Chlebnikow: Der Roman Ein Tag länger als ein Leben wurde im Frühjahr 1980 beendet, aber im Frühjahr 1989 schrieben Sie dazu ein neues Kapitel, betitelt Die weiße Wolke Tschinggis Chans, wodurch Ihr ohnehin bisher umfangreichstes Buch um mehr als ein Viertel größer wurde. Was veranlasste Sie, sich wieder dem Roman zuzuwenden?
Aitmatow: In der Tat ist ein ganzes Jahrzehnt vergangen. Unwahrscheinlich, wie schnell die Jahre verflogen sind – alles ist noch so frisch in der Erinnerung. Offenbar ist es die Überfülle höchst komplizierter Ereignisse, deretwegen diese Jahre so ungewöhnlich verdichtet erscheinen. Angesichts des Wirbels von Ereignissen habe ich jedenfalls in einem Augenblick begriffen, dass ich den Roman heute anders schreiben würde, ohne etwas zu vereinfachen, ohne mich zu zügeln, ohne mich im Voraus über langweilige Streitereien mit denen zu ärgern, die entschieden, wie unsere Literatur zu sein oder nicht zu sein hat. Es wäre sehr schade gewesen, die doch wirklich seltene Chance zu verpassen, zur ursprünglichen Idee zurückkehren zu können. Eine bestimmte Rolle hat auch der Zufall gespielt. Vor einigen Jahren erwähnte ich in einem Gespräch, dass meine erste Novelle, Aug in Auge, ein wenig anders geplant war, als sie dann erschien. Der Verleger interessierte sich für die ursprüngliche Fassung, bat, sie wiederherzustellen, und auch mir selbst erschien eine solche Möglichkeit nicht uninteressant. Ich hatte den Eindruck, dass die Leser die neue Redaktion der Novelle Aug in Auge nicht nur wohlwollend aufnahmen, sondern auch verstanden, warum der Autor zu seiner früheren Arbeit zurückgekehrt war. Dieser Umstand ermutigte mich und gab mir wohl auch endgültig den Anstoß, ernsthaft an die Überarbeitung des Romans heranzugehen. So entstand sein neuer Teil – Die Hinrichtung in der Sary-Ösek.
Meiner Meinung nach hat die Legende von Tschinggis Chan nicht nur den Themenkreis des Romans erweitert, sondern auch eines seiner wichtigsten Themen vertieft – die Auseinandersetzung mit der Idee der Weltherrschaft in ihrer neuesten Hypostase, die Idee einer globalen, überstaatlichen Herrschaft erhält im Roman jetzt ihre historische Dimension.
Das Schicksal der Menschheit trägt durch alle historischen Epochen hindurch den Stempel einer gewissen Fatalität. Man kann schwerlich sagen, dass die hochentwickelte zivilisierte Gesellschaft für die magische Idee der Weltherrschaft unempfänglich geworden sei. Wir sind dafür ja lebende Zeugen. Wenn Tschinggis Chans Feldzüge von der Nomadenzeit geprägt waren, so ist Stalin schon eine Erscheinung unserer Tage, doch der Kernpunkt ist hier wie da der gleiche. Die Idee der Weltherrschaft besitzt eine schreckliche Anziehungskraft, sie kann den Schicksalen ganzer Völker, ja der Geschichte selbst ihre Richtung geben. Und stets ist diese Idee unheilvoll. Sie ist der Menschheit schon mehr als nur ein- oder zweimal zum Verhängnis geworden, und doch taucht sie in verschiedenen Epochen immer wieder auf. Unwillkürlich kommt einem da der Gedanke an tragische Schicksalhaftigkeit. Mag sein, dass ein solches Herangehen vom wissenschaftlich-historischen Standpunkt aus unrichtig ist, doch dem Künstler steht es frei, auf seine Weise zu denken.
