er gern in der Sommerzeit arbeitet. Da er sich nicht in seinem Arbeitszimmer befand, erfreute ich mich an seiner Bibliothek. Er hatte sie aus Frunse mitgebracht, und diese stattliche Buchauswahl bestand aus nicht weniger als fünfzig Titeln, vorwiegend zum Thema christliche Religion. Und auf dem Schreibtisch lag geöffnet die Bibel selbst. Ich wusste, damals arbeitete er am Roman Ein Tag länger als ein Leben, hatte sich wohl dafür entschieden, aus Stoffen oder Themen der Bibel etwas hineinzunehmen. Aber es stellte sich anders heraus. Er hat sich damals, freilich erst vorläufig, auf den künftigen Richtplatz vorbereitet. Hat übrigens der Autor damals gewusst, dass der zukünftige Roman Der Richtplatz heißen würde? Natürlich nicht. Und überhaupt quält sich Aitmatow mit seinen Buchtiteln sehr lange ab, sodass einige seiner Werke bis heute zwei, sonst auch ganze drei Titel haben. Beispielsweise hieß die Novelle Der weiße Dampfer ursprünglich »Nach einem Märchen«. Diese tragische Ballade über den Jungen mit dem zweiten Titel zu versehen, sagt man, setzte der unvergessene Alexander Twardowski durch, als Chefredakteur der Zeitschrift Nowyj Mir befürchtete er die Nörgelei der damaligen Zensur an der Novelle und wollte deren Wachsamkeit wenigstens durch einen Titel mit optimistischem Klang einschläfern. Wer sich daran erinnert, wird wissen, dass die Novelle in der Zeitschrift unter zwei Titeln herauskam: Der weiße Dampfer und, in Klammern darunter, Nach einem Märchen. Man muss annehmen, dass auch der Autor auf seinem ursprünglichen Titel bestand.
Der Roman Ein Tag länger als ein Leben hieß ursprünglich »Das Stahlband«, was sehr genau das Wesen des darin Erzählten ausdrückte. Jedoch hat wiederum die Furcht vor einem Verbot die Redaktion von Nowyj Mir zu einem weniger scharfen Titel veranlasst. Aber das »Stahlband« hatte dieselbe Bedeutung wie der »Schiri«, den man den Gefangenen um den Schädel spannte, um sie in Mankurte zu verwandeln, hier bedeutete das auch die gemeinsame Operation der beiden Großmächte, die den Erdball mit ihren todbringenden Raumschiffen umzingelten.
Der Verlag Molodaja Gwardija ging in seiner Überwachsamkeit noch weiter und erbat vom Autor noch einen dritten Titel: »Schneesturm-Haltepunkt«, der schon nicht mehr vom Tag sprach, der länger währt als ein Jahrhundert, und schon gar nicht vom Stahlband der Propaganda, der Bearbeitung der Menschenhirne, die sie zu Tölpeln macht, ihre Wurzeln vergessen lässt, ihre Geschichte und Kultur, nicht einmal die Namen ihrer Vorfahren wissen sie mehr, so wie der Mankurt aus Ana-Beit.
Und schließlich Der Richtplatz. Dieser herausragende Roman wurde ursprünglich »Ailampa« getauft. Unter diesem Titel hatten Zeitungen unserer Republik die ersten Abschnitte des Werkes veröffentlicht. In einer Fußnote hieß es da: »Ailampa« – »Kreislauf«, »kreisförmige Drehung«. Und in der Tat ist das ein erstaunliches, dichtes kirgisisches Wort, das den dialektischen Kreislauf des Daseins verbalisiert, den Wechsel des universellen Lebens durch den universellen Tod kann man nicht in einem einzigen russischen Wort ausdrücken. Und im ersten Interview über den neuen Roman hat Tschingis Aitmatow versichert, dass er den Titel des Romans »Ailampa« ohne jede Änderung in allen Ausgaben belassen wird, in welcher Sprache der Welt er auch herauskäme. Dennoch haben spätere Umstände diese Meinung des Autors geändert. Nachdem die Leute von Nowyj Mir in Moskau den Roman ganz durchgelesen hatten, tauchte plötzlich beim Autor, der sich in Moskau befand, der neue Titel Placha auf. Was ist das nur? Eine Erleuchtung? Ich mache mich nicht anheischig, über die Entstehungsgeheimnisse großer Ideen und Worte zu urteilen, aber ich möchte bekunden, wie ich erschüttert war, als ich erstmals übers Telefon aus Moskau diesen neuen Titel hörte. Placha ist ein gewöhnliches russisches Wort, aber als Leitbegriff der Salve Aitmatowscher Gedanken und Leidenschaften im neuen Roman nahm es auf der Stelle eine überwältigende, magische Bedeutung an. In seiner Dichte und schonungslosen Genauigkeit verdrängte dieser Titel sofort die frühere Bezeichnung aus meinem Kopf, obgleich »Ailampa« nicht weniger dicht war. Im Titel Placha liegt mehr Glut, darin ist der Schrei der Seele zu vernehmen, das tönt äußerst kompromisslos. Das ist das Wort! Das ist der Titel! Schon drei Jahre sind es nun her, dass er auf die Welt gekommen ist, ich höre und spreche über ihn jeden Tag, höre aber nicht auf damit, über die genaue Entsprechung zum Material zu staunen. Wahrlich grenzenlos ist die Kraft des Wortes!
