Eine Frau aus Algier
Veröffentlicht als Nachwort
zur amerikanischen Ausgabe
von Die Frauen von Algier
An einem milden Frühlingstag des Jahres 1957 nahm eine junge Algerierin – sie war noch keine einundzwanzig – in Paris ein Taxi zu Julliard, dem bekannten Verlag, der gerade ihren ersten Roman La Soif angenommen hatte. Der Vertrag, den sie unterzeichnen sollte, war im Grunde wertlos, weil sie noch nicht volljährig war. Aber die junge Autorin hatte viel größere Sorgen. Ein Fototermin mit der Frauenzeitschrift Elle war vereinbart, deren Redakteur auch biografische Angaben wünschte. Weil sie sich Sorgen machte, wie ihre Familie wohl auf ein Buch reagieren würde, in dem von Erotik die Rede war und das sie außerdem zu einer Zeit geschrieben hatte, als sie eigentlich für ihre Examen hätte lernen müssen, beschloss sie impulsiv, ihre Haare abzuschneiden, ihr Geburtsdatum zu ändern und ein Pseudonym zu verwenden. Es klappte nicht. Einige Wochen später kam ihre Mutter, die beim Friseur in der Illustrierten blätterte, ihr auf die Spur.
Während das Taxi durch die Straßen von Paris fuhr, bat die junge Schriftstellerin ihren Verlobten, einen algerischen Nationalisten, der sich bald auf der Flucht vor der französischen Polizei befinden würde, ihr die neunundneunzig rituellen Anrufungen für Allah aufzuzählen, in der Hoffnung, darunter ein geeignetes Pseudonym zu finden. Sie wählte djebbar aus, ein Wort, das Allah als 'unversöhnlich' preist, schrieb es in der Eile aber falsch, nämlich 'djébar', wodurch sie das klassische Arabisch unbeabsichtigt in den landessprachlichen Ausdruck für 'Heiler' verwandelte. Der Accent aigu wurde bald weggelassen, aber zumindest ein französischer Gelehrter, der mit dem Arabischen vertraut ist, Jacques Berque, nannte sie 'Djebbar', als er 1985 ihren Roman L'amour la fantasia (dt. Fantasia) rezensierte. Auf 'Assia' verfiel sie, »einfach, weil es ein Vorname war, der sich in der ganzen Familie großer Beliebtheit erfreute«. Aber er hat weitreichende symbolische Anklänge. In der arabischen Standardsprache bedeutet er Asien und den mysteriösen Orient, 'orientalisiert' folglich die Trägerin. Zufällig ist es auch der Name der ägyptischen Prinzessin, die Moses rettete und deshalb in der algerischen Folklore als Heilige verehrt und 'Pharaos Schwester' genannt wird. In der Landessprache heißt so die Blume, die wir als Immortelle oder Edelweiß kennen.
Mehr als zwanzig Jahre später, in Die Frauen von Algier, bezeichnet sich die 'Heilerin' im Text einmal als sourcière, als Rutengängerin, die in die unterirdische Realität des weiblichen Schweigens einzudringen versucht, um das totenähnliche Leben im Harem zu beschwören und ihren vergessenen Schwestern eine Art Unsterblichkeit zu schenken.
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Assia Djebar wird oft die begabteste Künstlerin genannt, die in diesem Jahrhundert aus der moslemischen Welt hervorgegangen ist. Feministin, Sprecherin für ihre ans Haus gefesselten Schwestern, furchtlose Kritikerin ihrer traditionalistischen Brüder, selbstbewusste Schriftstellerin der Dritten Welt und ebenso selbstbewusste internationale Referentin, ist Djebar eine Frau der Kontraste, deren Einsatz inmitten der Wirren des Postkolonialismus bewundernswert ist.
Als zu Beginn der Achtzigerjahre Die Frauen von Algier erschien, war die ehemalige Universitätsdozentin, die viele Einladungen amerikanischer Universitäten abgelehnt hatte, »weil ich dort eine Rolle hätte spielen müssen, die mir nicht liegt«, bereits eine gefragte akademische Referentin, im Westen genauso zu Hause wie in der islamischen Welt. Schon ein Jahr zuvor war ihr mit La Nouba des femmes du Mont Chenoua (Die Feier der Frauen vom Berg Chenoua) – das Drehbuch stammte von ihr, sie führte selber Regie und produzierte ihn auch selbst – ein ungewöhnlicher Erfolg gelungen war. Nouba erhielt bei der Biennale von Venedig den ersten Preis.
