Assia Djebar - Am Siedepunkt des Schmerzes
Le Monde des Livres, Mai 1985
Romanautorin, Historikerin, Filmschaffende, ehemalige Schülerin der Ecole Normale Supérieure in Sèvres, geboren 1936 in Algier, eine der großen Schriftstellerinnen des Maghreb: Assia Djebar. Ihr fünfter Roman, Fantasia, ist eine literarische Plünderung als Antwort auf die Leiden eines Landes.
Von Stimmen und Gesängen eingeleitet oder unterbrochen, stellt sich der Roman Assia Djebars wie eine Partitur in fünf Sätzen dar. Die Kindheit einer Frau verschmilzt mit dem Bericht des ersten Algerischen Krieges (1830-1871), verbindet sich dann mit den der jüngsten Vergangenheit entrissenen Erinnerungen von Landfrauen und Witwen, die mit Scham und Demut vom Befreiungskrieg erzählen. »Diese Frauen«, so Assia Djebar, »machen keine Literatur aus ihrem Leben; je mehr sie während des Krieges erlitten haben, um so verhaltener sprechen sie. Ich habe ihrem ungeschminkten Bericht zugehört und wollte das neunzehnte Jahrhundert für sie übersetzen, meine Stimme mit der ihren vermischen.«
Während dieser Suche in der Vergangenheit entdeckt sie, dass die französische Sprache, in der sie schreibt, von Blut befleckt ist. Während sie die Berichte der Offiziere und Aristokraten über die Einnahme Algiers liest, wird ihr deutlich, dass die Zeugen dieser Gewalt in ihrer Sprache geschrieben haben: »Ich bin die Erbin derjenigen, die töten«, sagt sie. »Mit diesem Buch habe ich bezeugt, dass Blut klebt am sprachlichen Erbe.«
Die Erinnerung Assia Djebars ist erfüllt von einem doppelten Massengrab, das sie schon in einem Film zu exorzieren versuchte: »Zerda, oder die Gesänge des Vergessens (la Zerda ou les Chants de l'oubli)«. Der Oberst Pélissier verfasst seinen Bericht über den ersten algerischen Feldzug mit der Genauigkeit und dem Zynismus eines Voyeurs. Am 19. Juni 1845 wird er Zeuge der Feuersbrunst in den Höhlen des Ouled Riah, wo eintausendfünfhundert Personen durch 'Ausräucherung' vernichtet wurden. Saint-Arnaud, ein anderer Oberst, hat weniger als zwei Monate später achthundert Personen eingemauert und schreibt: »Ich habe alle Zugänge hermetisch zustopfen lassen und einen großen Friedhof daraus gemacht.«
Dieser Roman ist aber auch ein Buch über die Liebe. Die des Körpers und die der Sprache. Aber diese Liebe wird nie benannt. In der traditionellen maghrebinischen Gesellschaft nennt der Mann seine Frau niemals beim Namen. Er erwähnt Frau und Kinder durch die Umschreibung »das Haus«. Der Vater der Erzählerin bricht mit dieser Tradition. Er ist ein Lehrer, der seine Töchter auf die französische Schule schickt und will, dass sie ihrer Zeit voraus sind, ohne dies besonders hervorzuheben, und der – eine unerhörte Ausnahme – seiner Frau schreibt, sie also beim Namen nennt und mit »Madame« anredet.
»Sich beim Namen nennen bedeutet, sich offen zu lieben«, sagt Assia Djebar. Die französische Sprache dient so trotz der von ihr geschlagenen Wunden dazu, Entfernungen zu verringern: »Ich lernte Französisch, und mein Körper europäisierte sich auf seine Weise.« Wenn man den Vater fragte, warum seine Töchter keinen Schleier trugen, antwortete er: »Weil sie lesen«, was im Arabischen »studieren« bedeutet.
Dank der französischen Schule blieben die Mädchen davor verschont, eingeschlossen zu werden, und lernten eine vierte Sprache, um ihre Wünsche zu äußern. Die drei anderen sind das Arabische, um die Seufzer auszudrücken, das Libysch-Berberische, um die uralten Idole wieder zu finden, und schließlich die (wenn auch analphabetische) Sprache des Körpers, welche tanzt, in Trance verfällt und schreit. Das Französische ist dem heimlichen Schreiben vorbehalten: schreiben, um sich auszudrücken, sich auszudrücken, ohne sich zu entblößen.
Assia Djebar zitiert diesen Satz von Michaux: »Ich schreibe, um mich zu durchreisen.« Sie macht ihn sich zu eigen und setzt ihn fort: »… mich zu durchreisen im Verlangen nach dem Feind von gestern, dessen Sprache ich gestohlen habe.« Auf Französisch zu schreiben bedeutet, sein Dasein entblößen, mehr als die Haut zeigen, auf die Plünderung des Landes antworten. Mit diesem Buch hat Assia Djebar versucht, auf sich selber zurückzukommen, indem sie das Gedächtnis der Geschichtsbücher durchforscht und den Blick der Frauen, die ihre Männer - Ehemänner und Söhne - im Krieg verloren haben und deren Augen trocken sind, da die »Männer, die ihnen zur Seite standen«, nicht mehr da sind, um sie zu schützen.
Am Schluss des Buches erzählt Assia Djebar zu den Klängen einer Nay (einer ländlichen Flöte), dass in einer imaginären Zeit Eugène Fromentin ihr eine abgeschlagene Hand gereicht habe, die er Juni 1853 im besetzten Langhouat gefunden hat und niemals zeichnen konnte. Diese Hand einer namenlosen Algerierin hat hundertdreißig Jahre später die Romanschriftstellerin erschüttert. Sie überreicht ihr das »Qualam«, die Feder. Das Buch beginnt mit der Hand eines kleinen arabischen Mädchens, dessen Vater sie zum ersten Mal zur Schule mitnimmt. Die Geschichte schließt mit einer anderen Hand, diesmal einer ausgerissenen, die aus der Tiefe der Schatten Zeugnis ablegt, erzählt, schreibt, zeichnet und uns leitet.
Assia hat von sich selber in einer anderen Sprache als der der Ahnen gesprochen, in einer reinen, klaren Dichtkraft. Sie sagt, sie habe sich entschleiert. Und wirklich, sie ist aus der Kindheit herausgetreten, um sich endgültig daraus zu verbannen. Der Körper der Frau ist dem Eroberer entronnen. Dies wird uns heute erzählt, in großartiger Sprache, durch eine große Schriftstellerin.