Familie Stevens bricht im September in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zum alljährlichen, langersehnten Sommerurlaub nach Bognor auf, an die englische Südküste. Mr Stevens plant den Aufenthalt in der Pension »Seaview«, wie immer akribisch. Überaus rücksichtvoll, aber auch schwer erträglich. Er bedenkt jedes einzelne Bedürfnis der Familie: seine Frau, die Kinder Mary und Dick, um die zwanzig, die schon ihr eigenes Geld verdienen, sowie der zehnjährige Nachzügler Ernie. So beginnt Robert Cedric Sherriff die Zwei Wochen am Meer. Karl-Heinz Ott, Sie haben den Roman übersetzt. Wie ging es Ihnen, als Sie den Roman zu lesen begannen?
Zunächst würde ich sagen, dass Mr Stevens nicht schwer erträglich ist, auch wenn er zur Pedanterie neigt, jedenfalls in organisatorischen Belangen. Seine beiden älteren Kinder haben inzwischen ein Alter erreicht, in dem man sich abnabeln und das Leben selbst in die Hand nehmen will. Mr Stevens würde dagegen gern weiterhin die väterliche Glucke spielen. Er will, dass alle sich wohlfühlen und glücklich sind, vor allem in den Ferien. Denn in den Ferien, so heißt es in diesem Roman einmal, »wird der Mensch zu dem, der er hätte sein können, wären die Dinge ein wenig anders gekommen.« Wie wenig das Glück sich jedoch planen lässt, wissen wir alle – am allerwenigsten, wenn man die diversen Bedürfnisse einer fünfköpfigen Familie unter einen Hut zu bringen versucht. Als ich diesen Roman zu lesen anfing, war mir bereits nach der ersten Seite klar, dass ich ihn gern übersetzen würde. Er handelt von alltäglichen Dingen, lebt jedoch von eindrücklichen Bildern, Beobachtungen und Schilderungen. Es umweht ihn ein Hauch von Poesie – im Kleinen, Beiläufigen, scheinbar Nebensächlichen. Kein Geringerer als der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat während der Corona-Zeit auf diesen Roman aufmerksam gemacht und ihn zur Wiederentdeckung verholfen. In seinen Augen handelt es sich um eines der feinfühligsten Werke der Weltliteratur.
Wer war R. C. – Robert Cedric – Sherriff, Herr Ott?
R. C. Sherriff, wie er sich selbst nennt, wurde Ende der 1920er-Jahre über Nacht berühmt mit seinem Theaterstück Journey’s End, das es nach der Londoner Uraufführung sogleich an den Broadway geschafft hat. Es geht um fünf Offiziere, die während ihrer Mahlzeiten im Bunker eines Schützengrabens Zuflucht im Alkohol suchen oder an Flucht denken oder sich als Helden bewähren wollen. Das Stück wird bis heute aufgeführt und wurde mehrfach verfilmt. Die jüngste Verfilmung kam 2017 in die Kinos. Den größten Teil seines Lebens hat Sherriff als Drehbuchautor in Hollywood gearbeitet und auch immer wieder Stücke geschrieben und Romane veröffentlicht. Ihn selbst hat es nie an die Rampe gedrängt, Glanz und Glamour lagen ihm fern. Auch in seinem Roman Zwei Wochen am Meer stehen fünf Personen im Mittelpunkt, nur dass dabei schönster Frieden herrscht. Sherriff versteht es meisterhaft, eine kleine, überschaubare Anzahl von Figuren in Situationen zu versetzen, die etwas Unentrinnbares besitzen. Äußerlich geschieht dabei nicht viel, innerlich jedoch trägt jeder sein Päckchen mit sich herum.
Dass der Verlag Sie als Übersetzer für den Roman Zwei Wochen am Meer auswählte, lag vielleicht nicht nur daran, dass Sie als literarischer Übersetzer bekannt sind, sondern auch an Ihrem letzten Roman: Und jeden Morgen das Meer (2018). Sie sind ja selbst erfolgreicher Schriftsteller, schreiben Belletristik, Sachbücher, Theaterstücke, Essays.
Mich hat Patricia Reimann gefragt, die lange bei dtv war und dort für den deutschsprachigen Raum John Williams Stoner entdeckt hat. Dass sie mir diesen Roman anvertraut hat, hat mich ungemein gefreut.
Wie geht das Übersetzen vor sich? Denken Sie, das hätte ich anders formuliert; bewundern Sie Passagen, Sätze?
Im Englischen könnte ich ohnehin nichts besser machen. Es bereitet Mühe genug, das Original in der Übersetzung auf bestmögliche Art zum Klingen zu bringen. Mir kam es vor allem darauf an, Sherriffs Sätze in ein melodisches Deutsch zu überführen. Wie er beispielsweise Landschaften und Wetterstimmungen schildert, die ja auch immer etwas vom Innenleben der Figuren spiegeln, finde ich großartig.
Gab es bestimmte Stellen, die besonders schwierig waren?