Kenner schätzten Assia Djebars literarische Werke schon seit vielen Jahren. Aber es war dann Fantasia, ihr erster Roman nach fast zwei Jahrzehnten, mit dem sie die Herzen ihrer Leser zurückeroberte. Les Alouettes naïves war 1967 erschienen, und viele hatten befürchtet, dass sie nie wieder einen Roman veröffentlichen würde. Wochenlang ein Bestseller in Frankreich und Nordafrika, erhielt Fantasia 1985 den Franko-Arabischen Freundschaftspreis für Literatur. In der normalerweise zurückhaltenden Times Literary Supplement war Ivan Hill nicht nur von »einer leidenschaftlichen Identitätssuche, sondern auch von der kulturellen und historischen Ausbeute an Bildung und Gedankengut« sowie von »Djebars Lust an der Sprache« beeindruckt. In Frankreich herrscht unter den Kritikern seltene Einmütigkeit. Jacques Berque schwärmte im Nouvel Observateur: »Dieser brillante Ausbruch von Romantik, dieses Nachdenken über Soziologie, diese halbbiografische Beichte … verbinden sich zu einer kunstvoll gewebten Erzählung, die den Leser weit, sehr weit von Camus' strengem Mittelmeer-Klassizismus wegführt«. In Anbetracht der Tatsache, dass Camus in den letzten fünfzig Jahren als kompetentester Kenner Algeriens galt, war Berques Vergleich bedeutsam. In nachfolgendem Interview distanziert sich Djebar kühl von dem berühmten, in Algerien geborenen Franzosen und beansprucht mit scharfem Gespür für ihr eigenes Territorium »das ganze Algerien, einschließlich des Hinterlands, während Camus nur die Küste umarmte«.
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Als moslemische Frau, die nach dem französischen System erzogen wurde, während ihr Land sich de facto noch unter kolonialer Herrschaft befand, und als Zeugin eines fast acht Jahre währenden brutalen Krieges ist Assia Djebar die einzige Schriftstellerin ihrer Generation, der es gelang, sowohl vor der Unabhängigkeit ihres Landes als auch danach eindrucksvolle Leistungen zu erbringen. In ihren Werken geht es immer um Probleme, die mit dem Übergang von kolonialer zu postkolonialer Kultur zu tun haben: um die Definition einer Nationalliteratur, um die Debatte über kulturelle Authentizität, um die problematische Frage der Sprache und um die Integration der Frau in eine patriarchalische Gesellschaft. Die Frauen von Algier sind ein Markstein auf dem Weg zu neuen Ufern und deuten den Beginn einer Meditation über Geschichte an: die Geburtsstunde einer starken feministischen Stimme, die schreckliche Wahrheiten ausspricht, aber ohne Groll und Bitterkeit – »meine eigene Art von Feminismus«, wie sie selbst sagt.
Verletzt über die Kontroverse, die ihr erster Film in Algerien ausgelöst hatte, und der Behauptung Glauben schenkend, dass Kurzgeschichten sich nicht gut verkaufen, hatte sie das Manuskript dem kleinen feministischen Verlag Editions des Femmes überlassen, anstatt sich mit Algeriens staatlich kontrolliertem SNED herumzustreiten, der früher ihr Stück Rouge l'aube (Rote Morgendämmerung, 1969) und ihren Gedichtband Poèmes pour l'Algérie heureuse (Gedichte für ein glückliches Algerien, 1969) veröffentlicht hatte. Seit Nouba, einem vom Staat finanzierten Film, standen die Zensoren ihren Arbeiten misstrauisch gegenüber. Als ich Assia Djebar im Jahre 1976 zum ersten Mal in Algier traf, bereitete sie gerade die Dreharbeiten für diesen Film vor. Bei unserem ersten Gespräch gestand sie, das Projekt als reinen Dokumentarfilm über den Krieg, als Glorifizierung männlichen Heldentums präsentiert zu haben, um die Zensur zu überlisten. Sie verwandelte ihn prompt in einen halb fiktionalen Bericht über die Beteiligung der Frauen an diesem Krieg, wobei sie mit harscher Kritik an den menschlichen und sozialen Kosten eines solchen Heroismus nicht sparte.
Die Frauen von Algier wurden in erster Linie für ein algerisches Publikum geschrieben. Bedauerlicherweise war Algerien aber nicht bereit, die Risse in seinem sozialistischen Spiegel zu betrachten. Die überwältigend positive Aufnahme der Erzählungen in Europa. Antonella Boralevi widmete Assia Djebar die ganze erste Seite der Literaturbeilage des Messaggero widmete und feierte sie als Pasionaria des modernen Algerien. In den USA nannte die gebürtige Tunesierin Hédi Abdeljouad, die ihre wissenschaftliche Ausbildung in Amerika erhielt, die Erzählungen »einen Wendepunkt in Djebars Karriere und in der Ästhetik des Maghreb insgesamt«.