Auf diese Weise nimmt im Verlauf der Arbeit die Taufe der neuen Werke einen besonderen Platz ein. Und sie durchzieht die gesamte Zeitspanne von der Niederschrift des Romans bis hin zum Tag des Druckbeginns. Das ist qualvoll, wie der Autor selbst gesteht, weitaus leichter sei es, das Werk zu schreiben, als dafür den nötigen Titel zu finden.
Aber nun will ich erzählen, welche Probleme Kirgisiens Tschingis Aitmatow am meisten bewegen. Da ist vor allem das Schicksal des Issyk-Kul-Sees und der Weideplätze. Der Wasserspiegel des Sees ist jäh gesunken, mit jedem Jahr gibt es auch weniger Alpenwiesen. Was wäre zu tun? Man müsste einfach die wirtschaftliche Habgier zügeln, den natürlichen Zustrom in den See nicht zurückhalten, den Abfluss an Wasser für den Wirtschaftsbedarf verringern, den Viehbestand einschränken und, wenn möglich, eine Methode finden, wie das Seebecken wieder aufzufüllen ist. Der Deputierte Aitmatow hat diese Fragen bei den Sitzungen des Obersten Sowjets der UdSSR aufgeworfen, er ist damit auch bis zum Politbüro gegangen. Vor Kurzem traf eine positive Antwort ein. Eigentlich gibt es in Volkswirtschaft wie Kultur Kirgisiens nicht wenig lebenswichtige Probleme. An den angesehenen Schriftsteller und maßgebenden Vertreter der Öffentlichkeit wenden sich viele um Unterstützung. Zu einem beträchtlichen Maß ist es Aitmatows Beharrlichkeit zu verdanken, dass ein neues Gebäude für die Filmstudios und die Philharmonie, einige Kulturpaläste und Dorfschulen gebaut, Straßen asphaltiert, eine Zeitschrift für Kinder herausgegeben, ein Trickfilmstudio eingerichtet, ein Verlag für Kinderliteratur gegründet, die mehrbändige Ausgabe des grandiosen Volksepos Manas usw. realisiert worden sind. Überzeugter Internationalist, widmet Tschingis Aitmatow viel Kraft auf die Entwicklungsprobleme der kirgisischen Kultur und dem Kampf gegen den Nationalnihilismus. Und das ist tatsächlich ein Kampf, was umso trauriger ist, als die Zentralpresse seine Gegner unterstützt, wie das unlängst in der Komsomolskaja Prawda mit der Veröffentlichung des extrem unobjektiven Artikels Ohne Argumente geschehen ist.
Natürlich rauben ihm all diese Angelegenheiten ein gerüttelt Maß an Zeit, Energie und Nerven. Aber ich habe kein einziges Mal bemerkt, dass sich Aitmatow dadurch bedrückt fühlte. Und wenn es ihm gelingt, in diesen Fragen etwas durchzusetzen, verschafft ihm das nicht weniger Befriedigung als die literarischen Erfolge. So ist nun mal sein Naturell – energisch und sehr beharrlich. Besonders hartnäckig wird Aitmatow, wenn das Ziel am Horizont aufblinkt. Mitunter genügt aber auch schon die leiseste Hoffnung, die Andeutung eines möglichen Erfolgs, dass er sich unermüdlich einsetzt, bis die Sache zum erfolgreichen Ende geführt wird. Uns, seine Mitstreiter, verwundert immer wieder die unbändige Energie. Er hält uns alle auf Trab und lässt niemanden abschlaffen. Woher rühren bei ihm diese Organisationsader, die Unermüdlichkeit und die hohen Anforderungen? Ein großes Talent ist doch ziemlich oft eher zerstreut und unorganisiert. Aber hier ist alles umgekehrt.
