Über den Roman Nächte in Straßburg
Rede im Haus der Kulturen der Welt,
Berlin, 28. November 1998
Kommen und Gehen
Ich habe beinahe die Hälfte meines (schon langen) Lebens zwischen Algier und Paris, zwischen Algerien und Frankreich verbracht … Während dieser ganzen Zeit habe ich meistens »über« Algerien geschrieben: aus der Nähe oder Ferne; über das Algerien von heute oder jenes meiner Kindheit, oder jenes meiner Vorfahren …
Dann plötzlich, eines Tages (oder allmählich, innerhalb von ein oder zwei Jahren) war mir klar geworden, dass mein Schreiben sich nach anderen Orten sehnte – es war de facto deterritorialisiert.
Ohne Heimatort, ohne Bedürfnis nach einer Herkunft: Mindestens zwanzig Jahre lang genoss ich mein Nomadentum, fühlte mich wohl – manchmal sogar wirklich zu Hause – in Barcelona, Venedig, Freiburg im Breisgau oder in der Metropole Nordeuropas, in Paris, wo ich ankam, das ich entdecken wollte; natürlich im Sommer, als die Sonne schien, nicht bei Schnee und dieser großen Kälte.
So begann für mich das Abenteuer – es ist tatsächlich ein Abenteuer, meine Romane in Europa anzusiedeln. Wo ich doch eine Fremde bin in Europa. Deshalb möchte ich im Rahmen Ihres Programms »Europa denken« über meinen letzten Roman sprechen.
Die Literatur
Die Literatur als Mittel, einen Ort, ein Gebiet, einen Kontinent zu »denken«: das bedeutet nicht, reine Fantasie (beinahe hätte ich Fantasia gesagt) zu schreiben.
Es bedeutet vielmehr, mittels der Fantasie eine Fiktion aufzubauen (eine Handlung, verknüpfte Situationen, gewagte oder alltägliche Dialoge). Es bedeutet, einen Ort, eine Stadt neu zu beleben – mit Phantomen dieses Ortes, aber auch mit den eigenen Leidenschaften … Denn diese steigen auf, obwohl oder gerade weil man sich in der Freiheit wirklich fremd fühlt.
Wenn ein Mann oder eine Frau aus dem Süden nach Europa kommt und europäische Literatur schreibt, ist das letztendlich eine Art umgekehrter »Exotismus« … oder nicht? Das Gegenstück oder die Entsprechung zum »orientalistischen« Ausbruch des Europäers wäre für uns der »Okzidentalismus« – eine Versuchung: warum nicht?
Nächte in Straßburg
Ich glaube, daß ich in diesem Roman, ausgehend von den Verletzungen der Vergangenheit, auf meine Art eine Stadt wie Straßburg »wieder gedacht« habe: eine Grenzstadt, die früher als »frei« galt, die viele Male abwechselnd unter französischer und deutscher Herrschaft stand. Im Mittelalter nannte man sie die »Stadt der Straßen« …
Stadt der Übergänge, auch der Sprachübergänge, eine von vielen Schriftstellern bewohnte Stadt – vor allem von deutschen: erst Goethe, später Büchner und in unserem Jahrhundert Elias Canetti. Sie wurde verehrt von den größten französischen Romantikern, von Nerval bis Victor Hugo …
Straßburg ist auch die Stadt der Mystiker. Der letzte kommt hier um 1850 zur Welt und geht nach Paris, als Straßburg 1871 deutsch wird. Er heißt Charles de Foucauld, wird sein Leben in der algerischen Sahara verbringen, meditierend und betend. Er wird aber auch zum ersten Mal die Grammatik der berberischen Tuareg niederschreiben. Und er wird, wie Sie wissen, ermordet.
Wenn ich so über Straßburg spreche, dann um deutlich zu machen, dass eine in Straßburg spielende Geschichte für mich kein Spiel des Zufalls ist, sondern eines der Notwendigkeit.
Weshalb schreibe ich in
(und über) Straßburg?
Weshalb ist gerade für mich diese Geschichte notwendig?
Natürlich, ich habe 1993 für drei Monate in Straßburg gelebt, habe in den Vorstädten Emigranten aus dem Maghreb und aus Afrika kennen gelernt, aber auch ältere »pieds-noirs« – und auch einen großen Freund und Kenner Arabiens (der in Algerien begonnen hatte, Arabisch zu lernen). Durch Zufallsbekanntschaften, aber auch durch Freundschaften wurde ich mit der Vergangenheit der Stadt konfrontiert.