In Nordafrika wird Assia Djebar gelobt oder zensiert, abhängig von den ideologischen Schwankungen der jeweiligen Regimes. Im Nahen Osten ruft sie Kontroversen hervor, seit sie als Sponsorin der französischen Übersetzung von Ferdaous fungierte, eines Romans von Nawal Al Saadawy, der ehemaligen ägyptischen Gesundheitsministerin, einer Soziologin und Medizinerin, die entlassen und schließlich sogar eingesperrt wurde, weil sie über Frauenprobleme gesprochen hatte, darunter auch über die schreckliche Erfahrung ihrer eigenen rituellen Beschneidung als Kind. Mit kompromissloser Ehrlichkeit spricht Djebar über eine Kultur, die die Frau glorifiziert, um sie umso mehr zu unterdrücken.
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Das folgende Interview ist aus mehreren Gesprächen in verschiedenen Jahren entstanden. Das erste wurde 1976 auf der Terrasse eines vornehmen Hotels hoch in den Hügeln von Algier geführt. Weder sie noch ich hätten es uns leisten können, hier zu wohnen, aber die weiten, offenen Gärten ermöglichten ein vertrauliches Gespräch. Sie deutete an, dass es besser sei, wenn ich nicht den Eindruck erwecke, sie zu interviewen. In Algeriens brandneuer Verfassung war damals der Islam soeben wieder Staatsreligion geworden, und damit läutete die Totenglocke für die öffentliche Teilnahme der Frauen an der neuen Gesellschaft; trotz Präsident Boumédiennes offizieller Kampagne für die Emanzipation der maghrebinischen Frau waren auf Algiers Straßen kaum Frauen zu sehen, ob nun verschleiert oder nicht. Unsere nächste Begegnung kam 1987 zustande, während der Jahreskonferenz der Gesellschaft für Afrikanische Literatur in der Cornell University, wo wir über das Projekt sprachen, Die Frauen von Algier ins Englische zu übersetzen. Aber infolge des riesigen Erfolgs ihres Romans von 1987, Die Schattenkönigin, war Assia Djebar beschäftigter denn je. Erst im Sommer 1990 konnten wir beide uns in dem kleinen, mit Flieder umrankten Hof hinter ihrem winzigen Haus am Rand von Paris zusammensetzen, einem Haus, das große Ähnlichkeit mit einer algerischen Villa hat. Schließlich führten wir im Sommer 1991 ein weiteres dreistündiges Gespräch, und im Dezember 1991 ein letztes einstündiges, beide wieder auf Band aufgezeichnet.
Aus diesen verschiedenen Unterhaltungen zusammengeschnitten, umspannt das nachfolgende Interview ein langes und vielseitiges Berufsleben; die Beziehung zwischen Schreiben und Filmemachen wird ebenso erörtert wie ihre wechselnde Poetik, deren Beziehung zu den anderen Künsten und zum Französischen, der Sprache der Eroberer (»sie kamen, sie töteten, sie eroberten«). Trotz ihrer Wachsamkeit offenbarte sie allmählich immer mehr von ihrem Werk, bis hin zu jenem cœur intime, jenem innersten Herzen oder Kern (das französische Wort kann beides bedeuten), dessen Schutz ihr so wichtig ist.
Das Gedächtnis einer Frau
umspannt JahrhunderteInterview mit Assia Djebar
Clarisse Zimra: Assia Djebar, können Sie uns etwas über Ihre Herkunft erzählen, über Ihre Familie, Ihre Schulzeit? Was hat die ehrerbietige Tochter traditioneller moslemischer Eltern, aufgewachsen in puritanischer Umgebung, wie Sie selbst oft gesagt haben, was hat diese Tochter dazu verleitet, in einer Kultur, die Frauen nicht zum Schreiben ermutigt, eine französische Schriftstellerin zu werden?
Assia Djebar: Ich befürchte, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Ich ertrage solche ausgesprochen autobiografischen Fragen nicht, und Sie sehen an meinen anderen Interviews, dass ich sie nie ordentlich beantworten konnte. Mutter, Vater, Bruder, Schwester – sie sind hier nicht von Interesse. Man hat mich schon zu oft nach ihnen gefragt.