Wer sind Aitmatows Freunde in der Heimat? Mit wem verkehrt er und verbringt die Stunden der Freizeit? Wer besucht ihn, wen lädt er zu sich ein? Erzählungen von Altersgenossen zufolge war Aitmatow in der Studentenzeit ziemlich verschlossen, laute Gesellschaften mied er, ihnen zog er Bücher vor. Wenngleich er auch das Fach des Zootechnikers studierte, zog es ihn doch zur Belletristik hin, zu Philologie und Philosophie. Dauerhafte freundschaftliche Beziehungen bildeten sich später heraus, als die literarische Arbeit begann. Man sagt: Freunde erkennst du in der Not. In den ersten, für den Schriftsteller schwierigen Diskussionen um Dshamilja zeigte sich erstmals, wer was ist. Das Neue an dieser Novelle diente als Katalysator, der junge kirgisische Schriftsteller und Kritiker die brachliegenden Möglichkeiten ihrer Nationalkultur erkennen ließ. An dieser Stelle wären beispielsweise Kritiker wie Keneschbek Asanalijew, Asis Salijew und Kambaraly Bobulow zu erwähnen.
Mit einem Wort, bei Aitmatow tauchten echte Freunde auf, schöpferisch Gleichgesinnte. Mit jedem neuen literarischen Werk, jedem publizistischen Beitrag und jeder starken Bewegung seines heißen Herzens und durchdringenden Verstandes eroberte er sich Liebe und Anerkennungen bei einem großen Kreis von Menschen, und er nimmt zu seinem sechzigsten Geburtstag – ich scheue das Wort nicht – den Platz eines geistigen Vaters seines Volkes ein. Aber Aitmatow hat natürlich wie jeder Mensch auch seine nahen, seine Busenfreunde. Unter ihnen sind Vertreter der Literatur und Kunst, Gelehrte, Ärzte, Arbeiter und Kolchosbauern. Ich riskiere es nicht, Namen zu nennen, um niemanden auszulassen. Persönlich bin ich mit ihm fünfzehn Jahre befreundet. So lange führe ich auch ein Tagebuch über unsere Begegnungen und unseren Umgang.
Meine erste nahe Bekanntschaft mit ihm fand 1973 statt, als wir in seinem Wolga von Frunse bis Taschkent fuhren und uns während der ganzen sechs Stunden Fahrt unterhielten. Am folgenden Tag trat er vor den jungen Schriftstellern Asiens und Afrikas mit seiner berühmten Rede auf, wo er erstmals so ausführlich seine Gedanken über die Zweisprachigkeit ausdrückte und die Rolle der Bilingualität für die Sowjetmenschen erläuterte. Seither ist die Familie Aitmatow recht häufig bei uns zu Gast und wir bei ihnen. Zwischen uns ist ein Altersunterschied von dreizehn Jahren, aber das störte unsere Gespräche nie, welche Themen sie auch berühren sollten. Ich möchte dazu anmerken: Aitmatow spricht über die erhabenste Materie sehr einfach, ich würde sogar sagen, dass sein Gesprächsstil in lexikalischer Hinsicht bescheiden ist. Keinerlei Wissenschaftsgetue und Kompliziertheiten, hier fehlen auch jene verwickelten stilistischen Wendungen, die für seine Prosa charakteristisch sind. Seine Ansichten spricht er knapp, wie nebenbei gesagt, aus, ziemlich oft von einem Lächeln bezüglich der eigenen Worte begleitet. Er bleibt sich auch in Gesprächen mit Vertretern der intellektuellen Weltelite treu. Dagegen braucht er aber nur die Feder zu ergreifen, und der Stil Aitmatows wird auserlesen und subtil, wovon man sich mit jeder Seite seiner Bücher überzeugen kann.
