Über Weißes Algerien
»'Weiß wirkt auf unser Gemüt wie die absolute Stille', sagte Kandinski. Wir spüren gleichzeitig die Unmöglichkeit der Worte und den Willen, uns auszudrücken. Darin liegt die Notwendigkeit des Schreibens. Wie die alten Männer, die bei uns auf der Straße im Staub sitzen, ihr Gesicht mit dem Burnus bedecken, wenn jemand vorübergeht, wie sich Menschen vor der Realität verschließen, das gibt mir ein Gefühl von Zorn und Ohnmacht. Man sagt sich: nein, ich kann nicht schreiben, ich warte. Später vielleicht...
Für eine lange Zeit war ich angesichts der Ereignisse in meinem Land in Aufruhr, wie blockiert. Ein Gefühl der Zerstörung. Die Situation in Algerien schien mir so, dass ich sie nicht beschreiben konnte, sie nicht erklären konnte. So explosiv und veränderlich, dass schon wieder neue Ereignisse eintreten, kaum hat man die Situation annähernd beschrieben oder analysiert. Ich sagte mir: ich kann nicht von den Toten reden, ich kann nicht über das brennende Haus weinen. Wie sollte ich von den jüngsten Ereignissen erzählen? Ich war blockiert und konnte nicht mehr schreiben.
Während meines Aufenthalts in Kalifornien hat sich dann durch die Distanz und Entfernung etwas in mir gelöst. Und bei meiner Rückkehr habe ich die Sehnsucht nach dem Schreiben wieder verspürt. Ich merkte, dass ich in der letzten Zeit jeden Tag Zwiegespräche mit meinen verstorbenen Freunden geführt hatte. Ich merkte, dass die Dahingegangenen in mir sprachen, entschlossen, alles zu erzählen. Das Haus brennt, das Feuer zerstört es, das frühere Algerien gibt es nicht mehr, aber ich kann den abwesenden Zeugen mit meinem Schreiben eine Stimme verleihen …
So habe ich angefangen Weißes Algerien zu schreiben. Die Arbeit am Text hat mich in frühere Zeiten zurückgeleitet, ich bin bis zu Albert Camus zurückgegangen und zu seiner Bedeutung für Algerien. Langsam habe ich mich anderen Schriftstellern angenähert – Kateb Yacine, Mouloud Mammeri, Hanna Greki, Mouloud Ferraoun zum Beispiel. Mir schien, als verbinde sie ein Schicksal mit unserer Erde. Wie wenn in unserer zeitgenössischen Literatur eine 'Liturgie des Todes', eine enge Beziehung zwischen dem Schreiben und dem Tod bestünde.
Aber durch die Toten tritt die Geschichte der Lebenden in den Vordergrund.«
Die mündliche Überlieferung
»Nie aufs Schreiben verzichten, wenn man eine Frau ist und aus dem Süden. Die Kontinente hören, das unendliche Schweigen seit Generationen, die allzulange ohne ein schriftliches Zeugnis blieben.
Aber die mündliche Überlieferung ist unerschöpflich, mächtig und magisch wie ein Ozean und dunkel wie das Vergessen!
So wird für uns das Schreiben eines Romans zu einem Neubeginn: erstmals den Anker auswerfen, der Überfülle von Erinnerungen begegnen, den Müttern, den Ahnen, den Erzählern und Erzählerinnen im Straßenstaub, die ihre improvisierten Verse durch den brodelnden Fluss der Jahrhunderte tragen.
Bis sie eines Tages am Ufer stranden und zur Ruhe kommen am Ohr eines Kindes – mitten im afrikanischen Busch oder im Innenhof eines arabischen Hauses oder in der Küche eines amerikanischen Vororts, wo eine Großmutter sich lachend erinnert.«
Warum ging Sherezades
Schwester mit?
Ich suchte zunächst in meiner eigenen früheren Kultur nach möglichen Vorbildern. In der Literatur fand ich in den Erzählungen von 1001 Nacht die Figur der Sheherazade, die durch ihre Phantasie erfolgreich war. Sie war bereit, die Frau des Königs zu werden, obwohl sie wusste, dass ihr, wie schon unzähligen Frauen zuvor, am nächsten Morgen der Tod drohte. Doch Sheherazade war eine kluge und mutige Frau, die auch für die anderen Frauen kämpfte. Sie griff zu einer List, indem sie an ihre Vermählung die Bedingung knüpfte, dass ihre Schwester sie begleiten müsse.