Ich möchte nicht indiskret sein und werde meine Frage deshalb anders stellen. Die Frauen von Algier war als eine Art Tagebuch moslemischer Probleme gedacht, und doch wurde es über Grenzen hinweg begeistert aufgenommen. Es war für Frauen der Dritten Welt bestimmt, und doch erkannten sich Frauen der Ersten Welt darin wieder. Wie sollten Leser an dieses Werk herangehen?
Wenn ich gebeten werde, mich einem Publikum vorzustellen, das vielleicht nicht alle meine Werke gelesen hat, so tue ich das mit folgenden Worten: »Ich wurde in Algerien geboren. Am Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren schrieb ich vier Romane. Dann veröffentlichte ich etwa zehn Jahre lang nichts mehr. Zwei Jahre arbeitete ich an einem Film, der sich mit den Frauen meines Stammes beschäftigte, wobei ich mich auf das vertraute Territorium meiner Kindheit begab, tief darin eintauchte. Hinterher kehrte ich zur Schriftstellerei zurück. Ich war gerade vierzig geworden. Zu dieser Zeit fühlte ich mich endlich voll und ganz als französischsprachige Schriftstellerin, obwohl ich durch und durch Algerierin blieb.«
Ich will damit Folgendes klarstellen: Was mich interessiert, ist die Beziehung zwischen Schriftstellerei und Autobiografie, denn im Gegensatz zum üblichen Schema der Frauenliteratur westlicher Tradition, die ausgesprochen subjektiv ist, habe ich das Schreiben anfangs als eine Art von Herausforderung betrieben, mit dem Ziel, meinem eigenen Ich so fern wie nur irgend möglich zu bleiben. In meinen literarischen Arbeiten klammerte ich mein persönliches Leben total aus.
Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie sich in den frühen Romanen sozusagen vor sich selbst versteckt. Wie haben Sie es geschafft, aus dieser Deckung hervorzukommen?
Das weiß ich noch ganz genau. Ich kann Ihnen heute sogar exakt den Punkt nennen, an dem ich plötzlich blockiert wurde. Ich schrieb Les Alouettes naïves und skizzierte gerade das Leben eines jung verheirateten Paares. Anfangs dachte ich, dass dieses ganze private Zeug nicht in den Roman gehörte, weil es vom übrigen Inhalt wegführte, weil mitten in einer Kriegsgeschichte plötzlich von gegenseitiger erotischer Erfüllung die Rede war. Heute glaube ich, dass ich zwar dachte, ich würde so weit wie nur möglich von mir selbst entfernt schreiben, dass meine fiktive Welt mich im Grunde aber plötzlich eingeholt hatte. Ich konnte nichts dagegen tun. Mein Leben als Frau hatte mir ein Bein gestellt. Und nun hatte ich das Gefühl, als würde ich … als würde ich mich in doppelter Weise exponieren. Erstens, weil ich als Algerierin, die jedoch ein westliches Leben führte – oder jedenfalls diesen Anschein erweckte –, ohnehin schon etwas exponiert war. Und zweitens, weil ich mir noch viel exponierter vorkam, wenn ich meine innersten Gefühle offenbarte. Deshalb zog ich es lange Zeit vor zu schweigen. So als könnte ich nicht über jenen innersten Kern hinaussehen, so als … so als wäre das Schreiben eine Art Selbstmord.
Ihre Fragen zwingen mich jetzt, mir selbst die Frage zu stellen: Warum sind mir autobiografische Fragen ein solches Greuel? Ich glaube, das kommt daher, weil ich in meinen ersten drei Romanen meinem eigenen Leben systematisch den Rücken zuwandte – kurz gesagt, weil ich mich energisch gegen die autobiografische Dimension des Schreibens sperrte. Diese Erkenntnis führt mich heute dazu, meine heftige Reaktion auf Ihre ersten biografischen Fragen neu zu überdenken. Jetzt bin ich fast froh, dass Sie sie gestellt haben. Na ja … fast!
Der Mittelteil von Alouettes unterbricht die lineare Abfolge und zerbricht die zeitliche Struktur. Aber er ist in Bezug auf Bilder und deren Symbolik von größter Bedeutung, denn dieselben Bilder verwenden Sie auch in Die Frauen von Algier.
