Dieses Buch gehört zu den richtig schönen Lesenachrichten des Sommers. Denn mit Funkloch liegt nun endlich der siebte Roman mit dem australischen Polizeiinspektor Hal Challis in der deutschen Übersetzung vor. Fünf Jahre mussten seine Fans auf das Erscheinen warten. Es ist eine der großen Polizeiroman-Reihen der Kriminalliteratur – wenn nicht die beste. Der Schriftsteller Garry Disher hat mit ihr seinen Weltrang begründet. Die Bücher sind alle in sich abgeschlossen, der neue Fall für Hal Challis eignet sich auch für Neueinsteiger. Zehn Kriminalromane von Garry Disher sind derzeit allein im Unionsverlag lieferbar – einer besser als der andere, man kann gar nicht danebengreifen. Mit über 170.000 verkauften Exemplaren ist der Australier mehr als nur ein Hausautor des Zürcher Unionsverlags. Und in gleich mehrfacher Hinsicht ist er ein Paradebeispiel für Bücherglück. Er macht nicht nur bei Kritikern Eindruck, er begeistert seine Leserinnen und Leser mit Spannung, Qualität und Tiefe. Den Titel »Krimi des Jahres« hat er bereits vier Mal in Australien und sogar fünf Mal schon in Deutschland errungen. 2001 erschien der erste Roman mit Hal Challis (Drachenmann). Seitdem hat er beinahe jedes Jahr einen neuen Kriminalroman vorgelegt, immer wieder erfolgreich auch neue Figuren und Konstellationen ausprobiert. Zuletzt waren das Stunde der Flut (2022), davor Kaltes Licht und die bisher drei Romane mit dem ins Hinterland strafversetzten Einzelgänger Hirsch, Barrier Highway, Hope Hill Drive und Bitter Wash Road. (Die Romane mit dem Verbrecher Wyatt erscheinen beim kleinen Berliner Independent Pulp Master.) Ich habe es im Buch-Magazin einmal so begründet: »Garry Dishers Kriminalromane sind geradezu unheimlich beständig stets auf Weltklasse-Niveau. Ein solcher Reichtum an immens guten Büchern und Geschichten, prall und lebensecht, ist Königsklasse.«
Nun also wieder Hal Challis. Zwei aus Sydney angereiste Auftragskiller, die einen Mann verschwinden lassen sollen (und das auch tun), werden Opfer ihrer großstädtischen Arroganz. Erst beseitigen sie einen möglichen Zeugen, dann entfacht eine trotz Warnung vor Brandgefahr weggeworfene Zigarette einen Buschbrand, dem sie selbst zum Opfer fallen. Beim Aufräumen stößt die Feuerwehr auf die Überreste einer Drogenküche. Challis beginnt zu ermitteln, immerhin gibt es drei Leichen, doch eine ehrgeizige Kollegin vom Drogendezernat in Melbourne übernimmt den Fall. Es gibt Anzeichen, dass sich das organisierte Verbrechen im Gefolge von immer mehr Crystal Meth auf der Halbinsel breitmacht. Challis und die Polizistin aus der Stadt kommen sich immer wieder in die Quere, die Spannung zwischen ihnen ist aber auch eine andere, persönlichere. Das macht jedoch nur einen kleinen Teil der Voltstärke dieses Romans aus. Challis, dessen selbstmörderische Frau ihn einst umbringen wollte, ist seit einigen Büchern mit Ellen Destry zusammen. Die ist inzwischen die neue Leiterin der Abteilung für Sexualverbrechen und einem Serieneinbrecher und Vergewaltiger auf der Spur, zudem muss sie ihre Schwester vor einem Heiratsschwindler bewahren. Das Verhältnis von Männern und Frauen wird auf vielen Ebenen thematisiert, ist handlungstreibend. Dann verschwindet ein sechsjähriges Mädchen, es gibt Diebstähle von allerlei landwirtschaftlichem Gerät, Hal Challis muss sich nach einem neuen Auto umsehen und Weihnachten steht vor der Tür, das Thema Geschenke wird unvermeidlich. Viele kleine Alltagsprobleme zwischen all den großen Fällen, wie immer bei Disher alles meisterhaft entwickelt und verknüpft – und am Ende erstaunlich effektiv und mit Bodenhaftung gelöst. Nach einem Disher-Buch, so erlebte ich es bisher jedes Mal, leide ich Tage unter einem Trennungsschmerz, ertappe mich bei Entzugserscheinungen. Garry Dishers Charaktere erscheinen real, wie wirkliche Menschen, die eine Existenz auch außerhalb der Romane haben. Man würde sie gerne treffen. Sie sind aus Fleisch und Blut, sind nuancierte Charaktere, sie leiden und lieben, hoffen und bangen, machen Fehler. Dazu ein Interview mit Garry Disher.