Nie hat sich jemand damit beschäftigt, weshalb die Schwester mitging. Es ist so schnell gesagt, sie ging mit, weil sie wachen sollte, aber wenn sie nicht gewacht hätte? Es ist ja so, dass im Orient die Schwester einer Frau für den Mann tabu ist. Tatsächlich war Sheherazade so klug, ihre Schwester als Verbündete zu sehen. Denn wenn die Schwester mitgeht, geht sie als Wächterin, als hundertprozentige Verbündete. Auf sich alleine gestellt, hätte auch eine noch so brilliante Sheherazade nichts erreichen können. Symbolisch habe ich diese Idee in meinem Buch Die Schattenkönigin aufgegriffen: Isma kann sich nicht ohne Hajila befreien und umgekehrt, Hajila nicht ohne Isma. Diese Überlegung liegt auch zugrunde, wenn ich sage, dass die Frauen bei uns nur so weiterkommen.
Das Polemische liegt mir nicht
Ich habe Algerien 1980 verlassen, und zwar wegen meiner Arbeit, weil ich, eine Frau, schreiben wollte. Um arbeiten zu können, muss ich mich frei bewegen, auf der Straße oder in Cafés Leute beobachten können, aber in Algier war das 1978, 79 nicht möglich. Ich hatte damals schon ein gewisses Alter, eine gewisse Position an der Universität, ich hatte Freunde, ich hatte ein Haus, ein gesichertes Leben. Und dennoch drängte sich mir als Frau der Eindruck auf, wenn ich in diesem Land bliebe, würde ich im Schreiben nur meinen Protest ausdrücken. Aber das Polemische liegt mir nicht. Selbst wenn man in Algerien gar nicht in Anführungszeichen 'feministisch' sein will, man wird es dennoch zwangsläufig. Angesichts der Beziehungen zwischen Mann und Frau überkommt einen manchmal das Bedürfnis, die Wahrheit herauszuschreien, nicht nur, sie leise zu sagen. Selbst in der Mittelschicht, selbst bei Leuten, die sich demokratisch nannten, hatte ich das Gefühl, was sie über Frauen dachten, war, wie soll ich es ausdrücken ... wie ein schleichendes Übel. So beschloss ich mit über vierzig Jahren, nach Paris zurückzukehren, ein sparsames, einfaches Leben wiederaufzunehmen und meine Zeit dem Schreiben zu widmen. Über mein Land zu schreiben, aus der Entfernung, aber um es in seinem tiefsten Grund zu erfassen und mich nicht damit zu begnügen, oberflächlich zu denunzieren.
Es ist mein Französisch
Ich habe mir die französische Sprache nicht ausgesucht, denn ich ging in den vierziger Jahren, während der Kolonialzeit, in eine französische Schule. Damals war ich übrigens, bis zum Abitur, die einzige arabische Schülerin, man nannte das 'Eingeborene', unter lauter Französinnen, die Töchter kleiner Grundbesitzer waren. Selbst wenn ich das literarische Arabisch in der Schule hätte lernen wollen, es wurde gar nicht unterrichtet. Ich habe Englisch gelernt, Latein und Griechisch, aber Arabisch habe ich in der Koranschule gelernt, wie ich es in 'La Fantasia' erzähle, das heißt in einer kleinen Privatschule.
Das Französische ist also auch die Sprache meiner intellektuellen Bildung, sie hat den Platz des Arabischen eingenommen. In Tunesien wurde ganz normal in den Höheren Schulen bis zum Abitur in Arabisch unterrichtet. Nur in Algerien wurde uns unter dem Kononialregime 150 Jahre lang die Schulbildung in arabischer Sprache vorenthalten. Ich habe mir das Französische also nicht ausgesucht, und ich kann sagen, bis ich 30 Jahre alt war, habe ich meine ersten Romane geschrieben, ohne mir die Probleme zu überlegen, die das für meine Identität mit sich brachte.
Deshalb verfiel ich schließlich zehn Jahre lang in Schweigen. Bei meiner Arbeit an dem Film "La nouba des femmes" erstellte ich eine arabische Version und ließ die Frauen im O-Ton sprechen. Nach der intensiven, zweijährigen Arbeit an diesem Film habe ich einen neuen Zugang zu meinem Schreiben gefunden, als hätte ich das Französische diesmal selbst gewählt. Ich habe begriffen, daß ich weiter französisch schreiben konnte, und dieser Sprache meinen eigenen Rhythmus, meine Art des Fühlens zuführen konnte, wie auch meine Figuren, die ich in einer anderen Sprache reden höre.
Seit diesem Moment wurzelt wahrscheinlich mein Stil, möglicherweise aber auch mein gedanklicher Aufbau, auf jeden Fall der Rhythmus meiner Sätze, in einem Feld außerhalb der französischen Sprache, nämlich im Arabischen und Berberischen. So kann ich jetzt die französische Sprache akzeptieren, weil ich sie gestalte. Es ist mein Französisch.