Sie zwingen mich, in meinen Erinnerungen zu wühlen. Ich selbst lebte damals in einem seligen Glückszustand, ich erlebte eine Liebesgeschichte außerhalb des Zeitgeschehens, und dieses private Glück war ein bisschen statisch. Da lebte ich nun inmitten so vieler anderer Exilierter. Ich beschloss, einen Roman zu schreiben, der die verschiedenen Stadien des unter ihnen erwachenden politischen Bewusstseins schildern sollte. Es waren größtenteils junge Leute, und nicht alle waren Opfer des Krieges. Ein sehr gemischter Haufen. Mein Verhältnis zur Autobiografie, das damals vielleicht seinen Anfang nahm, bestand hauptsächlich in der plötzlichen Erkenntnis, dass wir alle nur Randfiguren waren, Akteure auf den Seitenlinien, um einen Ausdruck zu gebrauchen, der manchen Leuten nicht gefallen wird.
Verglichen mit Ihren frühen Romanen ist Alouettes ein dickes Buch von fast fünfhundert Seiten. Einige Stücke daraus, die wie Überreste wirken oder aber deutlich als Fortsetzungen zu erkennen sind, wurden später in Frauen von Algier aufgenommen, das dreizehn Jahre später erschien. Was hat Sie dazu bewogen? Waren sie in politischer Hinsicht zu brisant, um früher veröffentlicht zu werden?
Diese Erzählungen stehen meinem Herzen noch immer nahe. Beispielsweise stürzte bei 'Die Toten sprechen' das autobiografische Element förmlich über mich herein, eine mächtige Welle, ausgelöst durch den Tod meiner eigenen Großmutter acht Tage nach Algeriens Unabhängigkeit am 1. Juli 1962. Was die letzte Geschichte betrifft, 'Nostalgie der Horde', so gab meine ehemalige Schwiegermutter mir die Idee dazu ein; sie zeigte mir, dass das Gedächtnis einer Frau Jahrhunderte umspannt – das Gedächtnis einer einzigen Frau. Sie erzählte mir von einer vergessenen alten Frau, die ihr von den früheren Zeiten zu erzählen pflegte. Und dies ist genau die Art und Weise, wie algerische Frauen die Vergangenheit überliefern: Sie erzählen die Geschichte der Kolonisation, aber sie erzählen sie anders als die Geschichtsbücher. Während ich ihr zuhörte, dachte ich mir: »Ich werde eine Sammlung von Erzählungen schreiben.« Ich wollte der ganzen Welt zeigen, dass ich als Schriftstellerin einen zweiten Anlauf nehme, in einer neuen Tonart. Sobald ich diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte ich mich mit mir selbst versöhnt. Zehn Jahre lang hatte ich zwar keinen regelrechten Bruch, aber doch eine Art Loslösung von mir selbst erlebt. Ich hatte eine Entdeckung gemacht: Über sich selbst zu schreiben, bringt einen in tödliche Gefahr.
Gab es noch andere Gründe? Ich denke dabei an die Ereignisse auf Algeriens politischer Bühne, an das langsame Anziehen der Schraube in bezug auf die bürgerlichen Freiheiten der Frauen. Und war es in ästhetischer Hinsicht nicht Ihr Film – dieses neue Medium, das hauptsächlich das Auge forderte – der Sie zwang, Ihre Sicht der Dinge zu überdenken? Oder wurden Sie noch immer von dem alten Problem der Sprache geplagt?
Ah, das Problem der Sprache! Ich weiß, ich habe vielen Journalisten erzählt, dass mein Schweigen etwas mit meinem problematischen Verhältnis zur Sprache zu tun hatte. In erster Linie behauptete ich das, um in Ruhe gelassen zu werden. Aber Ihre Fragen zwingen mich zum Nachdenken, und ich bin davon überzeugt, dass etwas anderes zugrunde lag – dass dieses Schweigen seine Ursache tief in mir selbst hatte. Ich weiß beispielsweise, dass ich bis Fantasia warten musste, um wirklich die Kontrolle über meine Arbeit zu übernehmen, um mein innerstes Wesen in meine Werke einzufügen. Sie haben auch in dieser Hinsicht Recht. Ohne die Hilfe der Malerei, ohne die 'Vermittlung' von Malern hätte ich es nicht geschafft.
Aber Sie behaupten nicht, dass die Frage der Sprache überhaupt keine Rolle spielte, oder?
Es war nicht die Sprache als solche, sondern das, was ich als Abgrund zwischen den beiden Sprachen bezeichne, zwischen Arabisch und Französisch, einen Abgrund, der den gähnenden Abgrund zwischen zwei Gesellschaften widerspiegelt, die immer noch Seite an Seite leben, einander aber beharrlich den Rücken zuwenden. Ich habe es oft gesagt. Die Erziehung, die ich von meiner Mutter und anderen Verwandten erhielt, basierte auf zwei unumstößlichen Regeln: Erstens, sprich nie über dich selbst; und zweitens, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, so sprich zumindest 'anonym'.