Deine Hal-Challis-Romane spielen auf der Mornington Peninsula, wo du auch selber wohnst. Was macht diese Halbinsel so besonders?
Ich mag den Abwechslungsreichtum der Landschaft und all die kleinen Orte. Wir haben ein Strandleben von ruhig und beschaulich bis fast mondän, mit Strandzugängen für jedermann. Wir haben Farmen im Hinterland und Weinberge teils bis fast ans Meer. Im Süden, an der Halbinselspitze, haben die reichsten Familien Australiens ihre Villen, die Peninsula ist ein Spielplatz der Reichen. Aber es gibt auch viele Viertel voll sozialer Probleme, es gibt Armut und soziale Gegensätze – all das ist ein wirklich reichhaltiges Setting für einen Autor von Kriminalromanen. Ich liebe es, die Lokalnachrichten zu lesen. All die kleinen Sachen, wenn Jugendliche nachts Mülltonnen ausleeren, die Kleindiebstähle, was immer. Das fließt in meine Romane. Ich habe immer viel Material.
In deinen Büchern gibt es immer zeitgemäße Probleme und Konflikte. Nostalgie ist nicht dein Ding, oder?
In den rund fünfundzwanzig Jahren, die ich jetzt hier lebe, hat sich viel verändert. Bis in die 1930er-Jahre war die Halbinsel nur per Schiff erreichbar, es gab keine Straße aus Melbourne. Die alten Küstenorte haben sich teils enorm vergrößert, neue Siedlungen breiten sich auf Farmland aus. Aber all die sozialen Dienste und Einrichtungen, Schulen, Krankenhäuser und Sozialhilfestationen halten damit nicht Schritt. Das verursacht soziale Spannungen und macht der Polizei Kopfschmerzen. In meinen Kriminalromanen gehe ich dem nach. Für mich handeln sie ebenso viel von einem Ort und einer Lebensweise wie es in ihnen um Verbrechen und deren Aufklärung geht.
Der Schauplatz als Charakter, ist das eine zufällige Sache oder hat es Methode?
Wo eine Geschichte spielt, das sollte in allen literarischen Formen von Wichtigkeit sein, nicht nur im Kriminalroman. Das Setting prägt die Charaktere und sie gestalten das Setting, das kann man nicht voneinander trennen. Meine Charaktere sind keine beliebigen Gestalten. Wenn ich eine Szene schreibe, kann ich sehen, wo sie spielt, und wie meine Protagonisten mit diesem Ort interagieren. Ich bin aufmerksam für all die sensorischen Informationen, und ich würde behaupten, dass ich keine Szene oder keinen Charakter zu schreiben vermag, ehe ich das nicht hören, sehen, riechen, schmecken, berühren kann.
Wie hat das eigentlich angefangen mit Hal Challis? Wie hat sich das entwickelt?