Es gibt gelegentlich Sätze, an denen man sich die Zähne ausbeißen kann, obwohl sie vom Wortschatz her nicht wirklich schwierig sind. Zuweilen reichert Sherriff sie mit Details an, bei denen einem zwar Bilder vor Augen treten, doch es hakt ab dem Moment, wo man sie im Deutschen zu präzisieren versucht.
R. C. Sherriff können wir nicht mehr fragen – er starb 1975 –, aber Sie, den Übersetzer können wir fragen. Ist die Übersetzung Ihre Interpretation? Die Übersetzung eines Romans: der Roman des Autors und des Übersetzers?
Es gibt ja das berühmte italienische Wortspiel, wonach der Traduttore ein Traditore ist – der Übersetzer ein Verräter. Da korrekte Übersetzungen sich in der Zielsprache häufig hölzern oder klapperig anhören, muss man Vieles variieren, ändern, neu ausrichten. Dabei prägt mein eigener Ton – worin immer er bestehen mag – ganz bestimmt die Übersetzung. Allerdings bin ich in Sherriffs Fortnight sofort auf einen Ton gestoßen, der mich beflügelt hat.
Die Familie Stevens gehört dem unteren Rand der Mittelschicht an. Sie ist nicht arm, muss jedoch genau rechnen, was sie sich im Urlaub leisten kann.
Die Stevensens leben in einem ländlichen Londoner Vorort. Der Vater hat es vom Lagerarbeiter zum Büroangestellten gebracht und war lange Zeit Schriftführer des Fußballvereins. Ein wirklicher Aufstieg blieb ihm jedoch verwehrt, trotz Fleiß und Durchhaltevermögen. Seit er in der Firma und beim Fußballverein erleben musste, wie schnell man abserviert werden kann, besteht sein ganzes Begehr darin, dass es der Familie gut gehen möge und dass die Kinder einen ordentlichen Schulabschluss in der Tasche haben. Die Familie soll allen als Schutzraum dienen. Dass die beiden älteren Kinder inzwischen vorsichtig eigene Bedürfnisse anmelden, muss unweigerlich zu Konflikten führen. Allerdings sind Konflikte in dieser Familie nicht vorgesehen, solange es sich nicht um Kleinigkeiten handelt. Nachdem das Leben draußen schon hart genug ist, soll wenigstens daheim alles gut sein. Trotzdem regen sich in jedem von ihnen eigene Bedürfnisse.
Zwei Wochen am Meer übt auch Gesellschaftskritik. Ich denke an die Szene, als Mr Stevens einen wichtigen Geschäftspartner der Firma, in der er arbeitet, am Strand trifft und der ihn samt Familie über alle gesellschaftlichen Schranken hinweg zum Tee in sein monströses Ferienhaus einlädt. Niemand der Stevensens hat Lust auf den Besuch. Eine halbe Stunde bleiben sie, dann fliehen sie die Atmosphäre. Eine Szene, bei der es mir kalt über den Rücken lief.
Diese Szene ist theaterreif. Bei allen sozialen Gegensätzen, die dabei zum Ausdruck kommen, besitzt sie einen unglaublichen Witz. Sherriff ist ein Dramatiker durch und durch. Das Gute an seiner Art von Dramatik besteht darin, dass er nicht sozialkritisch auf die Tube drückt, sondern Komik walten lässt. Das macht die Dinge keineswegs weniger hart, es spitzt sie auf groteske Weise zu. Gleichzeitig zeigt es, wie schlecht diese Familie mit Dingen umgehen kann, die unverhofft über sie hereinbrechen und den Urlaubsfrieden stören.
Der Vater, Mr Stevens, arbeitete sich vom Handlanger in einer Kartonagenfabrik bis zum Büroangestellten hoch. Er ließ seinen Sohn Dick auf ein neues College gehen, weniger teuer als die altehrwürdigen, und besorgte ihm eine anständige Stelle. Als Dick erkennt, dass weder das College so gut ist, wie seine Lehrer behaupteten und auch seine Arbeitsstelle eher schäbig ist, gerät Dick ins Grübeln. Sein Vater bemerkt, dass es Dick nicht gut geht – aber er drängt ihn nicht. Mr Stevens weiß, sein Sohn findet selbst aus seinem Tief. Das ist eine sehr berührende Szene, finde ich.
Ja, an diesem Roman erstaunt tatsächlich, wie sehr wir uns in alle seine Figuren einfühlen können – auch in Ängste und Sehnsüchte, die man oft vorschnell als kleinbürgerlich abtut. Doch so einfach ist es nicht. Auch wenn heute die Umgangsformen lockerer sind, tragen wir Gedanken und Gefühle mit uns herum, die wir für uns behalten, aus Scham oder aus Rücksicht. In uns drinnen spielen sich immer viel mehr Dinge ab, als wir nach außen zeigen. Davon weiß dieser Roman. Das Leichte und das Schwere, existenzieller Ernst und leise Ironie spielen bei Sherriff unmerklich ineinander. Er führt vor, wie auch dort überall Krisen im Anmarsch sein können, wo von Krisen scheinbar keine Rede ist.