Anonym? Ich glaube, das müssen Sie für Leser, die nicht aus dem Maghreb stammen, näher erläutern. Wie streng war dieses Tabu? Und galt es nur für eine gemischte Gesellschaft?
Das Tabu gilt auch heute noch, und zwar sogar dann, wenn Frauen unter sich sind. Werfen Sie einen Blick auf Fantasia. Wenn Frauen unter sich sind, dürfen nur die älteren reden, die jüngeren müssen schweigen. Diese Generationenordnung ist für Männer genauso obligatorisch. Die älteren Männer haben immer den Vorrang vor den jüngeren, die oft überhaupt nicht zu Wort kommen.
Anonymes Sprechen bedeutet, dass man nie die erste Person Singular benutzen darf. Als ich nach dem Krieg nach Hause kam, lebte ich im Haushalt meiner Schwiegermutter in einem sehr traditionellen Milieu. Sobald ich mit einer Gruppe Frauen allein war, stellte ich Fragen, wollte persönliche Meinungen oder persönliche Einzelheiten erfahren. Aber die Frauen reagierten immer äußerst zurückhaltend, unabhängig von ihrem Alter. Es kam ihnen so vor, als wollte ich herumschnüffeln; es kam ihnen anstößig vor. Ich hingegen hatte auch im Westen Erfahrungen gesammelt, westliche Verhaltensweisen angenommen. Wenn ich einen Roman schreibe, muss ich die entgegengesetzte Strategie anwenden: Um eine westliche Erzählung zu schreiben, muss ich subjektiv reden, das heißt in der ersten Person. Damals habe ich begriffen, dass das Problem über den territorialen Aspekt dieses Abgrunds zwischen den beiden Sprachen weit hinausgeht. Zwischen Alouettes (1967) und Fantasia (1985) lagen achtzehn Jahre, und innerhalb dieses Abgrunds dienten Frauen von Algier, wie Sie selbst gesagt haben, als Wegweiser zu einem neuen Territorium.
Ich habe immer vermutet, dass es der Film war, der Ihnen den Durchbruch ermöglichte. Indem Sie lernten, einen Film zu machen, lernten Sie auch, auf eine neue, andere Art zu schreiben.
Der Film war ein entscheidender Faktor. Nach den zwei Jahren Filmarbeit, in denen ich vor allem Augen und Ohren eingesetzt hatte, begann ich die erste Erzählung, 'Die Frauen von Algier in ihrem Gemach', und schrieb sie außerordentlich schnell nieder, obwohl ich zehn Jahre nichts veröffentlicht hatte. Wie Sie wissen, sollte die Geschichte ursprünglich als Keimzelle für das nächste Filmprojekt dienen, einen Film über die städtischen Frauen von Algier. Es war als Gegenstück, als Ergänzung zu Nouba gedacht, einem Film über die bäuerlichen Frauen im Hinterland.
Und was ist aus diesem Filmprojekt geworden?
Mein Privatleben nahm eine andere Wendung. Ich heiratete meinen zweiten Mann, einen algerischen Dichter, der in Paris lebte. Wenn ich diesen zweiten Film gedreht hätte, hätte ich nach Algerien zurückkehren und vielleicht zwei Jahre meines Lebens in das Projekt investieren müssen. Filmproduktion ist eine ziemlich langwierige Prozedur. Statt dessen kehrte ich mit großer Erleichterung und Freude zum Schreiben zurück: Ich hatte wieder die Kontrolle. Diesmal nahm ich weder die Position einer beobachtenden Außenseiterin ein noch die einer algerischen Frau oder eines kolonialisierten Wesens. Ich definierte mich selbst als Blick, ich wollte meinen ureigenen Raum auf ganz bestimmte Weise betrachten. Das wäre auch der Ausgangspunkt meines Films über Algier gewesen.
Eine Vielzahl von Blicken – darum geht es ja auch in Delacroix' Gemälde Die Frauen von Algier in ihrem Gemach. Wer sieht wen an? Fantasia beginnt auf ganz ähnliche Weise. Ich würde das Ihre Matrixszene nennen. In Fantasia hat sich ganz Algier auf den Wällen versammelt, Männer, Frauen, Kinder, alle starren die mit der Flut einlaufenden Schiffe der Invasoren an, während diese Invasoren ihrerseits an Deck stehen und die Stadt anstarren, die sie erobern wollen. Wer ist Subjekt, wer Objekt: Wissen sie es selbst?