Ich hatte sechs Romane mit dem Berufsverbrecher Wyatt geschrieben, ein Buch pro Jahr, und es fing an, sich nach Routine anzufühlen. Da brauchte und wollte ich einen Wechsel. Ich las damals die Inspector-Resnick-Romane von John Harvey, die in Nottingham angesiedelt sind. Ähnlich wollte ich auch an meine Serie herangehen: eine Besetzung wie ein Ensemble, uniformierte Polizisten und Detektive in Zivil, Schwerverbrechen und kleine Vergehen, Arbeitsplatzgeschichten und private, eine Polizeistation in vollem Betrieb. Natürlich waren da auch im Hinterkopf Ed McBain und seine Romane vom 87. Polizeirevier. Mir schwebte als Setting ein Stadtteil von Melbourne vor, obwohl ich wenige Wochen, bevor ich mit dem Schreiben begann, in einen kleinen Ort auf der Mornington Peninsula gezogen war. Dort stand ich eines Tages in einem kleinen Laden und hörte zufällig drei oder vier Frauen zu, die sich gerade unterhielten. Sie sahen sich gezwungen, ihre Familienroutinen zu ändern und neu zu organisieren, es ging darum, wie ihre Töchter zum Sport oder zu ihren Ballettstunden kommen sollten. Sollte man sie weiter mit dem Bus fahren, mit dem Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen lassen – oder sie lieber überall selbst hinbringen? Der Grund der ganzen Aufregung war ein Mann, der drei junge Frauen vergewaltigt und ermordet hatte und noch nicht gefasst worden war. Was ich hier erlebte, war eine kleine Stadt in Angst, ein kleiner Ort. Und es bestärkte mich, meine Polizeiromane lieber auf der Peninsula anzusiedeln als einfach in einer Großstadt.
Wie ist dein Verhältnis zu Hal Challis?
(Mit Understatement): Zu Challis muss ich ehrlich sagen, ohne ihm nahezutreten, dass er mich nie so interessiert hat, wie die weiblichen Figuren oder auch die Bösewichte. Er ist dezent, geduldig, klug, aber auch ein wenig farblos. Er macht seine Arbeit gut, aber er lässt auch anderen ihren Raum. Seine Kolleginnen Ellen Destry und Pam Murphy haben sich deshalb, je mehr die Reihe sich weiter geschrieben hat, mehr Platz erstritten und sie haben sich entwickelt. Ich habe Polizisten und Polizistinnen in meiner näheren Verwandtschaft, mir geht es um ein realistisches Bild der Polizeikultur. Die Gesellschaft erwartet, dass Polizisten sauber und über jeden Vorwurf erhaben bleiben. Aber Challis ist klar, dass auch sie Fehler machen wie wir alle, Druck ausgesetzt sind und Versuchungen. Er verzeiht vielleicht nicht, aber er versteht.
Ich muss es fragen: Werden wir Hal Challis wiedersehen?
Funkloch wird vermutlich nicht der letzte Roman der Reihe sein. Ich habe Ideen für weitere Bücher, Leser fragen mich oft danach. Das war auch bei meiner Lesereise durch Deutschland im letzten Herbst so. Die eine Geschichte, die ich mit im Kopf habe, wird ihn sehr in den Mittelpunkt stellen – ich weiß nur noch nicht, wann ich es schreiben werde. Denn zurzeit konzentriere ich mich auf Hirsch, und dazwischen wird es »Stand-Alone«-Romane geben.
Sind Kriminalromane die Literatur unserer Zeit?
Das glaube ich in der Tat. Kriminalromane packen aktuelle Themen an wie häusliche Gewalt, Rassismus, Ungerechtigkeit, Schwulenfeindlichkeit, sie erforschen auch, was Korruption und Verbrechen in unserer Gesellschaft anrichten – die so genannte höhere Literatur lässt uns in dieser Hinsicht eher im Stich–, und sie erzählen gute Geschichten. Kriminalromane mögen eskapistisch sein, manche von ihnen sind Schund, aber die guten fordern uns intellektuell ebenso sehr wie sie uns unterhalten. Sie sind Literatur im besten Sinn.
Die Fragen stellte Alf Mayer.