Wie aber ist Ihr Verhältnis zu heutigen weltumspannenden Ideen wie etwa der Konzeption eines »neuen politischen Denkens« oder einer »neuen globalen Ethik«? Schließlich erheben auch sie Anspruch auf universelle geistige Herrschaft. Muss man nicht auch sie, trotz ihrer humanistischen Ausrichtung, an vergangenen Ideen der Weltherrschaft messen?
Allgemein betrachtet, birgt jede allumfassende Doktrin einer totalen Beglückung der Menschheit die Gefahr einer Vergewaltigung der Persönlichkeit, wenn man deren geistige Souveränität missachtet, doch nicht minder gefährlich ist auch eine Selbstisolierung des Individuums, seine Abkehr von historischen kulturellen Traditionen, eine Missachtung der sittlichen Werte, die die Menschheit seit Urzeiten zum Beispiel in den Weltreligionen gespeichert hat. Was aber die mit der neuen globalen Ethik verbundenen Vorstellungen betrifft, so gestehe ich, dass ich selbst im Sinn der neuen Richtung denke.
Ist die Sary-Öseker Legende irgendwoher entlehnt? Gibt es da eine historische oder folkloristische Quelle?
Auf ein konkretes, allgemein bekanntes oder zumindest regionales, örtliches Material, das mir als Quelle gedient hätte, kann ich nicht verweisen. Ich erinnere mich nicht, wie ich auf dieses Motiv gekommen bin, doch ich trage es schon lange in mir. Übrigens beschäftigt mich noch eine ganze Reihe mythologisierter, legendärer Sujets, die ich gern literarisch umsetzen würde. So gibt es auch unter den Legenden über Tschinggis Chan eine ganz erstaunliche, derzufolge sein ältester Sohn Dshurge angeblich die christliche Glaubenslehre angenommen hat. Das soll Tschinggis Chan erzürnt haben, vor allem, weil ihm ein solcher Gott, eine solche göttliche Persönlichkeit, die der Sohn verehrte, völlig fremd war. Nach Tschinggis Chans Verständnis war und blieb Jesus ein Landstreicher, ein Stromer, er selbst glaubte an die Allmacht der Kriegsmacht. Allmächtig war er selbst, Tschinggis Chan, der reale Herr über die Welt. Was vermochte demgegenüber Christus? Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber es gibt wohl eine Überlieferung, derzufolge Tschinggis Chan seinen Sohn dem Tod preisgegeben hat. Auf diese Weise habe er versucht, sich auch des neuen Gottes zu entledigen, der für die damaligen Nomaden unbegreiflich und sonderbar war. Diese Überlieferung birgt Ansätze für die Gestaltung höchst interessanter Charaktere, höchst dramatische Kollisionen von Weltanschauungen, aber das ist vorerst nicht in das Buch eingegangen.
Die Rückkehr zu dem alten – jetzt übrigens bereits neuen – Roman hat Sie wahrscheinlich von der Arbeit an der Gottesmutter im Schnee abgelenkt. Dabei haben Sie dieses Buch längst dem Leser versprochen. Was geschieht damit?
»Der neue alte Roman« – das ist wohl eine gelungene Definition meiner letzten Arbeit. So könnte man unser Gespräch benennen. Was die Gottesmutter anbelangt … Ich gestehe, das Versprechen war voreilig. Es ist wohl so, dass dieses nahezu vollendete Buch ins Räderwerk der Zeit geraten ist. Dort war das Thema Stalin präsent, aber auf dieses Thema hat man sich von allen Seiten und mit solchem Eifer gestürzt, dass ich abgekühlt bin. Offenbar muss ich verweilen und nach einem neuen Weg suchen. Die Hauptsache ist aber dennoch, dass angesichts des heutigen Zeitmangels mein »neuer alter Roman« mit aller Macht von mir Besitz ergriffen hat – die Möglichkeit, seine Philosophie zu bereichern und zu vertiefen, ihn mit jener Kompliziertheit von Ideen zu erfüllen, die mir von Anfang an vorschwebte.
(1991)