Sie haben völlig Recht. Ohne die Filmerfahrung, die meiner Schriftstellerei den Blick einer Filmemacherin verlieh, hätte ich das nie geschafft. Das Filmen gab dem Schreiben eine bestimmte Sicht der Dinge, und Französisch wurde meine Kamera. Im Gegensatz dazu beginnt meine Filmarbeit immer mit dem Ton. Die Musikkundlerin, die sich so für alte Lieder begeistert – sehr lange Zeit war ich sie, oder sie war ich. Ich ging oft ins Institut, um mir alte Volkslieder aus Laghouat oder Tlemcen anzuhören. Und jetzt fällt mir auch ein, dass ich – als ich Geschichte unterrichtete – immer auch mündliches Material verwendete, fast ohne darüber nachzudenken.
Sind die starken weiblichen Vorfahren, denen Sie Ihre Reverenz erweisen, für Ihren Feminismus verantwortlich?
Für mich war Feminismus von jeher mit der Frage der Sprache verknüpft, aber nicht nur mit der französischen. Die Frauen von Algier waren meine erste Antwort auf die offizielle Politik der Arabisierung, die ich verabscheue. In meinen Filmen habe ich mit den verschiedenen Versionen der arabischen Sprache in Algerien experimentiert. Ich hatte für Nouba einen arabischen und einen französischen Soundtrack. Ich lebte in der Sprache des Hinterlands, eine Erfahrung, die in krassem Gegensatz zu den gegenwärtigen Bestrebungen steht, dem Land eine Version des klassischen Arabisch aufzuzwingen, diese 'Arabisierung von oben', die für mich das linguistische Äquivalent von Krieg verkörpert. Das offizielle Arabisch ist eine autoritäre Sprache, eine Sprache der Männer. Wie Sie selbst gesagt haben, gibt es in meinem fiktiven Universum nur sehr wenige gute Männer. Die Frauen von Algier sind eine Welt ohne Männer.
Zumindest kann man sagen, dass Sie mit den Männern hart ins Gericht gehen. Nehmen Sie nur einmal den Enkel in Ihrer Lieblingsgeschichte 'Die Toten sprechen'.
Nun, ich bin an meinem richtigen Geburtstag, am 30. Juni, zurückgekommen, buchstäblich am Vorabend der Unabhängigkeit. Wie Sie sich vorstellen können, habe ich eine ganze Anzahl dieser Guerillakämpfer kennen gelernt, die sich nach ihrer glorreichen Heimkehr in Apparatschiks verwandelten.
So unsympathisch einige von ihnen auch dargestellt sind, so großzügig und oft sogar mitleidig können Sie andererseits zu Männern sein. Nehmen wir wieder 'Die Toten sprechen'.
Sie sind selbst viel zu großzügig. Mein Mitleid erschöpfte sich im Grunde darin aufzuzeigen, dass weder Männer noch Frauen imstande gewesen waren, die Nabelschnur zu durchtrennen, die sie an eine übermäßig schmerzhafte Vergangenheit kettet. Sie können es immer noch nicht. Deshalb haben meine Frauen auch keine Kinder.
Wie Sie ja wissen, wurden Sie wegen Ihrer erniedrigenden Porträts von Frauen angegriffen, die – ständig schwanger (oder über ihre Kinderlosigkeit verstört) – den fruchtbaren Leib glorifizieren, der doch gerade entscheidend zu ihrer Unterdrückung beiträgt.
Wenn ich an den weiblichen Körper denke, so sehe ich ihn nicht als gebärfähigen, sondern als erotischen Körper. Während ich Die Frauen von Algier schrieb, interessierten mich andere Themen viel mehr: beispielsweise das Problem der Sprache, der Status der Berbersprache und der Berberkultur. Mich bewegte die Frage, wie man den Zusammenhang zwischen dem geschriebenen Wort und der Stimme erforschen konnte – besonders der Frauenstimme. Das war eine außerordentlich fruchtbare Periode meines intellektuellen Lebens. Ich pendelte zwischen Paris und Algier hin und her, und dabei dachte ich ständig über die Möglichkeiten eines Dialogs zwischen einer Europäerin und einer Algerierin nach, über die Modalitäten eines solchen Dialogs. Schauen Sie sich an, was in Frauen von Algier passiert. Es ist die Algerierin, die der Französin zu Hilfe kommt, während wir zu jener Zeit tagtäglich zu hören bekamen, dass »die Feministinnen aus dem Westen«, wie sie ehrerbietig genannt wurden, uns, den moslemischen Frauen, etwas extrem Wichtiges zu geben hatten, dass sie uns etwas beibringen könnten, dass ihre fertigen Rezepte uns retten könnten.