Und wie Sherriff das Älterwerden einer Ehe ohne Denunziation erzählt, sucht schon ihresgleichen: Mr und Mrs Stevens sitzen sich auf der Hinfahrt eine Zeit lang gegenüber und Mrs Stevens würde es nicht wundern, wenn sie und ihr Mann sich wie Fremde grüßen würden …
Genau das ist es: nie wird jemand denunziert! Und deshalb gehen wir als Leser auch nicht auf Distanz zu diesen Figuren. Wir fühlen uns nie über sie erhaben, auch nicht in Situationen, da man ihnen ein größeres Selbstbewusstsein und mehr Konfliktbereitschaft wünschen würde. Sie sind nicht gewohnt aufzutrumpfen oder jemandem unmissverständlich die eigene Meinung zu sagen. Trotzdem – oder gerade deshalb – rumort es oft in ihnen. Aber sie besitzen durchaus ihren Stolz. Wir erleben an ihnen, was wir von uns selbst kennen. Wie etwa in der von Ihnen erwähnten Szene, wo sich auf der Zugfahrt ans Meer Mr und Mrs Stevens gegenübersitzen, der eine lesend, die andere dösend. Mal schaut sie ihren Mann, mal schaut ihr Mann sie eine Weile an, ohne dass der andere es merkt. Beide wundern sich, wie lange sie schon mit diesem anderen Wesen zusammen sind – und wie nah und fremd es einem zugleich vorkommen kann. In solchen Momenten fühlen sie sich wie losgelöst und wie in eine Welt versetzt, in der alles auch ganz anders sein könnte. Sie werden sich bewusst, wie alles aus Zufällen besteht. Und wie diese Zufälle ein ganzes Leben prägen.
In Zwei Wochen am Meer geht eine Epoche zu Ende. Was Sherriff anhand des Niedergangs der Pension »Seaview« und des Erwachsenwerdens der beiden großen Stevens-Kinder beschreibt. Oder wenn Dick auf der Eisenbahnfahrt nach Bognor, als der Zug ein weites Stück Ackerland passiert, voraussagt, dort würden bald Häuser stehen …
Es geht etwas zu Ende, was man die ganzen gemeinsamen Jahre über als absolut verbindlich erlebt hat. Die einen wollen darüber nicht reden aus Angst, sie würden damit dieses Ende beschleunigen. Die andern wagen nicht darüber zu reden, aus Angst, den andern damit weh zu tun. Dennoch ahnt jeder, dass es die letzten gemeinsamen Ferien sind. Der Zwiespalt zwischen Abhängigkeit, Anhänglichkeit und Ablösungsdrang lässt sich immer weniger kaschieren – allerdings wagt niemand, die Karten offen auf den Tisch zu legen.
Sicherlich ist Zwei Wochen am Meer ein Sommerroman. Aber ich finde, er erzählt mehr. Es ist ein Roman über Familie. Ein Roman für die ganze Familie – ganz gleich in welchem Jahrhundert. Der Gewinn ist das Verständnis eines jeden Familienmitglieds für das andere. Familie kennt die überwiegende Menschheit. Womöglich wird die Spannung für heutige Leserinnen und Leser noch erhöht, weil die damalige Zeit mit der heutigen zusammengelesen wird. Zwei Wochen am Meer ist ein wichtiger Familienroman für und über Generationen hinweg. Ein Geschenk an Generationen.
Weil Verlage mit Schlagworten trommeln müssen, wird dieses Werk als Sommerroman angepriesen. Dabei handelt es sich schlichtweg um große Literatur. In Wirklichkeit spielen weder der Sommer eine substanzielle Rolle noch das Meer – sie dienen lediglich als äußerlicher Rahmen für eine Konfliktentfaltung, bei der es um grundsätzliche Dinge des Lebens geht. Große Literatur lässt sich nicht in Sommer- und Winter- und sonstige Schubladen pressen, vielmehr lebt sie von einer Beobachtungs- und Beschreibungskraft, die uns in ihren Bann zu ziehen vermag. Sherriffs Roman zeichnet sich durch eine Sprachmusik aus, in der das Schöne und Schwierige unentwegt ineinander gleiten. Das ist das Entscheidende.
Zwei Wochen am Meer, 1931 erschienen, ist auch ein Roman, der Toleranz feiert. Mir gefällt auch der Romanschluss, das Verhalten der Figuren nötigt mir Respekt ab. Und nebenbei bestätigt sich, dass große Literatur nicht alt wird.
Ja, dieser Schluss lässt alles, was wir an inneren Zerreißproben erleben, nochmals zusammenklingen, auf eine so muntere wie melancholische Weise. Wir haben mit dieser Familie vierzehn Tage Ferien erlebt, von morgens bis nachts. Wir wissen, dass etwas am Zerbrechen ist, ohne dass daran jemand Schuld trüge. Dieser Roman lebt von Bildern, die am Alltäglichen das Besondere, Intensive, Bemerkenswerte aufblitzen lassen.
Das Gespräch führte Gerwig Epkes.