Einer Sitte gemäß werden bei uns Gäste mit einem Nationalgericht bewirtet, das Mahl beschließt gewöhnlich der Beschbarmak. Das ist feingeschnittenes, mit Nudeln und Zwiebelröhrchen vermischtes, gekochtes Hammelfleisch, das mit heißer Bouillon übergossen wird. Vor dem Beschbarmak wird heißes Fladenbrot mit frischem Sauerrahm gereicht. Das dürfte wohl Aitmatows Lieblingsgericht sein. Heißes Fladenbrot, ausgebacken im Tandyr, dem lehmgebrannten Ofen, ist schon für sich ein Leckerbissen. Aber mit dem frischen Kam Kajmak, dem Sauerrahm, der nicht durch den Separator gelassen wird, sondern von der frisch gekochten Milch geschöpft wird, ist wahrlich eine Köstlichkeit, die mit nichts in der Welt zu vergleichen ist. An scharfen Getränken nimmt Aitmatow nur Wodka zu sich, aber nicht mehr als zwei, drei Gläschen am Abend. Das ist das Adat, das unverbrüchliche Gesetz.
Wenn schon von Vorlieben die Rede war, dann will ich ergänzen, dass Aitmatow keinerlei Hobbys hat. Er spielt weder Schach noch Billard, weder Tennis noch sonst was. Seine einzige Zerstreuung in freien Minuten sind Spaziergänge und Gespräche mit dem Weggenossen. Das dürfte aber unzureichend sein, um sich nach der physischen und nervlichen Ermüdung des Tages voll zu entspannen. In den letzten Jahren hat er freilich damit begonnen, zu joggen oder eine halbe Stunde zu schwimmen. Und er krault im Übrigen gar nicht übel. Man mag es sich selber vorstellen: Der Kurort Tscholpon-Ata am Issyk-Kul (dort arbeitet unser Tschingis-Aka besonders gerne) liegt an einer Bucht von rund dreieinhalb Kilometern Breite. Wenn sich Aitmatow hier aufhält, dann schwimmt er täglich die Strecke hin und zurück, wofür er rund zwei Stunden braucht. Gar nicht so schlecht, oder?
In den Jahren 1984 bis 1986 hat Aitmatow besonders herzliche Beziehungen an den Tag gelegt, er rief mich ständig an und lud mich zu sich nach Hause ein, kurzum, wir trafen sehr oft zusammen. Und als er mir einmal im Foyer des Parteihauses für Politische Aufklärung begegnete, wo eine außerordentlich wichtige politische Veranstaltung stattfand, fasste er mich unterm Arm und ging mit mir vor den Augen der ganzen Obrigkeit auf und ab. Er hat dies vorsätzlich getan und demonstrativ, denn die Parteiinstanzen hatten mich seinerzeit entlassen, drei Jahre sah ich mich praktisch auf die Straße gesetzt, bevor mich Aitmatow aufforderte, als Sekretär des Schriftstellerverbandes Kirgisiens zu arbeiten. Später begriff ich das Gesetzmäßige an Aitmatows Beziehungen gegenüber Freunden wie auch generell zu Menschen: Je schlechter es einem ging, umso besser war sein Verhältnis zu ihm. Eine Eigenschaft, die vielen abgeht.
Soeben bin ich aus dem fernen Sri Lanka zurückgeflogen, wo ich zehn herrliche Tage im freundschaftlichen Umgang mit Schriftstellern dieser märchenhaften Insel verbringen konnte.
Werke wie seine Dshamilja, sein Erster Lehrer, Der Weg des Schnitters und Abschied von Gülsary sind in die singhalesische Sprache übersetzt und werden an Schulen studiert. Besonders nah ist ihnen die Geschichte von Djuschen. Mit großer Liebe zum ersten kirgisischen Lehrer erzählen einem Kommunisten von Sri Lanka, wie sehr er den ersten Lehrern des befreiten Volkes von Sri Lanka ähnelt.
Bei einer Begegnung mit jugendlichen Kulturgruppen in der Stadt Matara entbrannte eine heftige Diskussion über Dshamiljas Entschluss, mit Danijar fortzugehen. Die eine Seite hat das Verhalten der Heldin der Novelle eindeutig missbilligt, die den Prinzipien der Gesellschaft, die ihr ja abverlangte, dem Vaterlandsverteidiger eine treue Frau zu bleiben, untreu geworden war. Mit verblüffender Ähnlichkeit wiederholte man damit die Ansichten kirgisischer Schriftsteller der Fünfzigerjahre. Die andere Seite indes trat für das Recht auf ihre Liebe zu Danijar aus freier Entscheidung ein. Mich persönlich interessierte die Meinung von zwei jungen buddhistischen Mönchen, die an der Begegnung teilnahmen, einer von ihnen schrieb Gedichte, der andere war Verfasser mehrerer Bücher über Archäologie.
»Wir Mönche haben keine Meinung über die fleischliche Liebe, da uns dieses Gefühl fremd ist«, antwortete, so schüchtern wie ein Mädchen, der sympathische Bursche.