Doch der Auslöser dieses Romans war ein zufälliges Gespräch. Ich wollte wissen, an welchem Tag genau die deutsche Sprache 1939/40 mit den eindringenden Soldaten wieder in die Stadt zurückkehrte. Ich war erstaunt zu erfahren, dass am zweiten, dritten und vierten September 1939 sämtliche Einwohner Straßburgs evakuiert worden waren. Die Stadt blieb (bis auf die Soldaten in den Kasernen) leer, bis Mitte Juni 1940 die deutschen Truppen einmarschierten: Das sind ungefähr zehn Monate! (Hinzufügen möchte ich, dass die Mehrheit der Franzosen von dieser Episode nichts weiß, weil sie in den Schulbüchern zur Gegenwartsgeschichte nicht aufgeführt ist. Ich habe diese Wissenslücke während der letzten Jahre bei vielen durchschnittlich gebildeten Franzosen immer wieder festgestellt.)
Es war diese Leere, die mich fasziniert hat. Dank dieser Leere konnte ich meine imaginären Personen in Straßburg leben lassen: das heißt mindestens zwei wichtige Paare (und zwei andere, weniger wichtige Paare). Sie sind beschrieben … durch die Nächte ihrer Liebe.
Eine in Straßburg spielende Geschichte zu schreiben bedeutete für mich, diese Leere zu bevölkern. Natürlich habe ich damit begonnen, möglichst genau und detailgetreu, diese im Winter 1939/40 leere Stadt zu rekonstruieren (die den Hunden, Katzen und Ratten überlassenen Straßen). Dann – dies ist die Freiheit des Schriftstellers – bin ich nach vierzig Seiten Einleitung fünzig Jahre weiter gesprungen, ins Jahr 1989. Hier habe ich meine zwei imaginären Paare angesiedelt, die beide eine eigene Entwicklung durchmachen.
Eine dreißigjährige Algerierin, die in Straßburg an ihrem Diplom in Kunstgeschichte über das verschollene Manuskript der Äbtissin Herrad aus dem 12. Jahrhundert arbeitet, verbringt neun Nächte mit einem 25 Jahre älteren französischen Liebhaber.
Die aus Tebessa stammende jüdische Freundin lebt seit kurzem in Straßburg wegen der Liebe zu einem jungen Deutschen, der jede Woche aus Heidelberg zu ihr kommt.
Die Leere von Straßburg wird angekündigt mit einem Zitat der iranischen Dichterin Forough Farroukhzad: »Tu deviens vide de l'echo de la céramique bleue«. Woher kommt diese Besessenheit des Leeren? Vielleicht ist sie im eigenen Gefühl des Entwurzelt–Seins entstanden.
Die leeren Städte Europas waren in der jüngsten Vergangenheit offensichtlich ein Vorzeichen des Krieges, der Massenflucht, des Exodus: all dessen, was man hinterher zu verschweigen gedenkt … Die Gegenwart einiger Regionen im heutigen Bosnien, vieler afrikanischer Länder …
Ich fülle also die Leere von 1939 mit Liebesgeschichten aus dem Jahr 1989, fünfzig Jahre später …
Die Frage, welche Sprache den Menschen während der Liebe begleitet, ihm folgt, ihn umgibt, ist das zentrale Thema in diesem Roman. Seien es Dialoge, Monologe, Selbstgespräche, entschlüpfte Worte, Geständnisse der Liebe in zärtlichen Augenblicken; auch die Erinnerung sucht ihre Worte, taucht ein in die oft weit entfernte Kindheit, selbst 50 Jahre danach …
Im Zimmer der Liebe wird die Vergangenheit plötzlich wieder wach, sie kehrt unerwartet zurück und wirft ihren Schatten auf einen der Beteiligten, zum Beispiel auf François, der fünf Jahre alt war, als er die Weihnachtsnacht mit seiner Mutter in der Kathedrale von Straßburg verbrachte! … Er will seine Kindheitsängste vergessen, aber sie holen ihn ein, die Schatten der Vergangenheit.