Kontinuität oder Diskontinuität: Sehen Sie denn einen radikalen Bruch, der durch Ihren neu gefundenen Feminismus bewirkt wurde?
Kontinuität oder Diskontinuität? Zwei lange Jahre hindurch, als ich den Film drehte, hatte ich ehrfürchtig und verwundert meine eigene Region betrachtet, jene Region, die Camus in Noces (dt. Hochzeit des Lichts, 1937) beschrieben hatte. Doch während ich alles beanspruchte, einschließlich des Hinterlands, erfasste Camus nur die Küste. Ich besaß das Ganze, all die vielen Landschaften und die vielen Gesichter. Es war ein Glück sondergleichen, meinen eigenen Raum wiederzufinden. Die Kamera bewegte sich ständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her.
Doch sehe ich auch das Doppelregister in meiner Schriftstellerei, die Diskontinuität. Beispielsweise steht Sarahs westliche Stimme in Gegensatz zur Stimme der Wasserträgerin. Das hing mit einem wachsenden Gefühl der Enttäuschung über mein eigenes Land zusammen, das meinem Werk bisher unbekannt gewesen war, ein Gefühl, das von Verzweiflung nicht allzu weit entfernt war. Als 1977 ich ein Jahr lang im Hinterland arbeitete, hatte ich eine neue Schranke entdeckt. Materiell lebten die Bauern besser, als sie es unter den Kolonisatoren je getan hatten, aber ihr besseres Los ging einher mit einer allgemeinen rigorosen Rückkehr zur Praxis der Einsperrung von Frauen. Als ich Die Frauen von Algier schrieb, verstand ich plötzlich, dass ich nun festen Grund unter den Füßen hatte. Eine ganze Menge ist gesagt worden: beispielsweise, dass ich die Absicht gehabt hätte, meine früheren Romane zu widerrufen. Die Leute, die das behaupten, wissen nicht, wovon sie reden. Meine früheren Romane sind gut konstruierte, straffe Geschichten. Ich habe oft erklärt, dass ich mein reales Leben darin ausgeklammert hatte. Deshalb finden manche Leute, dass ich die ersten drei Romane ausstreichen und behaupten sollte, meine eigentliche Karriere hätte mit Alouettes begonnen. Das tue ich nicht.
Darf ich es dann wagen, die Frage nach Françoise Sagan zu stellen?
Wagen Sie das ja nicht! Es ist lange her, dass jemand mich als zweite Sagan bezeichnet hat. Wer mich liest, weiß genau, dass unsere Arbeiten gar nicht unterschiedlicher sein könnten. Wir hatten denselben Verleger, das ist alles. Ich spiele diesen eigenartigen Zufall am liebsten herunter. Die Kritik, die damals auf mich herabregnete, berührte mich kaum. Nachdem mein Mann von der Polizei gesucht wurde, lebte ich ständig in solcher Unruhe, dass ich dachte, die Revolution – Korrektur, ich verwende diesen Ausdruck nie, ich sage immer 'der algerische Krieg' –, der Krieg sei so sehr ein Teil meines Alltagslebens, dass ich außerstande wäre, ihn in Literatur zu verwandeln. Ich möchte eines klarstellen: Ich habe den Ausdruck 'Revolution' nie benutzt, nicht einmal zu jener Zeit, als er in aller Munde war, in der Öffentlichkeit ebenso wie im privaten Rahmen. Mit dieser Auslassung möchte ich sagen, dass es das ist, was ich unter Form verstehe, eine gewisse Härte und Präzision des Denkens. Das bezweckte ich mit La Soif; und in Die Schattenkönigin kam ich darauf zurück. Man könnte es eine Ethik nennen.
Wenn man einmal von Ihrer Ausbildung zur Historikerin absieht – was hat sonst noch zu Ihrer Berufung beigetragen?
Die Jahre an der höheren Schule waren für mich eine kritische Zeit, denn ich lebte sieben Jahre im Internat und durfte nur einmal in der Woche nach Hause, in das kleine Dorf, wo mein Vater unterrichtete. Unter vier- oder fünfhundert Schülerinnen gab es nur drei oder vier Algerierinnen. Meistens war ich in meinen Klassen die einzige Algerierin, weil ich den schwierigsten Lehrplan gewählt hatte (den Elite-Lehrplan, wie wir zu sagen pflegten). Ich hatte gebeten, Arabisch als Fremdsprache lernen