»Es kommt auch vor, dass sich Mönche in Mädchen verlieben«, warf ein ortsansässiger Schriftsteller ein, »und unter ihnen gab es welche, die Dshamilja nachfolgten, sie verließen ihren Tempel und gingen fort mit der Geliebten.«
Was für eine unerwartete Analogie! »Sie verließen ihren Tempel und gingen fort mit der Geliebten.« Wenn man berücksichtigt, was für Dshamilja und andere kirgisische Frauen die Grundpfeiler von Familie und Moral der Kriegsjahre bedeuteten, und dies bei den patriarchalischen moslemischen Sitten der Rechtlosigkeit der Frau, dürfte einem der Grad der Kühnheit ihrer Nachfolger – jener buddhistischen Mönche – klar werden. Ich erzähle das, um zu betonen, wie eng die Ideen eines Kunstwerkes des fernen kirgisischen Schriftstellers mit der Lebenspraxis der Völker auf der Insel von Sri Lanka verflochten sind. Und als ich von Colombo nach Moskau zurückflog, überkam mich der wohltuende Gedanke, wie gut es doch ein kleines Volk wie das meinige hat, einen solchen Sohn zu besitzen, dessen Namen du jedem lesenden gebildeten Menschen, ob in Colombo, New York oder Berlin, mit Stolz vorstellen kannst.
Am Vorabend seines Jubiläums ist Tschingis Aitmatow voller schöpferischer Pläne und Kräfte. Seine kernige Gesundheit, das kraftvolle Talent werden ihn wohl noch viel für die Literatur gestalten lassen, die in seinen Worten »… aufstören und im Menschen das Gewissen, den Mut und Humanismus wecken und vor ihm die ganze Welt erschließen kann, damit er nicht vergisst, Mensch zu sein, dass sein geistiges Befinden einer der Hauptfaktoren eines würdigen Lebens auf unserem Planeten wird«.
Der Verfasser von acht hervorragenden Novellen und zweier weltbekannter Romane hat den Titel seines dritten Romans bekanntgegeben: Madonna in den Schneewehen. Übrigens ist dies der erste Fall, dass Aitmatow schon im Voraus den Namen seiner künftigen Schöpfung genannt hat. Die Zeit wird richten. Warten wir ab, ob dieser Titel bleibt oder ob das Werk selbst einen anderen verlangt, wenn es vollendet sein wird.
Die Leser sind schon daran gewöhnt, dass jedes neue Werk von Aitmatow eine Entdeckung neuer Ideen, Gestalten und künstlerischer Gedanken bedeutet. Mir scheint, anders kann es gar nicht sein. Uns ist das Gefühl der Nachsicht oder des Bedauerns über einen Aitmatowschen Misserfolg unbekannt. Das hat es einfach noch nicht gegeben und, man will es glauben, wird es nicht geben. Der Garant dafür ist die unermüdliche Bewegung und Vervollkommnung des künstlerischen Denkens bei Aitmatow. Es hat noch kein Werk bei ihm gegeben, das nicht erweitert, vertieft und voranbewegt hätte, was er im vorausgegangenen gesagt hatte. Wenn man nur die eine Linie verfolgt, die Linie der Tugend, werden wir, angefangen von Djuschen, den ungebildete Menschen erniedrigen und beleidigen, weil er versucht, den Kindern des Ails einfach Lesen und Schreiben beizubringen, direkt zu Awdij Kallistratow gelangen, der danach strebt, das Böse in den Menschen um den Preis des eigenen Lebens zu bändigen.
Die Besonderheit des Aitmatowschen Talents liegt eben in seiner beständigen Sehnsucht nach immer neuen künstlerischen Entdeckungen, in seiner Sensibilität für die keimenden Merkmale und Symptome des morgigen Tages. Viele seiner Ideen und Gedanken, die früher in Werken wie Essays und Reden geäußert wurden, werden in unseren Tagen als zukunftsweisend bestätigt.
Auf diese Weise dient der 60. Geburtstag des Schriftstellers wohl als ein Rastplatz eigener Art für einen Zuruf an die Karawane mit den Aitmatowschen Kunstwerken, die aus unseren Tagen zu den Tagen unserer Nachkommen hinzieht und den Tagen der Nachfahren unserer Nachkommen …
Aus dem Band Karawane des Gewissens – Autobiographie, Literatur, Politik (Unionsverlag, 1988)
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