Eine andere bestimmende Szene meines Romans: Zwei Paare sprechen Sprachen, die eine gegensätzliche kollektive Geschichte haben, gezeichnet von den Spuren eines Konfliktes, der selbst in der Liebe wieder aufbrechen kann. Wie das Wort – und mit ihm die dunkle, erstarrte Erinnerung – manchmal Liebkosungen blockiert, zur Mauer wird, anstatt die Liebe zu begleiten oder die Zärtlichkeiten intensiver zu machen: zum Beispiel zwischen der Algerierin, deren Vater im Widerstand getötet wurde, und ihrem französischen Geliebten, der mit zwanzig Jahren im Algerienkrieg hätte kämpfen können. Oder zwischen Eva, der Jüdin aus dem Maghreb, die, obwohl sie es beherrscht, mit Hans nie Deutsch spricht, wohingegen er gleichzeitig Französisch und das marokkanische Arabisch seiner Nachbarn lernt …
Es wird Sie nicht überraschen, dass ich diesen Roman 1997 in Louisiana geschrieben habe, als ich, weit entfernt, von den Massakern an Dorfbewohnern meiner Heimat erfuhr. Nach zwei Büchern über den Tod (Weißes Algerien und Oran, langue morte) war meine erste Reaktion auf die blutige Gegenwart, noch ausführlicher über jene imaginären neun Liebesnächte in Straßburg zu schreiben! Geben wir es zu – meine Fantasie war in gewissem Sinn reine Therapie!
Wie ist es möglich (an) eine Stadt in Europa zu denken und trotzdem das Gedächtnis des eigenen Landes zu bewahren? In und über Europa schreiben heißt für mich: Erinnerungen zu vernetzen, Menschen die mich umgeben – und der eine oder andere Fremde, der von weit her kommt und seine Vergangenheit nicht vergessen kann …
Abgesehen von den geträumten Nächten in Straßburg ist der Stoff dieses Romans durchwoben mit der Realität: Durch ein ganzes Netz von Personen, die den Hintergrund des Buches bilden, und durch das Heraufbeschwören bekannter deutscher Dichter, die für mich immer noch in Straßburg präsent sind – eine Wirklichkeit, die ich hier angetroffen oder gesucht habe.
So ist dieser Roman gleichzeitig auch ein Stück Dokumentation über Emigranten und mir nahe stehende deutsche Dichter, die in Straßburg gelebt haben.
Zum Beispiel die Gruppe junger Maghrebiner, die mit Hilfe von Jacqueline »Antigone« von Sophokles aufführt: die am Ende tragischen Geschehnisse rund um dieses Bühnenstück sind direkt beeinflusst vom realen Leben eines Stadtviertels … Es hat mich mit Staunen und Bewunderung erfüllt, als ich erfuhr, dass junge Maghrebiner, Laien, ein Stück in elsässisch spielten. Sie zeichneten die Künstler und Geschäftsmänner ihres Stadtviertels humorvoll, ja beinahe komisch. Bei der Presse kam das gar nicht gut an: Man erwartet ja von den "Beurs" eine Darstellung ihres eigenen Unglücks; und nun sind sie selbst die Beobachtenden, sie, die Anderen …
Übrigens ist meine Heldin Thelja, die junge Algerierin, ins Elsass gekommen, um die Äbtissin Herrad wieder aufleben zu lassen; doch entdeckt sie – gleichsam nebenbei, als begleitenden Schatten – die Schriften von Büchner, einem Emigranten ohne Papiere, der der Unterdrückung seiner Heimat entfloh. Er hat ein literarisches Meisterwerk mit wissenschaftlichem Charakter geschaffen, bevor er sich – so jung noch – zum Sterben nach Zürich begab … Thelja, die schließlich ohne Spuren zu hinterlassen aus der Stadt verschwindet, wird offensichtlich vom Schatten dieses großen Poeten heimgesucht!
Ich will meinen Text mit einem Zitat beenden: Die einzig wirkliche Erinnerung an Paris für die Heldin, die doch das ganze Jahr über in dieser Stadt lebte, ist ein Satz, eingeritzt in die Fassade eines Hotels am Quai de Bourbon auf der Insel Saint Louis. In diesem Haus lebte Camille Claudel von 1899 bis 1913, die geniale Bildhauerin und unglückliche Geliebte von Rodin, die später in eine Anstalt eingeliefert wurde. Eingraviert in diese Steine finden sich die Worte aus einem ihrer Briefe an Rodin:
»Es gibt immer etwas Abwesendes, das mich quält.«
Dies ist, in meinem Roman, das letzte Zeichen, das Thelja mit ihrem Liebhaber aus Straßburg austauscht …
Halten wir fest: »Europa denken«, das ist etwas für die ausländischen Schriftsteller auf der Durchreise, im Exil, in der Emigration oder einfach in der Position eines Flüchtlings – »über Europa schreiben« bedeutet für die Niedergelassenen in Europa, für unsereins: »Diese Abwesenden, oder dieses Abwesende, das uns, das euch quält, heraufzubeschwören!« … In euch … In uns.
Ein einfaches Austauschen von Erinnerungen, die manchmal zu schwer wiegen.
Assia Djebar</P